Samstag, 28. Januar 2017

Ein auf Kennzahlen basierender Vergleich von Strukturen zeigt Diskrepanzen auf

Mit den Änderungen, die durch das Bundesteilhabegesetz nunmehr eingeführt worden sind, könnte es auch in anderen Bundesländern zu Änderungen in den jeweiligen Kalkulationsverfahren kommen. Ob man sich dabei das Hamburger Modell für den Bereich des Vollstationären Wohnens antun will, wird man sehen. Jedenfalls gab es in den Jahren vor der Umstellung in Hamburg die Erkenntnis, dass die Vergütungsstrukturen, insbesondere die Anteile an Maßnahme- und Grundpauschalen, bei den einzelnen Trägern von vollstationären Wohneinrichtungen in Hamburg nicht nachvollziehbar erschienen. Eine großangelegte Trägerbefragung bewies dann auch, dass Vergütungssätze und Belegungsstrukturen nicht miteinander korrelierten. Es zeigten sich erhebliche Abweichungen, die man schließlich abzuschaffen versuchte.

Es nahmen 22 Träger mit 25 Einrichtungen teil. Diese mussten im Fragebogen Angaben machen zur durchschnittlichen Belegung (Ist-Belegung 2011), dem Stellenschlüssel und den Personalkosten für die Betreuung von den in den Einrichtungen lebenden Menschen. Außerdem wollte dann noch die Hamburger Sozialbehörde wissen, wie hoch die Sachkosten sowie der Lebensmittelaufwand pro Platz ausfielen. Und schließlich wurde die Vergütung je Hilfebedarfsgruppe (als Tagessatz) für die Auswertung herangezogen.

Die Auswertung wurde weitestgehend anonymisiert. Eine Ableitung auf bestimmte einzelne Träger musste vermieden werden, damit ein Konkurrenzvergleich misslang.

Die Daten wurden dann bei einigen Trägern noch einmal geprüft (oder lediglich hinterfragt), um sicherzustellen, dass man keine Fehler übernommen hatte. Ganz ausschließen konnte man dies allerdings nicht. Und zudem weigerten sich manche oder konnten einfach gar nicht, ihre wirklichen Belegungs- und Kostendaten mitteilen. So bleibt bis heute ungeklärt, ob nun testierte und korrekt zugeordnete / wirklich vergleichbare Kostendaten bekannt gegeben wurden oder lediglich Plandaten und Platzkapazitäten zur Anwendung kamen.

Ergebnisse:

Statt die Belegungsstruktur und somit einen Hinweis auf die Größenverhältnisse zu bieten, wurde die durchschnittlich vorhandene Hilfeempfängergruppe / Bedarfsgruppe (HEG/HBG) veröffentlicht. Der niedrigste Wert bei fünf Bedarfsgruppen lag bei 2,81 und der höchste bei 4,11 – dabei gilt: Je höher die Bedarfsgruppe, umso höher der Bedarf an Assistenzleistungen bei Leistungsberechtigten. Problematisch an diesen Werten ist allerdings, dass eine hohe Zahl an Fehlzuordnungen vermutet werden kann. Zum einen liegt dies daran, dass bei sehr vielen Leistungsberechtigten die erste Zuordnung, also die, welche bei der Umstellung auf differenzierte Bedarfsgruppen im Jahr 2003 von einzelnen Trägern (eher unkritisch) übernommen wurden, lediglich fortgeschrieben wurde. Zum anderen erfolgte die Zuordnung auf der Grundlage eines „angepassten“ Metzler-Systems. Außerdem konnte es passieren, dass bei der Meldung der Strukturdaten Selbstzahler und Fremdzahler enthalten waren, dabei sollte es doch nur um die Bewohner gehen, bei denen die Hamburger Sozialbehörde Kostenträger war. Im Mittel wurde somit eine durchschnittliche Bedarfsgruppe von 3,40 wiedergegeben.

Abgefragt wurde das vorhandene Betreuungspersonal, um auf einen Stellenschlüssel (bezogen auf die Belegung) zu kommen. Es ist durchaus möglich, dass einzelne Träger nicht eine Stichtagszahl genannt hatten, sondern eine zeitraumbezogene Stellenbesetzung. Ebenso denkbar ist es, dass auch solche Stellen, die sich gerade im Besetzungsverfahren befanden, hinzugerechnet wurden. Der niedrigste Stellenschlüssel lag bei 1,33 Bewohnern zu 1 Stelle Betreuungspersonal, der höchste Wert lag bei 2,64. Man könnte jetzt annehmen, dass die Einrichtung mit dem niedrigsten Stellenschlüssel auch die höchste durchschnittliche Bedarfsgruppe aufwies, dies war aber nicht der Fall. Vielmehr wies diese Einrichtung sogar die höchsten Vergütungssätze aus. Mit einem Bandbreiten-Faktor von knapp 2,0 (das Maximum ist das Doppelte vom Minimum) war diese Kennzahl zwar sehr hoch, doch gerade weil eine Verknüpfung mit der Belegungsstruktur möglich war, beinhaltet sie eine hohe Aussagekraft.

Die durchschnittlichen Personalkosten inkl. Personalnebenkosten je Stelle Betreuungspersonal rangierten von 39,5 Tsd. Euro bis 53,9 Tsd. Euro. Der Mittelwert lag bei knapp 47,0 Tsd. Euro. Auch wenn die Möglichkeit von Fehlern eher gering erscheint, eine Vergleichbarkeit konnte nicht gegeben sein, weil in manchen Einrichtungen ständige Nachtwachen und in anderen Nachtbereitschaften tätig waren; in großen Einrichtungen wäre damit der daraus entstehende Personalkostenaufwand relativ gering, in kleinen Einrichtungen mit wenigen Bewohnern dagegen hoch.

Bei der Betrachtung der Durchschnitts-Personalkosten je Betreuungsplatz wurde dagegen die Belegungsstruktur außer Acht gelassen. Die Kosten je Platz rangierten von 22,6 Tsd. Euro bis hinauf auf 33,3 Tsd. Euro; der erzielte Mittelwert lag bei 27,1 Tsd. Euro pro Jahr. Die dabei erzielte Bandbreite war allerdings mit einem Faktor von 1,5 etwa gleich mit der aus der Betrachtung der Personalkosten je Stelle.

Dagegen gab es bei den Personalkosten für Leitung, Verwaltung und sonstigen (technischen, hauswirtschaftlichen, usw.) Diensten je Platz eine Bandbreite zwischen Minimum und Maximum, die bei einem Faktor von 1,9 lag. Der niedrigste Wert wurde mit 5,4 Tsd. Euro ermittelt, der höchste Wert ergab 10,6 Tsd. Euro und der Mittelwert befand sich bei 7,5 Tsd. Euro. Dies legt die Vermutung nahe, dass in manchen Einrichtungen ein relativ höherer Anteil für Nicht-Betreuungspersonal vorherrscht (z.B. Hauswirtschaftskräfte). Nimmt man an, dass die Leistungen der Einrichtungen sehr ähnlich sind, sollte eine Differenzierung zwischen Betreuungs- und Nicht-Betreuungspersonal unterbleiben. Denkbar wäre, dass z.B. technische und hauswirtschaftliche Kräfte bei der Betreuung aktiv mitwirken.

Statt Gesamtpersonalkosten und Gesamtstellen in Relation zu setzen, wurden Gesamtpersonalkosten je Platz bestimmt. Die geringe Bandbreite von 1,3 lässt vermuten, dass zwischen den Einrichtungen und ihren Belegungsstrukturen kaum Unterschiede sind, doch dann müssten die Bandbreite-Faktoren für die durchschnittlichen Bedarfsgruppen und die jeweiligen Stellenschlüssel sehr ähnlich sein. Die Gesamtpersonalkosten je Platz betrugen 29,4 bis 39,7 Tsd. Euro, der Mittelwert ergab 34,8 Tsd. Euro.

Während die Personalkosten durch den Hilfebedarf normalerweise „getrieben“ werden bzw. als Maßnahme-Leistung in Abhängigkeit dazu stehen sollten, kann man annehmen, dass Sachkosten tatsächlich je Platz anfallen; immerhin werden sie in der Regel als Teil der Grundpauschale angesehen. Die Sachkosten je Platz ohne Lebensmittelaufwand lagen im niedrigsten Fall bei 2,6 Tsd. Euro jährlich, im höchsten Fall bei 6,4 Tsd. Euro. Der Mittelwert ergab 4,4 Tsd. Euro. Die Bandbreite fiel mit einem Faktor von 2,4 sehr hoch aus. Von daher muss vermutet werden, dass einige Kosten nicht berücksichtigt oder fehlerhaft zugeordnet wurden. Bei einer so hohen Abweichung fehlt es an Aussagekraft.

Bei den Lebensmittelaufwendungen sollte die durchschnittliche Bedarfsgruppe wie auch das Vorhandensein von hauswirtschaftlichen Kräften berücksichtigt werden. In einer anderen Untersuchung konnte nämlich festgestellt werden, dass der Lebensmittelaufwand pro Platz immer dort niedrig ausfiel, wo Hauswirtschaftskräfte oder eine zentrale Küche die Versorgung sicherstellten. Je niedriger die Bedarfsgruppe, umso höher können die Lebensmittelaufwendungen dagegen ausfallen, weil die Bewohner sich tageweise mittels Budget selbst versorgen. Die Bandbreite lag zwischen 1,1 Tsd. Euro und 2,4 Tsd. Euro bei einem Mittelwert von 1,9 Tsd. Euro jährlich. Der Bandbreiten-Faktor ergab somit recht hohe 2,1.

Die Gesamtkosten je Platz, allerdings wieder ohne den Lebensmittelaufwand, rangierten zwischen 33,7 Tsd. Euro und 46,1 Tsd. Euro, der Mittelwert wurde bei 39,2 Tsd. Euro festgestellt. Weil aber einige Träger keine Lebensmittelaufwendungen mitgeteilt hatten, ist es möglich, dass es sich wirklich um Platz-Gesamtkosten handelte.

Zum Schluss wurde eine Durchschnittsvergütung als Tagessatz je Träger ermittelt, gewichtet aber nach der gemeldeten Ist-Belegung. Der niedrigste Tagessatz (inkl. Lebensmittel-Anteil) betrug 82,66 Euro täglich, der höchste Wert lag bei 145,71 Euro. Im Mittel ergaben sich 110,32 Euro, so dass sich eine Bandbreite von 1,8 errechnen ließ. Würde man nur die vereinbarten Vergütungssätze (Grund- und Maßnahmepauschalen) vergleichen, würden sich weitaus höhere Bandbreiten besonders in den niedrigsten Bedarfsgruppen ergeben. In der Bedarfsgruppe 1 zeigte sich eine Bandbreite von 34,25 bis 83,16 Euro, in der Bedarfsgruppe 5 waren es 121,34 bis 174,79 Euro. Dieser Vergleich offenbarte eine erhebliche Diskrepanz bei einigen Trägern, da schon die Vergütung in der niedrigsten Bedarfsgruppe bedeutend hoch ausfällt.

Fazit:

Im Laufe der Jahre hatte sich eine Vergütungsstruktur etabliert, die nicht mehr nachvollziehbar und keinesfalls plausibel erschien. Weil man davon ausging, dass die Leistung an sich bei jedem Träger „gleich“ ist, wollte man ein Vergütungssystem nach dem Motto „Gleiche Arbeit, Gleiches Geld“ sehen. Ein weiterer Gedanke war der, dass mit einer Pauschalierung die Leistungserbringer zu einer erhöhten Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bringt. Vergütungsverhandlungen würden zukünftig auf der Ebene von Verbänden geführt werden, statt sich mit einzelnen Leistungserbringern bis hin zur Schiedsstelle über die Angemessenheit der Vergütungssätze zeitraubend zu streiten. Damit hätte man „Leistungspauschalen“ eingeführt.

In der Folge wurde an einem neuen zeitbasierten / stundenbasierten Kalkulationsverfahren gearbeitet und schließlich in 2015 eingeführt. Und es ist genau seine Struktur, die einen heute annehmen lässt, dass es sich um das Kalkulationsverfahren nach BTHG handelt.

CGS




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Samstag, 21. Januar 2017

In anderer Sache - Schwerbehindert und im Bewerbungsgespräch - Darf man lügen?

Ist man als anerkannt Schwerbehinderter nicht im Nachteil, wenn man sich auf eine offene Stelle bewirbt und dann nach der Schwerbehinderung gefragt wird?

Mit dieser Frage belasten sich insbesondere Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen, die sich für durchaus leistungsfähig halten, wie auch Eltern von Kindern (die ja schließlich eine Zukunft haben sollen) mit ebenfalls nicht-sichtbaren Behinderungen. Es scheint so zu sein, dass das, was „nicht sichtbar“ ist, übersehen werden kann sowohl von Außenstehenden als auch „vergessen“ wird von denjenigen, die damit leben müssen. Erst der Schwerbehinderten-Ausweis macht die Behinderung aktenkundig und damit „sichtbar“.

Ansonsten könnte man denken: Kein Ausweis, keine Behinderung – oder? Und auch wenn es gewisse Vorteile geben mag für diejenigen mit Ausweis, wäre dann nicht doch vielleicht die „Zukunft verbaut“, weil man als Behinderter „abgestempelt“ ist?

Alle diese Fragen zeigen, dass die Gesellschaft noch weit davon entfernt ist, tolerant mit offensichtlichen oder auch schwer wahrnehmbaren Einschränkungen bei Mitmenschen umzugehen. Man hat Diskriminierungen schließlich irgendwann erlebt und möchte vor allem die eigenen Kinder davor schützen. Studien zeigen, dass schwerbehinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind, sich ihre Einstellungschancen nicht wesentlich verbessert haben oder sogar ein „Viertel der Unternehmen“ keinen einzigen Behinderten beschäftigt (siehe z.B. diverse Pressemitteilungen des DGB). Wahrscheinlich sieht man in schwerbehinderten Arbeitnehmer ein unkalkulierbares Kostenrisiko, weil sie doch „unkündbar“ sind und „ständig ausfallen“ könnten.

Wie soll man als Behinderter überhaupt damit umgehen, wenn im Bewerbungsgespräch der Personalchef fragt, ob man „aus arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen Ansprüche oder Rechte geltend machen könnte oder einen entsprechenden Antrag gestellt hat“? Würde man diese Frage als Schwerbehinderter verneinen, könnte sich ein Arbeitgeber getäuscht fühlen. Ohnehin wäre das Vertrauen verspielt, wenn ein schwerbehinderter Arbeitnehmer dann nach der Einstellung sein Recht auf Zusatzurlaub geltend macht. Da auf dem Schwerbehindertenausweis zudem das Datum der Ausstellung steht, könnte der Chef erkennen, ob ein entsprechender Antrag vor oder nach dem Bewerbungsgespräch gestellt wurde. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass schon das Bundesarbeitsgericht bereits mehrere Entscheidungen in dieser Frage getroffen hatte. Die wahrheitswidrige Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein einer Schwerbehinderung könnte nämlich zur Anfechtung des Arbeitsverhältnisses und zur fristlosen Kündigung führen (siehe hierzu die weiter unten benannten BAG-Urteile, allerdings aus früheren Jahren).

Sieht man sich also mit der Frage konfrontiert, was tun? Es kann tatsächlich sein, dass bestimmte gesundheitliche Risiken mit der Stelle verbunden sind oder Besonderheiten in der Behinderung eine Ausübung unmöglich machen (z.B. Schwindel, Höhenangst). Ein Arbeitgeber muss somit nach einer „Behinderung“ fragen dürfen und muss damit nach der Geeignetheit des Stellenbewerbers forschen.  In seiner Begründung zum Urteil vom 19.10.2006 schrieb das LAG Hamm, dass ein Arbeitgeber sehr wohl danach fragen darf, ob ein „Stellenbewerber an gesundheitlichen, seelischen oder ähnlichen Beeinträchtigungen leidet, durch die er zur Verrichtung der beabsichtigten vertraglichen Tätigkeit ungeeignet ist“.

Genau hier zeigt sich aber auch, dass man als Stellenbewerber durchaus den Sinn einer solchen Frage kritisch hinterfragen darf. Wenn es um die persönliche Geeignetheit bezüglich der Besonderheiten der Stelle geht, darf nicht mit „trügerischer Absicht“ und „wahrheitswidrig“ geantwortet werden. Doch wenn ein Grund nicht erkennbar ist, kann eine Beantwortung unterbleiben – eine solche Frage müsste beispielsweise so eingeordnet werden, wie die Frage nach „Schwangerschaftsabsichten“ bei Stellenbewerberinnen (vgl. u.a. BAG-Urteil Az. 2 AZR 621/01 vom 6.2.2003, LAG Köln Urteil Az. 6 Sa 641/12 vom 11.10.2012, EuGH NZA 2000, 255 u.a.).

In einem Teil-Urteil vom 24.3.2010 hat z.B. das Hessische LAG die tätigkeitsneutrale Frage nach anerkannter Schwerbehinderung oder Gleichstellung selbst im Anstellungsgespräch als unzulässig gewertet. Und darüber hinaus gibt es bei einer unwahren Beantwortung dieser Frage für den Arbeitgeber keinen Grund zur Anfechtung  oder Kündigung des Arbeitsvertrages. Kurz gesagt darf man aus Sicht des Gerichtes auf eine unzulässige Frage falsch antworten. Und damit zeigt sich, dass sich die jüngste Rechtsprechung in dieser Frage weiterentwickelt hat.

Arbeitgeber sind nach dem Gesetz (vgl. § 81 Abs. 1 SGB IX) verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Arbeitnehmern besetzt werden können. Dies wird in der Regel wahrscheinlich nicht so häufig passieren oder es ist nachvollziehbar und erkennbar, dass eine Besetzung mit bestimmten Einschränkungen nicht möglich ist (z.B. die Arbeit in großer Höhe, Windkraftanlagen; ansonsten vgl. § 4 ff. AGG). Ansonsten müsste genauestens beschrieben und damit auch dokumentiert werden seitens des Arbeitgebers, was vom zukünftigen Arbeitnehmer erwartet wird – natürlich könnte dies die sogenannte „eierlegende Wollmilchsau“ sein, doch wer mit solchen Stellenangeboten nach Arbeitskräften sucht, würde keine finden. Von daher wird es in der Praxis nur Stellenanzeigen mit geringeren / normalisierten Anforderungen geben, um überhaupt eine Bewerberauswahl zu haben. Doch weil die Stellenanzeige nur die wesentlichsten Anforderungen benennt, wäre jetzt die Frage, ob vom Stellenbewerber aktiv nachgefragt werden sollte, welche weiteren Anforderungen erfüllt sein müssen. Und dies könnte für viele Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen tatsächlich ein Problem darstellen – der selbstbewusste Umgang mit der eigenen Behinderung.

Fragt der Stellenbewerber nach weiteren Anforderungen, eröffnet sich zwar das Risiko der Rückfrage nach einer möglichen Schwerbehinderung, doch man zeigt als Stellenbewerber ein hohes Interesse an der zu vergebenden Stelle. Man kann jetzt mehr über das Unternehmen erfahren, den zukünftigen Arbeitsplatz, den Chef und die Kollegen. Man lernt, worauf es ankommt und welche Möglichkeiten für Karriere und Aufstieg es gibt. Gute Fragen wären: Wie werden Talente und Stärken im Unternehmen oder in der Abteilung gefördert, mit welchen Herausforderungen kann gerechnet werden und wie wird Erfolg im Unternehmen bewertet. Mit einer solchen Rückfrage-Technik beweist man als Stellenbewerber zudem, dass man andere Alternativen hat / haben könnte. Letztendlich gilt auch in solchen Situationen, dass „wer fragt, der führt“.

Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre zeigen, dass die allgemeine Erkundigung nach einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichstellung als unzulässig gewertet werden muss und damit die spätere Anfechtungsklage des Arbeitgebers sich verbietet. Viele Fachleute verneinen sogar das Fragerecht des Arbeitgebers und betonen, dass bei einer offensichtlichen, grundlosen Frage ruhig „gelogen“ werden darf, da sonst die „Benachteiligung bei der Einstellungsentscheidung nicht wieder gut zu machen ist“ (vgl. auch „Leitfaden – Sozialhilfe für Menschen mit Behinderungen und bei Pflegebedürftigkeit von A-Z“, AG TuWas, Stand 1.11.2011, S. 130 f.).

Handelt es sich also wirklich um einen Diskriminierungsversuch, sollte ein schwerbehinderter Bewerber nach erfolgter Ablehnung seinen Anspruch auf Schadensersatz prüfen lassen. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG).

Ein Arbeitgeber, der schon beim Bewerbungsgespräch einen solchen „Fehltritt“ begeht, wird sich dies auch in Meetings, Dienstbesprechungen und Zielvereinbarungen leisten. Will man für einen solchen „Benachteiliger“ wirklich arbeiten?

Zwar genießt man als schwerbehinderter Arbeitnehmer noch viel weitere Schutzrechte (z.B. § 81 Abs. 2 SGB IX, § 15 AGG), doch dies verringert kaum das Erleben von Benachteiligungen. Will man Leistungsträger in einer Leistungsgesellschaft sein und sich einen Platz gegen die Konkurrenz im Wettbewerb erkämpfen?

Behinderte Menschen wissen um ihre Einschränkungen. Warum mit den stets jüngeren, stärkeren und besser aussehenden Eliten nach deren „Spielregeln“ mithalten? Besser ist es, sich seiner eigenen Stärken bewusst zu machen und durch kluge Rückfragen im Vorstellungsgespräch ein Miteinander zu erreichen. Die Eliten sind an einem Miteinander nicht interessiert.

CGS



Quellen:

Rheuma-Online.de (letzter Seitenaufruf am 5.1.2017)

Deutscher Gewerkschaftsbund (letzter Seitenaufruf am 7.1.2017)
PM 138 - 29.12.2016
10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention
Buntenbach: Viertel der Unternehmen beschäftigt keinen einzigen Schwerbehinderten

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (letzter Seitenaufruf am 16.1.2017)
Ausgewählte Entscheidungen deutscher Gerichte zum Antidiskrimierungsrecht – Stand 31.12.2015



Urteile:

BAG-Urteil Az. 2 AZR 923/94 vom 5.10.1995, Amtlicher Leitsatz:

Die Frage des Arbeitgebers nach der Schwerbehinderteneigenschaft des Stellenbewerbers ist auch dann uneingeschränkt zulässig, wenn die Behinderung, auf der die Anerkennung beruht, tätigkeitsneutral ist. Die unrichtige Beantwortung der Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft kann die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB rechtfertigen.

BAG-Urteil Az. 2 AZR 754/97 vom 3.12.1998, Amtliche Leitsätze:

1. Die unrichtige Beantwortung der Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft kann die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB rechtfertigen (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, zuletzt Urteil vom 5. Oktober 1995 - 2 AZR 923/94 - BAGE 81, 120 = AP Nr. 40 zu § 123 BGB).

2. Ficht der Arbeitgeber im Anschluss an eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung an und verweigert die Entgeltfortzahlung, besteht kein Grund, von der Regelfolge rückwirkender Anfechtung (§ 142 BGB) abzuweichen; die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteile vom 18. April 1968 - 2 AZR 145/67 - AP Nr. 32 zu § 63 HGB, vom 16. September 1982 - 2 AZR 228/80 - BAGE 41, 54 und vom 20. Februar 1986 - 2 AZR 244/85 - BAGE 51, 167 = AP Nr. 24 und 31 zu § 123 BGB) wird aufgegeben.

BAG-Urteil Az. 2 AZR 380/99 vom 18.10.2000, Amtlicher Leitsatz:

Die Falschbeantwortung der Frage nach einer Schwerbehinderung des Arbeitnehmers berechtigt nicht zur Anfechtung des Arbeitsvertrages, wenn die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber offensichtlich war und deshalb bei ihm ein Irrtum nicht entstanden ist.

BAG-Urteil Az. 2 AZR 621/01 vom 6.2.2003, Amtlicher Leitsatz:

1. Die Frage des Arbeitgebers nach einer Schwangerschaft vor der geplanten unbefristeten Einstellung einer Frau verstößt regelmäßig gegen § 611 a BGB.

2. Das gilt auch dann, wenn die Frau die vereinbarte Tätigkeit wegen eines mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbotes zunächst nicht aufnehmen kann. Hinweis des Senats: Teilweise Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung (1. Juli 1993 - 2 AZR 25/93 - AP BGB § 123 Nr. 36 = EzA BGB § 123 Nr. 39)


Notizen:

In einem Urteil des LAG Hamm vom 19. Oktober 2006 (Az. 15 Sa 740/06) wird in der Begründung sogar ausgeführt, dass ein Arbeitgeber sich erkundigen kann, „… ob der Stellenbewerber an gesundheitlichen, seelischen oder ähnlichen Beeinträchtigungen leidet, durch die er zur Verrichtung der beabsichtigten vertraglichen Tätigkeit ungeeignet ist (vgl. BAG, Urteil vom 05.10.1995, AP Nr. 40 zu § 123 BGB; Schaub, NZA 2003, 299, 301; Erfurter Kommentar-Rolfs, 6. Aufl., § 81 SGB IX Rdnr. 4 ff. 6). Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so ist die Frage nach der Schwerbehinderung bzw. Schwerbehinderteneigenschaft als unzulässig anzusehen, weil sie unmittelbar und direkt an die von § 81 Abs. 2 SGB IX geschützte Eigenschaft ‚Schwerbehinderung‘ anknüpft und damit eine unmittelbare Diskriminierung darstellt (vgl. Erfurter Kommentar-Rolfs, a.a.0. § 81 SGB IX Rdnr. 6; Jussen, NJW 2003, 2857, 2860; Messingschläger, NZA 2003, 301, 303; vergl. auch Schaub, NZA 2003, 299, 300 f.)“ (Rz. 55, Fettdruck von mir).

In einem Teil-Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 24.3.2010 (Az. 6/7 Sa 1373/09) heißt es, dass eine tätigkeitsneutrale Frage nach anerkannter Schwerbehinderung oder Gleichstellung selbst im Anstellungsgespräch unzulässig ist und eine unwahre Beantwortung dieser Frage keinen Grund zur Anfechtung  oder Kündigung des Arbeitsvertrages gibt (siehe Leitsatz). Das Gericht geht bei seiner Begründung besonders auf die Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ein, wie schon dies die Bundesrichter in ihren Begründungen getan hatten: „Eine Täuschung besteht in der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums bezüglich objektiv nachprüfbarer Umstände, durch die der Erklärungsgegner zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst wird (BAG, Urteil vom 05.10.1995 – 2 AZR 923/94 – AP Nr. 40 zu § 23 BGB, unter I. 1. d.Gr.). Im Weiteren setzt die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung Rechtswidrigkeit voraus. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ist wie bei der Drohung deren Rechtswidrigkeit. Das BGB geht davon aus, dass die arglistige Täuschung stets rechtswidrig ist. Den Fall rechtmäßiger Täuschung – vor allem im Arbeitsverhältnis – sieht das Gesetzt nicht. Diese Lücke des Gesetzes wird nach herrschender Meinung durch teleologische Reduktion geschlossen. Die Norm des § 123 BGB ist insofern zu weit gefasst, als sie die Fälle einer an sich arglistigen, aber rechtlich erlaubten Täuschung mitumfasst (vgl. BAG, Urteil vom 21.02.1991 – 2 AZR 449/90 – AP Nr. 35 zu § 123 BGB, unter I. b) d.Gr.). Somit stellt im Bereich der Fragerechte des Arbeitgebers nur eine falsche Antwort auf eine zulässigerweise gestellte Frage eine arglistige Täuschung dar (BAG, Urteil vom 19.05.1983 – 2 AZR 171/81 – AP Nr. 25 zu § 123 BGB, unter A. I. 3. c) d.Gr.). Schließlich setzt die Anfechtung voraus, dass die Täuschung für die Begründung des Arbeitsverhältnisses ursächlich geworden ist. Das ist der Fall, wenn der Getäuschte die Willenserklärung anderenfalls nicht oder mit einem anderen Inhalt abgegeben hätte. Es reicht aus, wenn die Täuschung zumindest mitursächlich für den Entschluss des Getäuschten von Bedeutung war (BAG, Urteil vom 11.11.1993 – 2 AZR 467/93 – AP Nr. 38 zu § 123 BGB, unter II. 1. b) ee) d.Gr.)“ (Rz. 40, Fettdruck von mir).



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