Ist man als anerkannt
Schwerbehinderter nicht im Nachteil, wenn man sich auf eine offene Stelle
bewirbt und dann nach der Schwerbehinderung gefragt wird?
Mit dieser Frage belasten sich insbesondere Menschen mit nicht-sichtbaren
Behinderungen, die sich für durchaus leistungsfähig halten, wie auch Eltern
von Kindern (die ja schließlich eine Zukunft haben sollen) mit ebenfalls nicht-sichtbaren
Behinderungen. Es scheint so zu sein, dass das, was „nicht sichtbar“ ist,
übersehen werden kann sowohl von Außenstehenden als auch „vergessen“ wird von
denjenigen, die damit leben müssen. Erst der Schwerbehinderten-Ausweis macht die
Behinderung aktenkundig und damit „sichtbar“.
Ansonsten könnte man denken: Kein Ausweis, keine
Behinderung – oder? Und auch wenn es gewisse Vorteile geben mag für diejenigen
mit Ausweis, wäre dann nicht doch vielleicht die „Zukunft verbaut“, weil man
als Behinderter „abgestempelt“ ist?
Alle diese Fragen zeigen, dass die Gesellschaft noch weit
davon entfernt ist, tolerant mit offensichtlichen oder auch schwer
wahrnehmbaren Einschränkungen bei Mitmenschen umzugehen. Man hat
Diskriminierungen schließlich irgendwann erlebt und möchte vor allem die
eigenen Kinder davor schützen. Studien zeigen, dass schwerbehinderte Menschen
auf dem Arbeitsmarkt überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind, sich ihre
Einstellungschancen nicht wesentlich verbessert haben oder sogar ein „Viertel
der Unternehmen“ keinen einzigen Behinderten beschäftigt (siehe z.B. diverse
Pressemitteilungen des DGB). Wahrscheinlich sieht man in schwerbehinderten
Arbeitnehmer ein unkalkulierbares Kostenrisiko, weil sie doch „unkündbar“ sind
und „ständig ausfallen“ könnten.
Wie soll man als Behinderter überhaupt damit umgehen,
wenn im Bewerbungsgespräch der Personalchef fragt, ob man „aus
arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen Ansprüche oder Rechte geltend machen könnte
oder einen entsprechenden Antrag gestellt hat“? Würde man diese Frage als
Schwerbehinderter verneinen, könnte sich ein Arbeitgeber getäuscht fühlen.
Ohnehin wäre das Vertrauen verspielt, wenn ein schwerbehinderter Arbeitnehmer dann
nach der Einstellung sein Recht auf Zusatzurlaub geltend macht. Da auf dem
Schwerbehindertenausweis zudem das Datum der Ausstellung steht, könnte der Chef
erkennen, ob ein entsprechender Antrag vor oder nach dem Bewerbungsgespräch
gestellt wurde. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass schon das
Bundesarbeitsgericht bereits mehrere Entscheidungen in dieser Frage getroffen
hatte. Die wahrheitswidrige Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein einer
Schwerbehinderung könnte nämlich zur Anfechtung des Arbeitsverhältnisses und
zur fristlosen Kündigung führen (siehe hierzu die weiter unten benannten
BAG-Urteile, allerdings aus früheren Jahren).
Sieht man sich also mit der Frage konfrontiert, was tun? Es
kann tatsächlich sein, dass bestimmte gesundheitliche Risiken mit der Stelle
verbunden sind oder Besonderheiten in der Behinderung eine Ausübung unmöglich
machen (z.B. Schwindel, Höhenangst). Ein Arbeitgeber muss somit nach einer „Behinderung“
fragen dürfen und muss damit nach der Geeignetheit des Stellenbewerbers
forschen. In seiner Begründung zum Urteil
vom 19.10.2006 schrieb das LAG Hamm, dass ein Arbeitgeber sehr wohl danach
fragen darf, ob ein „Stellenbewerber an gesundheitlichen, seelischen oder
ähnlichen Beeinträchtigungen leidet, durch die er zur Verrichtung der
beabsichtigten vertraglichen Tätigkeit ungeeignet ist“.
Genau hier zeigt sich aber auch, dass man als
Stellenbewerber durchaus den Sinn einer solchen Frage kritisch hinterfragen
darf. Wenn es um die persönliche Geeignetheit bezüglich der Besonderheiten der
Stelle geht, darf nicht mit „trügerischer Absicht“ und „wahrheitswidrig“
geantwortet werden. Doch wenn ein Grund nicht erkennbar ist, kann eine
Beantwortung unterbleiben – eine solche Frage müsste beispielsweise so
eingeordnet werden, wie die Frage nach „Schwangerschaftsabsichten“ bei Stellenbewerberinnen
(vgl. u.a. BAG-Urteil Az. 2 AZR 621/01 vom 6.2.2003, LAG Köln Urteil Az. 6 Sa
641/12 vom 11.10.2012, EuGH NZA 2000, 255 u.a.).
In einem Teil-Urteil vom 24.3.2010 hat z.B. das Hessische
LAG die tätigkeitsneutrale Frage nach anerkannter Schwerbehinderung oder
Gleichstellung selbst im Anstellungsgespräch als unzulässig gewertet. Und
darüber hinaus gibt es bei einer unwahren Beantwortung dieser Frage für den
Arbeitgeber keinen Grund zur Anfechtung
oder Kündigung des Arbeitsvertrages. Kurz gesagt darf man aus Sicht des
Gerichtes auf eine unzulässige Frage falsch antworten. Und damit zeigt sich,
dass sich die jüngste Rechtsprechung in dieser Frage weiterentwickelt hat.
Arbeitgeber sind nach dem Gesetz (vgl. § 81 Abs. 1 SGB IX)
verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten
Arbeitnehmern besetzt werden können. Dies wird in der Regel wahrscheinlich nicht
so häufig passieren oder es ist nachvollziehbar und erkennbar, dass eine
Besetzung mit bestimmten Einschränkungen nicht möglich ist (z.B. die Arbeit in
großer Höhe, Windkraftanlagen; ansonsten vgl. § 4 ff. AGG). Ansonsten müsste
genauestens beschrieben und damit auch dokumentiert werden seitens des
Arbeitgebers, was vom zukünftigen Arbeitnehmer erwartet wird – natürlich könnte
dies die sogenannte „eierlegende Wollmilchsau“ sein, doch wer mit solchen
Stellenangeboten nach Arbeitskräften sucht, würde keine finden. Von daher wird
es in der Praxis nur Stellenanzeigen mit geringeren / normalisierten
Anforderungen geben, um überhaupt eine Bewerberauswahl zu haben. Doch weil die
Stellenanzeige nur die wesentlichsten Anforderungen benennt, wäre jetzt die
Frage, ob vom Stellenbewerber aktiv nachgefragt werden sollte, welche weiteren
Anforderungen erfüllt sein müssen. Und dies könnte für viele Menschen mit
nicht-sichtbaren Behinderungen tatsächlich ein Problem darstellen – der
selbstbewusste Umgang mit der eigenen Behinderung.
Fragt der Stellenbewerber nach weiteren Anforderungen,
eröffnet sich zwar das Risiko der Rückfrage nach einer möglichen
Schwerbehinderung, doch man zeigt als Stellenbewerber ein hohes Interesse an
der zu vergebenden Stelle. Man kann jetzt mehr über das Unternehmen erfahren, den
zukünftigen Arbeitsplatz, den Chef und die Kollegen. Man lernt, worauf es
ankommt und welche Möglichkeiten für Karriere und Aufstieg es gibt. Gute Fragen wären: Wie werden
Talente und Stärken im Unternehmen oder in der Abteilung gefördert, mit welchen
Herausforderungen kann gerechnet werden und wie wird Erfolg im Unternehmen
bewertet. Mit einer solchen Rückfrage-Technik beweist man als Stellenbewerber zudem,
dass man andere Alternativen hat / haben könnte. Letztendlich gilt auch in
solchen Situationen, dass „wer fragt, der führt“.
Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre zeigen, dass die
allgemeine Erkundigung nach einer anerkannten Schwerbehinderung oder
Gleichstellung als unzulässig gewertet werden muss und damit die spätere
Anfechtungsklage des Arbeitgebers sich verbietet. Viele Fachleute verneinen sogar
das Fragerecht des Arbeitgebers und betonen, dass bei einer offensichtlichen,
grundlosen Frage ruhig „gelogen“ werden darf, da sonst die „Benachteiligung bei
der Einstellungsentscheidung nicht wieder gut zu machen ist“ (vgl. auch
„Leitfaden – Sozialhilfe für Menschen mit Behinderungen und bei
Pflegebedürftigkeit von A-Z“, AG TuWas, Stand 1.11.2011, S. 130 f.).
Handelt es sich also wirklich um einen
Diskriminierungsversuch, sollte ein schwerbehinderter Bewerber nach erfolgter
Ablehnung seinen Anspruch auf Schadensersatz prüfen lassen. Niemand darf wegen
seiner Behinderung benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG).
Ein Arbeitgeber, der schon beim Bewerbungsgespräch einen
solchen „Fehltritt“ begeht, wird sich dies auch in Meetings,
Dienstbesprechungen und Zielvereinbarungen leisten. Will man für einen solchen „Benachteiliger“
wirklich arbeiten?
Zwar genießt man als schwerbehinderter Arbeitnehmer noch
viel weitere Schutzrechte (z.B. § 81 Abs. 2 SGB IX, § 15 AGG), doch dies
verringert kaum das Erleben von Benachteiligungen. Will man Leistungsträger in
einer Leistungsgesellschaft sein und sich einen Platz gegen die Konkurrenz im
Wettbewerb erkämpfen?
Behinderte Menschen wissen um ihre Einschränkungen. Warum
mit den stets jüngeren, stärkeren und besser aussehenden Eliten nach deren
„Spielregeln“ mithalten? Besser ist es, sich seiner eigenen Stärken bewusst zu
machen und durch kluge Rückfragen im Vorstellungsgespräch ein Miteinander zu
erreichen. Die Eliten sind an einem Miteinander nicht interessiert.
CGS
Quellen:
Rheuma-Online.de (letzter Seitenaufruf am 5.1.2017)
Deutscher Gewerkschaftsbund (letzter Seitenaufruf am
7.1.2017)
PM 138 - 29.12.2016
10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention
Buntenbach: Viertel der Unternehmen beschäftigt keinen
einzigen Schwerbehinderten
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (letzter
Seitenaufruf am 16.1.2017)
Ausgewählte Entscheidungen deutscher Gerichte zum
Antidiskrimierungsrecht – Stand 31.12.2015
Urteile:
BAG-Urteil Az. 2 AZR 923/94 vom 5.10.1995, Amtlicher
Leitsatz:
Die Frage des Arbeitgebers nach der Schwerbehinderteneigenschaft
des Stellenbewerbers ist auch dann uneingeschränkt zulässig, wenn die
Behinderung, auf der die Anerkennung beruht, tätigkeitsneutral ist. Die
unrichtige Beantwortung der Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft kann
die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB
rechtfertigen.
BAG-Urteil Az. 2 AZR 754/97 vom 3.12.1998, Amtliche
Leitsätze:
1. Die unrichtige Beantwortung der Frage nach der
Schwerbehinderteneigenschaft kann die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen
arglistiger Täuschung nach § 123 BGB rechtfertigen (Bestätigung der ständigen
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, zuletzt Urteil vom 5. Oktober 1995 -
2 AZR 923/94 - BAGE 81, 120 = AP Nr. 40 zu § 123 BGB).
2. Ficht der Arbeitgeber im Anschluss an eine
Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers den Arbeitsvertrag wegen arglistiger
Täuschung an und verweigert die Entgeltfortzahlung, besteht kein Grund, von der
Regelfolge rückwirkender Anfechtung (§ 142 BGB) abzuweichen; die
entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteile vom 18.
April 1968 - 2 AZR 145/67 - AP Nr. 32 zu § 63 HGB, vom 16. September 1982 - 2
AZR 228/80 - BAGE 41, 54 und vom 20. Februar 1986 - 2 AZR 244/85 - BAGE 51, 167
= AP Nr. 24 und 31 zu § 123 BGB) wird aufgegeben.
BAG-Urteil Az. 2 AZR 380/99 vom 18.10.2000, Amtlicher
Leitsatz:
Die Falschbeantwortung der Frage nach einer
Schwerbehinderung des Arbeitnehmers berechtigt nicht zur Anfechtung des
Arbeitsvertrages, wenn die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber offensichtlich
war und deshalb bei ihm ein Irrtum nicht entstanden ist.
BAG-Urteil Az. 2 AZR 621/01 vom 6.2.2003, Amtlicher
Leitsatz:
1. Die Frage des Arbeitgebers nach einer Schwangerschaft
vor der geplanten unbefristeten Einstellung einer Frau verstößt regelmäßig
gegen § 611 a BGB.
2. Das gilt auch dann, wenn die Frau die vereinbarte
Tätigkeit wegen eines mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbotes zunächst
nicht aufnehmen kann. Hinweis des Senats: Teilweise Aufgabe der bisherigen
Rechtsprechung (1. Juli 1993 - 2 AZR 25/93 - AP BGB § 123 Nr. 36 = EzA BGB §
123 Nr. 39)
Notizen:
In einem Urteil des LAG Hamm vom 19. Oktober 2006 (Az. 15
Sa 740/06) wird in der Begründung sogar ausgeführt, dass ein Arbeitgeber sich
erkundigen kann, „… ob der Stellenbewerber
an gesundheitlichen, seelischen oder ähnlichen Beeinträchtigungen leidet, durch
die er zur Verrichtung der beabsichtigten vertraglichen Tätigkeit ungeeignet
ist (vgl. BAG, Urteil vom 05.10.1995, AP Nr. 40 zu § 123 BGB; Schaub, NZA 2003,
299, 301; Erfurter Kommentar-Rolfs, 6. Aufl., § 81 SGB IX Rdnr. 4 ff. 6). Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so
ist die Frage nach der Schwerbehinderung bzw. Schwerbehinderteneigenschaft als
unzulässig anzusehen, weil sie unmittelbar und direkt an die von § 81 Abs. 2
SGB IX geschützte Eigenschaft ‚Schwerbehinderung‘ anknüpft und damit eine
unmittelbare Diskriminierung darstellt (vgl. Erfurter Kommentar-Rolfs,
a.a.0. § 81 SGB IX Rdnr. 6; Jussen, NJW 2003, 2857, 2860; Messingschläger, NZA
2003, 301, 303; vergl. auch Schaub, NZA 2003, 299, 300 f.)“ (Rz. 55, Fettdruck
von mir).
In einem Teil-Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts
vom 24.3.2010 (Az. 6/7 Sa 1373/09) heißt es, dass eine tätigkeitsneutrale Frage
nach anerkannter Schwerbehinderung oder Gleichstellung selbst im
Anstellungsgespräch unzulässig ist und eine unwahre Beantwortung dieser Frage
keinen Grund zur Anfechtung oder
Kündigung des Arbeitsvertrages gibt (siehe Leitsatz). Das Gericht geht bei
seiner Begründung besonders auf die Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ein, wie
schon dies die Bundesrichter in ihren Begründungen getan hatten: „Eine
Täuschung besteht in der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums
bezüglich objektiv nachprüfbarer Umstände, durch die der Erklärungsgegner zur
Abgabe einer Willenserklärung veranlasst wird (BAG, Urteil vom 05.10.1995 – 2
AZR 923/94 – AP Nr. 40 zu § 23 BGB, unter I. 1. d.Gr.). Im Weiteren setzt die
Anfechtung wegen arglistiger Täuschung Rechtswidrigkeit voraus. Ungeschriebenes
Tatbestandsmerkmal der Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ist wie bei der Drohung
deren Rechtswidrigkeit. Das BGB geht davon aus, dass die arglistige Täuschung
stets rechtswidrig ist. Den Fall rechtmäßiger Täuschung – vor allem im
Arbeitsverhältnis – sieht das Gesetzt nicht. Diese Lücke des Gesetzes wird nach
herrschender Meinung durch teleologische Reduktion geschlossen. Die Norm des §
123 BGB ist insofern zu weit gefasst, als sie die Fälle einer an sich
arglistigen, aber rechtlich erlaubten Täuschung mitumfasst (vgl. BAG, Urteil
vom 21.02.1991 – 2 AZR 449/90 – AP Nr. 35 zu § 123 BGB, unter I. b) d.Gr.). Somit stellt im Bereich der Fragerechte des
Arbeitgebers nur eine falsche Antwort auf eine zulässigerweise gestellte Frage
eine arglistige Täuschung dar (BAG, Urteil vom 19.05.1983 – 2 AZR 171/81 –
AP Nr. 25 zu § 123 BGB, unter A. I. 3. c) d.Gr.). Schließlich setzt die
Anfechtung voraus, dass die Täuschung für die Begründung des
Arbeitsverhältnisses ursächlich geworden ist. Das ist der Fall, wenn der Getäuschte die Willenserklärung
anderenfalls nicht oder mit einem anderen Inhalt abgegeben hätte. Es reicht
aus, wenn die Täuschung zumindest mitursächlich für den Entschluss des
Getäuschten von Bedeutung war (BAG, Urteil vom 11.11.1993 – 2 AZR 467/93 – AP
Nr. 38 zu § 123 BGB, unter II. 1. b) ee) d.Gr.)“ (Rz. 40, Fettdruck von mir).
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