Samstag, 21. Januar 2017

In anderer Sache - Schwerbehindert und im Bewerbungsgespräch - Darf man lügen?

Ist man als anerkannt Schwerbehinderter nicht im Nachteil, wenn man sich auf eine offene Stelle bewirbt und dann nach der Schwerbehinderung gefragt wird?

Mit dieser Frage belasten sich insbesondere Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen, die sich für durchaus leistungsfähig halten, wie auch Eltern von Kindern (die ja schließlich eine Zukunft haben sollen) mit ebenfalls nicht-sichtbaren Behinderungen. Es scheint so zu sein, dass das, was „nicht sichtbar“ ist, übersehen werden kann sowohl von Außenstehenden als auch „vergessen“ wird von denjenigen, die damit leben müssen. Erst der Schwerbehinderten-Ausweis macht die Behinderung aktenkundig und damit „sichtbar“.

Ansonsten könnte man denken: Kein Ausweis, keine Behinderung – oder? Und auch wenn es gewisse Vorteile geben mag für diejenigen mit Ausweis, wäre dann nicht doch vielleicht die „Zukunft verbaut“, weil man als Behinderter „abgestempelt“ ist?

Alle diese Fragen zeigen, dass die Gesellschaft noch weit davon entfernt ist, tolerant mit offensichtlichen oder auch schwer wahrnehmbaren Einschränkungen bei Mitmenschen umzugehen. Man hat Diskriminierungen schließlich irgendwann erlebt und möchte vor allem die eigenen Kinder davor schützen. Studien zeigen, dass schwerbehinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind, sich ihre Einstellungschancen nicht wesentlich verbessert haben oder sogar ein „Viertel der Unternehmen“ keinen einzigen Behinderten beschäftigt (siehe z.B. diverse Pressemitteilungen des DGB). Wahrscheinlich sieht man in schwerbehinderten Arbeitnehmer ein unkalkulierbares Kostenrisiko, weil sie doch „unkündbar“ sind und „ständig ausfallen“ könnten.

Wie soll man als Behinderter überhaupt damit umgehen, wenn im Bewerbungsgespräch der Personalchef fragt, ob man „aus arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen Ansprüche oder Rechte geltend machen könnte oder einen entsprechenden Antrag gestellt hat“? Würde man diese Frage als Schwerbehinderter verneinen, könnte sich ein Arbeitgeber getäuscht fühlen. Ohnehin wäre das Vertrauen verspielt, wenn ein schwerbehinderter Arbeitnehmer dann nach der Einstellung sein Recht auf Zusatzurlaub geltend macht. Da auf dem Schwerbehindertenausweis zudem das Datum der Ausstellung steht, könnte der Chef erkennen, ob ein entsprechender Antrag vor oder nach dem Bewerbungsgespräch gestellt wurde. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass schon das Bundesarbeitsgericht bereits mehrere Entscheidungen in dieser Frage getroffen hatte. Die wahrheitswidrige Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein einer Schwerbehinderung könnte nämlich zur Anfechtung des Arbeitsverhältnisses und zur fristlosen Kündigung führen (siehe hierzu die weiter unten benannten BAG-Urteile, allerdings aus früheren Jahren).

Sieht man sich also mit der Frage konfrontiert, was tun? Es kann tatsächlich sein, dass bestimmte gesundheitliche Risiken mit der Stelle verbunden sind oder Besonderheiten in der Behinderung eine Ausübung unmöglich machen (z.B. Schwindel, Höhenangst). Ein Arbeitgeber muss somit nach einer „Behinderung“ fragen dürfen und muss damit nach der Geeignetheit des Stellenbewerbers forschen.  In seiner Begründung zum Urteil vom 19.10.2006 schrieb das LAG Hamm, dass ein Arbeitgeber sehr wohl danach fragen darf, ob ein „Stellenbewerber an gesundheitlichen, seelischen oder ähnlichen Beeinträchtigungen leidet, durch die er zur Verrichtung der beabsichtigten vertraglichen Tätigkeit ungeeignet ist“.

Genau hier zeigt sich aber auch, dass man als Stellenbewerber durchaus den Sinn einer solchen Frage kritisch hinterfragen darf. Wenn es um die persönliche Geeignetheit bezüglich der Besonderheiten der Stelle geht, darf nicht mit „trügerischer Absicht“ und „wahrheitswidrig“ geantwortet werden. Doch wenn ein Grund nicht erkennbar ist, kann eine Beantwortung unterbleiben – eine solche Frage müsste beispielsweise so eingeordnet werden, wie die Frage nach „Schwangerschaftsabsichten“ bei Stellenbewerberinnen (vgl. u.a. BAG-Urteil Az. 2 AZR 621/01 vom 6.2.2003, LAG Köln Urteil Az. 6 Sa 641/12 vom 11.10.2012, EuGH NZA 2000, 255 u.a.).

In einem Teil-Urteil vom 24.3.2010 hat z.B. das Hessische LAG die tätigkeitsneutrale Frage nach anerkannter Schwerbehinderung oder Gleichstellung selbst im Anstellungsgespräch als unzulässig gewertet. Und darüber hinaus gibt es bei einer unwahren Beantwortung dieser Frage für den Arbeitgeber keinen Grund zur Anfechtung  oder Kündigung des Arbeitsvertrages. Kurz gesagt darf man aus Sicht des Gerichtes auf eine unzulässige Frage falsch antworten. Und damit zeigt sich, dass sich die jüngste Rechtsprechung in dieser Frage weiterentwickelt hat.

Arbeitgeber sind nach dem Gesetz (vgl. § 81 Abs. 1 SGB IX) verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Arbeitnehmern besetzt werden können. Dies wird in der Regel wahrscheinlich nicht so häufig passieren oder es ist nachvollziehbar und erkennbar, dass eine Besetzung mit bestimmten Einschränkungen nicht möglich ist (z.B. die Arbeit in großer Höhe, Windkraftanlagen; ansonsten vgl. § 4 ff. AGG). Ansonsten müsste genauestens beschrieben und damit auch dokumentiert werden seitens des Arbeitgebers, was vom zukünftigen Arbeitnehmer erwartet wird – natürlich könnte dies die sogenannte „eierlegende Wollmilchsau“ sein, doch wer mit solchen Stellenangeboten nach Arbeitskräften sucht, würde keine finden. Von daher wird es in der Praxis nur Stellenanzeigen mit geringeren / normalisierten Anforderungen geben, um überhaupt eine Bewerberauswahl zu haben. Doch weil die Stellenanzeige nur die wesentlichsten Anforderungen benennt, wäre jetzt die Frage, ob vom Stellenbewerber aktiv nachgefragt werden sollte, welche weiteren Anforderungen erfüllt sein müssen. Und dies könnte für viele Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen tatsächlich ein Problem darstellen – der selbstbewusste Umgang mit der eigenen Behinderung.

Fragt der Stellenbewerber nach weiteren Anforderungen, eröffnet sich zwar das Risiko der Rückfrage nach einer möglichen Schwerbehinderung, doch man zeigt als Stellenbewerber ein hohes Interesse an der zu vergebenden Stelle. Man kann jetzt mehr über das Unternehmen erfahren, den zukünftigen Arbeitsplatz, den Chef und die Kollegen. Man lernt, worauf es ankommt und welche Möglichkeiten für Karriere und Aufstieg es gibt. Gute Fragen wären: Wie werden Talente und Stärken im Unternehmen oder in der Abteilung gefördert, mit welchen Herausforderungen kann gerechnet werden und wie wird Erfolg im Unternehmen bewertet. Mit einer solchen Rückfrage-Technik beweist man als Stellenbewerber zudem, dass man andere Alternativen hat / haben könnte. Letztendlich gilt auch in solchen Situationen, dass „wer fragt, der führt“.

Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre zeigen, dass die allgemeine Erkundigung nach einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichstellung als unzulässig gewertet werden muss und damit die spätere Anfechtungsklage des Arbeitgebers sich verbietet. Viele Fachleute verneinen sogar das Fragerecht des Arbeitgebers und betonen, dass bei einer offensichtlichen, grundlosen Frage ruhig „gelogen“ werden darf, da sonst die „Benachteiligung bei der Einstellungsentscheidung nicht wieder gut zu machen ist“ (vgl. auch „Leitfaden – Sozialhilfe für Menschen mit Behinderungen und bei Pflegebedürftigkeit von A-Z“, AG TuWas, Stand 1.11.2011, S. 130 f.).

Handelt es sich also wirklich um einen Diskriminierungsversuch, sollte ein schwerbehinderter Bewerber nach erfolgter Ablehnung seinen Anspruch auf Schadensersatz prüfen lassen. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG).

Ein Arbeitgeber, der schon beim Bewerbungsgespräch einen solchen „Fehltritt“ begeht, wird sich dies auch in Meetings, Dienstbesprechungen und Zielvereinbarungen leisten. Will man für einen solchen „Benachteiliger“ wirklich arbeiten?

Zwar genießt man als schwerbehinderter Arbeitnehmer noch viel weitere Schutzrechte (z.B. § 81 Abs. 2 SGB IX, § 15 AGG), doch dies verringert kaum das Erleben von Benachteiligungen. Will man Leistungsträger in einer Leistungsgesellschaft sein und sich einen Platz gegen die Konkurrenz im Wettbewerb erkämpfen?

Behinderte Menschen wissen um ihre Einschränkungen. Warum mit den stets jüngeren, stärkeren und besser aussehenden Eliten nach deren „Spielregeln“ mithalten? Besser ist es, sich seiner eigenen Stärken bewusst zu machen und durch kluge Rückfragen im Vorstellungsgespräch ein Miteinander zu erreichen. Die Eliten sind an einem Miteinander nicht interessiert.

CGS



Quellen:

Rheuma-Online.de (letzter Seitenaufruf am 5.1.2017)

Deutscher Gewerkschaftsbund (letzter Seitenaufruf am 7.1.2017)
PM 138 - 29.12.2016
10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention
Buntenbach: Viertel der Unternehmen beschäftigt keinen einzigen Schwerbehinderten

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (letzter Seitenaufruf am 16.1.2017)
Ausgewählte Entscheidungen deutscher Gerichte zum Antidiskrimierungsrecht – Stand 31.12.2015



Urteile:

BAG-Urteil Az. 2 AZR 923/94 vom 5.10.1995, Amtlicher Leitsatz:

Die Frage des Arbeitgebers nach der Schwerbehinderteneigenschaft des Stellenbewerbers ist auch dann uneingeschränkt zulässig, wenn die Behinderung, auf der die Anerkennung beruht, tätigkeitsneutral ist. Die unrichtige Beantwortung der Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft kann die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB rechtfertigen.

BAG-Urteil Az. 2 AZR 754/97 vom 3.12.1998, Amtliche Leitsätze:

1. Die unrichtige Beantwortung der Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft kann die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB rechtfertigen (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, zuletzt Urteil vom 5. Oktober 1995 - 2 AZR 923/94 - BAGE 81, 120 = AP Nr. 40 zu § 123 BGB).

2. Ficht der Arbeitgeber im Anschluss an eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung an und verweigert die Entgeltfortzahlung, besteht kein Grund, von der Regelfolge rückwirkender Anfechtung (§ 142 BGB) abzuweichen; die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteile vom 18. April 1968 - 2 AZR 145/67 - AP Nr. 32 zu § 63 HGB, vom 16. September 1982 - 2 AZR 228/80 - BAGE 41, 54 und vom 20. Februar 1986 - 2 AZR 244/85 - BAGE 51, 167 = AP Nr. 24 und 31 zu § 123 BGB) wird aufgegeben.

BAG-Urteil Az. 2 AZR 380/99 vom 18.10.2000, Amtlicher Leitsatz:

Die Falschbeantwortung der Frage nach einer Schwerbehinderung des Arbeitnehmers berechtigt nicht zur Anfechtung des Arbeitsvertrages, wenn die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber offensichtlich war und deshalb bei ihm ein Irrtum nicht entstanden ist.

BAG-Urteil Az. 2 AZR 621/01 vom 6.2.2003, Amtlicher Leitsatz:

1. Die Frage des Arbeitgebers nach einer Schwangerschaft vor der geplanten unbefristeten Einstellung einer Frau verstößt regelmäßig gegen § 611 a BGB.

2. Das gilt auch dann, wenn die Frau die vereinbarte Tätigkeit wegen eines mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbotes zunächst nicht aufnehmen kann. Hinweis des Senats: Teilweise Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung (1. Juli 1993 - 2 AZR 25/93 - AP BGB § 123 Nr. 36 = EzA BGB § 123 Nr. 39)


Notizen:

In einem Urteil des LAG Hamm vom 19. Oktober 2006 (Az. 15 Sa 740/06) wird in der Begründung sogar ausgeführt, dass ein Arbeitgeber sich erkundigen kann, „… ob der Stellenbewerber an gesundheitlichen, seelischen oder ähnlichen Beeinträchtigungen leidet, durch die er zur Verrichtung der beabsichtigten vertraglichen Tätigkeit ungeeignet ist (vgl. BAG, Urteil vom 05.10.1995, AP Nr. 40 zu § 123 BGB; Schaub, NZA 2003, 299, 301; Erfurter Kommentar-Rolfs, 6. Aufl., § 81 SGB IX Rdnr. 4 ff. 6). Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so ist die Frage nach der Schwerbehinderung bzw. Schwerbehinderteneigenschaft als unzulässig anzusehen, weil sie unmittelbar und direkt an die von § 81 Abs. 2 SGB IX geschützte Eigenschaft ‚Schwerbehinderung‘ anknüpft und damit eine unmittelbare Diskriminierung darstellt (vgl. Erfurter Kommentar-Rolfs, a.a.0. § 81 SGB IX Rdnr. 6; Jussen, NJW 2003, 2857, 2860; Messingschläger, NZA 2003, 301, 303; vergl. auch Schaub, NZA 2003, 299, 300 f.)“ (Rz. 55, Fettdruck von mir).

In einem Teil-Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 24.3.2010 (Az. 6/7 Sa 1373/09) heißt es, dass eine tätigkeitsneutrale Frage nach anerkannter Schwerbehinderung oder Gleichstellung selbst im Anstellungsgespräch unzulässig ist und eine unwahre Beantwortung dieser Frage keinen Grund zur Anfechtung  oder Kündigung des Arbeitsvertrages gibt (siehe Leitsatz). Das Gericht geht bei seiner Begründung besonders auf die Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ein, wie schon dies die Bundesrichter in ihren Begründungen getan hatten: „Eine Täuschung besteht in der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums bezüglich objektiv nachprüfbarer Umstände, durch die der Erklärungsgegner zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst wird (BAG, Urteil vom 05.10.1995 – 2 AZR 923/94 – AP Nr. 40 zu § 23 BGB, unter I. 1. d.Gr.). Im Weiteren setzt die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung Rechtswidrigkeit voraus. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ist wie bei der Drohung deren Rechtswidrigkeit. Das BGB geht davon aus, dass die arglistige Täuschung stets rechtswidrig ist. Den Fall rechtmäßiger Täuschung – vor allem im Arbeitsverhältnis – sieht das Gesetzt nicht. Diese Lücke des Gesetzes wird nach herrschender Meinung durch teleologische Reduktion geschlossen. Die Norm des § 123 BGB ist insofern zu weit gefasst, als sie die Fälle einer an sich arglistigen, aber rechtlich erlaubten Täuschung mitumfasst (vgl. BAG, Urteil vom 21.02.1991 – 2 AZR 449/90 – AP Nr. 35 zu § 123 BGB, unter I. b) d.Gr.). Somit stellt im Bereich der Fragerechte des Arbeitgebers nur eine falsche Antwort auf eine zulässigerweise gestellte Frage eine arglistige Täuschung dar (BAG, Urteil vom 19.05.1983 – 2 AZR 171/81 – AP Nr. 25 zu § 123 BGB, unter A. I. 3. c) d.Gr.). Schließlich setzt die Anfechtung voraus, dass die Täuschung für die Begründung des Arbeitsverhältnisses ursächlich geworden ist. Das ist der Fall, wenn der Getäuschte die Willenserklärung anderenfalls nicht oder mit einem anderen Inhalt abgegeben hätte. Es reicht aus, wenn die Täuschung zumindest mitursächlich für den Entschluss des Getäuschten von Bedeutung war (BAG, Urteil vom 11.11.1993 – 2 AZR 467/93 – AP Nr. 38 zu § 123 BGB, unter II. 1. b) ee) d.Gr.)“ (Rz. 40, Fettdruck von mir).



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