Ab hier folgt nun
der zweite Teil zum Thema, was denn nun eine angemessene Schulbildung denn sei
für ein behindertes Kind. Wie gesagt, begonnen hatte es damit, dass ein
behindertes Kind die Chance hat auf einen Ersten Schulabschluss, wenn es lange
genug eine Regelschule besuchen kann. Was sich dann daraus entwickelte, war ein
Herausfinden von möglichen Leitlinien und den Grenzen im System der Eingliederungshilfe
für diese „verlangsamten“ Kinder.
Gerade weil es in
der Eingliederungshilfe-Verordnung so steht, könnte die Bewilligung von
Hilfe-Leistungen tatsächlich befristet sein. Man kennt das von sogenannten „Mehrkostenvorbehalten“
aus anderen Regelungen im Sozialrecht. Was das aber genau bedeutet, muss nun
herausgearbeitet werden mit einem Ausblick auf mögliche Veränderungen durch die
UN-Kinderrechtskonvention, die ja schließlich im Grundgesetz verankert werden
soll.
Den Rahmen und
das Übliche bestimmen
Weil das Schulwesen zum Hoheitsrecht der Bundesländer
gehört, kann jedes Bundesland für sich bestimmen, was genau gemeint ist mit
diesen Begriffen. Wenn man in diesem „Rahmen“ bestimmte Schulformen ausschließt
(z.B. das Gymnasium, weil es „den Anforderungen für die Aufnahme eines
Hochschulstudiums und einer vergleichbaren Berufsausbildung“ entsprechen soll;
§ 44 Abs. 1 SchulG-SH), reduziert sich das „üblich erreichbare“ auf die anderen
Schulformen. Da das Leistungsrecht von der „Erlangung einer allgemeinen
Schulbildung“ spricht, kann effektiv damit auch nur die Erlangung eines Ersten
Schulabschlusses (ESA = Hauptschulabschluss) gemeint sein.
Man könnte die Frage stellen, wie viele Schulbesuchsjahre
„üblich“ wären, um einen solchen Schulabschluss zu erreichen. Mit
Schulbesuchsjahren ist jedenfalls nicht eine Jahrgangsstufe gemeint, vielmehr
will man mit diesem Begriff die Dauer beschreiben. Wenn als „üblich“ zum
Beispiel nur 9, vielleicht höchstens 10 Schulbesuchsjahre festgelegt wären,
würde jede Wiederholung einer Jahrgangsstufe eine Beendigung der
Vollzeitschulpflicht noch vor dem Erreichen des ESA wahrscheinlicher machen. *)
Was jetzt nun „üblich“ ist, kann auf einen Vergleich mit
allen Schülern basieren – ob behindert oder im gleichen Maße eingeschränkt, ob
regional oder überregional, es spielt keine Rolle. Das behinderte Kind kann
also nur so lange Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung erwarten, wie ein
anderes „Durchschnitts“-Schulkind braucht, um einen ESA zu erlangen.
Pädagogische
Argumente könnten vom Jedermann-Recht auf Bildung abweichen
Die Feststellung über das „Übliche“ trifft nicht der
Leistungsträger für die Eingliederungshilfe. Das regional zuständige Schulamt
beurteilt, ob der Besuch zum Beispiel einer weiterführenden Schule eine
angemessene Schulbildung ermöglicht. Eine solche Trennung der Zuständigkeiten
ist eigentlich zu begrüßen. Pädagogische Argumente sollen ausschlaggebend sein
und nicht Haushaltsvorgaben.
Man kennt aber Beispiele aus der (gar nicht so weit
entfernten) Vergangenheit, wo man sich seitens der Schulleitungen gegen die
Beschulung von Kindern mit besonderen Bedarfen gewehrt hatte. Seit kurzem steht
im Bundesland NRW ein Papier über die „Eckpunkte zur Neuausrichtung der
Inklusion“ in der Kritik. Unter anderem sollen Gymnasien ermächtigt werden,
selbst zu entscheiden, ob zieldifferent unterrichtet wird. Und insgesamt soll
die Zahl der Schulen, in denen ein Gemeinsames Lernen stattfindet, abgesenkt
werden (vgl. dazu auch eine Stellungnahme des Bündnisses Gemeinsam Lernen e.V.
– der Link dazu siehe unten). Es kann also gut sein, dass die pädagogischen Argumente
sich plötzlich auf die Herstellung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft (mit einer
pädagogischen Elite) richten und nicht mehr das allgemeine Recht auf Bildung
und Teilhabe in den Fokus nehmen.
Im Falle eines „verlangsamten Kindes“, bei dem zwar in
der Tat sehr verlangsamt aber dennoch Entwicklungsschritte zu beobachten sind,
ist diese „übliche“ Zeit schon von Bedeutung. Beschränken sich die
unterstützenden Maßnahmen nur auf die Vollzeitschulpflicht, ist ein „vorzeitiges“
Verlassen wahrscheinlich. Nicht mehr die mögliche Erlangung eines
Schulabschlusses würde im Vordergrund stehen, sondern eine vorab festgelegte
Anzahl Schulbesuchsjahre. Wenn diese Zeiten verbraucht sind, ist der weitere
Schulbesuch nicht mehr angemessen (und wirtschaftlich nicht vertretbar –
Mehrkostenvorbehalt).
In einem Urteil aus dem Jahr 2001 befand ein
Verwaltungsgerichtshof (Bayern), dass das Erreichen von Lernzielen einer
Jahrgangsstufe wesentlich ist (siehe Quelle unten). Es wurde weiter geprüft, ob
dieses Erreichen nur mit Hilfe der außerschulischen Fördermaßnahme, d.h. die
während der Schulzeit zu betreuende pädagogische Hilfskraft, möglich ist. Weil
dies der Fall war, die regionale Förderschule ebenfalls eine angemessene Schulbildung
ermöglichte und hierzu keine Gegenrede seitens der klagenden
Leistungsberechtigten eingebracht wurde, befand das Gericht, dass der Nachrang
der Sozialhilfe zu beachten wäre. Die Kostenübernahme durch den
Sozialhilfe-Träger sei somit nicht mehr erforderlich. **)
Bedeutet das nun, dass die Lernziele eines Jahrgangs
entscheidend sind?
Könnte die
UN-Kinderrechtskonvention hier etwas anderes bewirken?
In gewisser Weise ist dies zu bejahen (beide Fragen). Nicht
nur im schleswig-holsteinischen Schulgesetz in der Regelung über Gymnasien
findet sich der Leistungsgedanke (vgl. § 44 Abs. 1 SchulG-SH), auch in der
UN-Kinderrechtskonvention steht, dass der Zugang zu Hochschulen entsprechend
der „Fähigkeiten“ geschehen soll (Art. 28 Abs. 1 c UN-KRK). Damit gemeint ist
ein gewisser Reifegrad, was durchaus nachzuvollziehen ist.
Doch was sich nicht findet, ist so etwas wie eine
„übliche“ Anzahl an Schulbesuchsjahren; weder in der UN-KRK, noch im Landesschulgesetz
von Schleswig-Holstein. Man kann also sagen, dass die Lernziele eines Jahrgangs
zwar schon entscheidend sind für ein weiteres Fortkommen, die Ermöglichung des
Schulbesuchs bleibt dennoch ein rechtlicher Anspruch, welcher zu verwirklichen
ist. Und dieses Recht auf Verwirklichung, dieser rechtliche Anspruch umfasst
damit den Bezug von Leistungen bzw. Hilfen zur Erlangung des Rechts auf
Bildung.
Die UN-KRK soll übrigens bald Teil des bundesdeutschen
Grundgesetzes werden. Vielleicht muss der Bundesgesetzgeber diese üble
„Üblichkeit“ in der EinglVO überarbeiten?
Ein neues
Rechtsverständnis
Aus dem zuvor genannten Urteil kann man das alte
Rechtsverständnis gut erkennen. Mit der bewilligten Hilfe sollte ein
Nachteilsausgleich beim Erreichen der pädagogischen Lernziele geschafft werden.
Weil aber ein Erreichen nicht möglich war, musste das behinderte Kind zur
Förderschule wechseln.
Kinder, die „normalerweise“ eine Förderschule besuchen
müssten, werden heutzutage in der Regelschule „zieldifferent“ unterrichtet
(Subjekt-bezogen). Dieses angeordnete Abweichen vom (objektiven)
Standard-Lernziel hilft ihnen teilzuhaben an einem Leben in der Gemeinschaft. Und
genau dies entspricht dem neuen Rechtsverständnis. Es darf nicht passieren,
dass das Jedermann-Recht auf Bildung und Teilhabe zu einer Abschottung von der
übrigen Gemeinschaft führt. Insofern wäre ein Urteil, wie es noch in 2001
geschehen ist, heute nicht mehr erlaubt.
Allerdings wird das „üblich erreichbare“ als
Vergleichsmaßstab nicht automatisch überflüssig. Wenn man diese Begriffe in
Bezug setzt zum jeweiligen Klassenverband, bedeutet es weder ein vorzeitiges
Verlassen-müssen noch ein dauerhaftes Sitzen-bleiben. Es kommt damit nicht mehr
darauf an, wie eine Hilfe möglichst wirtschaftlich erbracht werden kann,
sondern in welcher Situation sich die leistungsberechtigte Person befindet und
welche Bedarfe vorhanden sind – man muss von Fall zu Fall entscheiden und dabei
die individuellen Wünsche mitberücksichtigen.
CGS
Quellen:
§ 12 Eingliederungshilfe-Verordnung, Schulbildung
Eigener Beitrag vom 14.5.2018
Eigener Beitrag vom 28.7.2018
VGH Bayern, Az. 12 B 98.2022, Urteil vom 14.5.2001
Anspruch auf Kostenübernahme wegen Besuchs einer
Regelschule
Zitat: „Aus der
Systematik der schulrechtlichen Bestimmungen ergebe sich, dass ein Kind nur
dann in die Regelschule aufgenommen werden könne, wenn es voraussichtlich das Klassenziel der jeweils in Frage kommenden
Jahrgangsstufe dieser Schule erreichen könne. Die staatliche Schulaufsicht
habe darüber zu entscheiden, ob das schulpflichtige Kind in eine allgemeine
Schule aufgenommen werde und dort verbleibe oder ob es Unterricht und Förderung
an einer Sonderschule erhalte.“ (Fettdruck von mir, Referenznummer in der
Datenbank ist R/R1568)
Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V.
“Neuausrichtung der Inklusion” der Schulministerin stößt
auf Widerstand
Pressemitteilung vom 6.7.2018
(letzter Aufruf am 27.7.2018)
*) =
In Schleswig-Holstein findet in der Gemeinschaftsschule
ein sogenannter „binnendifferenzierter“ Unterricht statt (vgl. § 43 Abs. 1 S. 2
SchulG-SH). Den ESA können die Schüler mit der Versetzung in die zehnte
Jahrgangsstufe oder durch Teilnahme an einer Prüfung in der neunten
Jahrgangsstufe erlangen (Abs. 2). Doch darüber hinaus ist ab der Jahrgangsstufe
acht der Besuch einer „flexiblen Übergangsphase“ möglich, so dass die Schüler
in drei Jahren auf den ESA vorbereitet werden können (Abs. 3). Damit kann sich
die Anzahl der Schulbesuchsjahre bis zum ESA ab der Grundschule auf 6 Jahre
erweitern.
Für die Grundschulzeit hat das Bundesland
Schleswig-Holstein eine Eingangsphase von zwei Jahren bestimmt, die aber je
nach Lernentwicklung eines Schülers oder Schülerin auf ein Jahr verkürzt oder auf
drei Jahre verlängert werden kann (vgl. § 41 Abs. 2 SchulG-SH). Wenn diese
Besonderheit mit zu berücksichtigen wäre, ergibt sich eine neue „übliche“
Schulbesuchszeit von maximal 11 Jahren (d.h. 5 Jahre Grundschule + 6 Jahre
Sekundarstufe 1).
Dagegen beträgt die Dauer der (Vollzeit-) Schulpflicht
insgesamt nur 9 Jahre (vgl. § 20 Abs. 2 Ziff. 1 SchulG-SH).
Die Vollzeitschulpflicht beginnt in der Regel im Alter
von 6 Jahren (vgl. § 22 Abs. 1 SchulG-SH). Mit Verlassen der allgemeinen Schule
beginnt die Berufsschulpflicht (vgl. § 23 Abs. 1 SchulG-SH).
**) =
Leistungen richten sich nach den Besonderheiten des
Einzelfalls. Es geht also darum, dass ein Nachteilsausgleich stattfindet, damit
das grundgesetzlich geschützte Recht auch erlangt werden kann. Was gebraucht
wird, muss gemeinsam besprochen werden, zum Beispiel in einem
Hilfeplan-Gespräch (HPG), einer Gesamtplankonferenz oder einem Förderplan. Nur
im gemeinsamen Gespräch kann effektiv die Leistung entsprechend der „Art des
Bedarfs“ unter Berücksichtigung der „örtlichen Verhältnissen“ (das kann
wiederum ein Problem darstellen) und unter Hinzuziehung der „eigenen Kräfte und
Mittel der Person“ bestimmt werden (vgl. § 9 Abs. 1 SGB XII).
Gleichzeitig soll den Wünschen des leistungsberechtigten
Menschen in Bezug auf die Gestaltung der Leistung nach Möglichkeit entsprochen
werden (Abs. 2 S. 1). Wenn diese Wünsche allerdings zu „unverhältnismäßigen
Mehrkosten“ führen, soll den Wünschen nicht entsprochen werden (Abs. 2 S. 3).
Daraus folgt, dass sich das Wirtschaftlichkeitsgebot nur auf die benötigte
Leistung im Vergleich zu einer gleichwertigen, anderen Leistung als Alternative
bezieht. Das Wirtschaftlichkeitsgebot bestimmt nicht, ob eine Leistung erbracht
werden muss, sondern es bestimmt darüber, welche von zwei oder mehreren
gleichwertigen Leistungen zum Zuge kommt.
Eine Förderschule wäre keine gleichwertige, andere
Leistung im Vergleich zu einer Regelschule, weil mit der Teilhabe am Leben in
der Gemeinschaft (d.h. andere Menschen aus dem unmittelbaren Sozialraum /
Nachbarschaft) ein zu beachtendes Bedürfnis vorhanden ist. Die Förderschule
könnte ein weit entferntes Institut sein, ohne Bezug zum eigenen
Lebensmittelpunkt.
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