Dienstag, 31. Juli 2018

Was ist für ein behindertes Kind eine angemessene Schulbildung? (Teil 2/2)


Ab hier folgt nun der zweite Teil zum Thema, was denn nun eine angemessene Schulbildung denn sei für ein behindertes Kind. Wie gesagt, begonnen hatte es damit, dass ein behindertes Kind die Chance hat auf einen Ersten Schulabschluss, wenn es lange genug eine Regelschule besuchen kann. Was sich dann daraus entwickelte, war ein Herausfinden von möglichen Leitlinien und den Grenzen im System der Eingliederungshilfe für diese „verlangsamten“ Kinder.

Gerade weil es in der Eingliederungshilfe-Verordnung so steht, könnte die Bewilligung von Hilfe-Leistungen tatsächlich befristet sein. Man kennt das von sogenannten „Mehrkostenvorbehalten“ aus anderen Regelungen im Sozialrecht. Was das aber genau bedeutet, muss nun herausgearbeitet werden mit einem Ausblick auf mögliche Veränderungen durch die UN-Kinderrechtskonvention, die ja schließlich im Grundgesetz verankert werden soll.



Den Rahmen und das Übliche bestimmen

Weil das Schulwesen zum Hoheitsrecht der Bundesländer gehört, kann jedes Bundesland für sich bestimmen, was genau gemeint ist mit diesen Begriffen. Wenn man in diesem „Rahmen“ bestimmte Schulformen ausschließt (z.B. das Gymnasium, weil es „den Anforderungen für die Aufnahme eines Hochschulstudiums und einer vergleichbaren Berufsausbildung“ entsprechen soll; § 44 Abs. 1 SchulG-SH), reduziert sich das „üblich erreichbare“ auf die anderen Schulformen. Da das Leistungsrecht von der „Erlangung einer allgemeinen Schulbildung“ spricht, kann effektiv damit auch nur die Erlangung eines Ersten Schulabschlusses (ESA = Hauptschulabschluss) gemeint sein.

Man könnte die Frage stellen, wie viele Schulbesuchsjahre „üblich“ wären, um einen solchen Schulabschluss zu erreichen. Mit Schulbesuchsjahren ist jedenfalls nicht eine Jahrgangsstufe gemeint, vielmehr will man mit diesem Begriff die Dauer beschreiben. Wenn als „üblich“ zum Beispiel nur 9, vielleicht höchstens 10 Schulbesuchsjahre festgelegt wären, würde jede Wiederholung einer Jahrgangsstufe eine Beendigung der Vollzeitschulpflicht noch vor dem Erreichen des ESA wahrscheinlicher machen. *)

Was jetzt nun „üblich“ ist, kann auf einen Vergleich mit allen Schülern basieren – ob behindert oder im gleichen Maße eingeschränkt, ob regional oder überregional, es spielt keine Rolle. Das behinderte Kind kann also nur so lange Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung erwarten, wie ein anderes „Durchschnitts“-Schulkind braucht, um einen ESA zu erlangen. 


Pädagogische Argumente könnten vom Jedermann-Recht auf Bildung abweichen

Die Feststellung über das „Übliche“ trifft nicht der Leistungsträger für die Eingliederungshilfe. Das regional zuständige Schulamt beurteilt, ob der Besuch zum Beispiel einer weiterführenden Schule eine angemessene Schulbildung ermöglicht. Eine solche Trennung der Zuständigkeiten ist eigentlich zu begrüßen. Pädagogische Argumente sollen ausschlaggebend sein und nicht Haushaltsvorgaben.

Man kennt aber Beispiele aus der (gar nicht so weit entfernten) Vergangenheit, wo man sich seitens der Schulleitungen gegen die Beschulung von Kindern mit besonderen Bedarfen gewehrt hatte. Seit kurzem steht im Bundesland NRW ein Papier über die „Eckpunkte zur Neuausrichtung der Inklusion“ in der Kritik. Unter anderem sollen Gymnasien ermächtigt werden, selbst zu entscheiden, ob zieldifferent unterrichtet wird. Und insgesamt soll die Zahl der Schulen, in denen ein Gemeinsames Lernen stattfindet, abgesenkt werden (vgl. dazu auch eine Stellungnahme des Bündnisses Gemeinsam Lernen e.V. – der Link dazu siehe unten). Es kann also gut sein, dass die pädagogischen Argumente sich plötzlich auf die Herstellung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft (mit einer pädagogischen Elite) richten und nicht mehr das allgemeine Recht auf Bildung und Teilhabe in den Fokus nehmen.

Im Falle eines „verlangsamten Kindes“, bei dem zwar in der Tat sehr verlangsamt aber dennoch Entwicklungsschritte zu beobachten sind, ist diese „übliche“ Zeit schon von Bedeutung. Beschränken sich die unterstützenden Maßnahmen nur auf die Vollzeitschulpflicht, ist ein „vorzeitiges“ Verlassen wahrscheinlich. Nicht mehr die mögliche Erlangung eines Schulabschlusses würde im Vordergrund stehen, sondern eine vorab festgelegte Anzahl Schulbesuchsjahre. Wenn diese Zeiten verbraucht sind, ist der weitere Schulbesuch nicht mehr angemessen (und wirtschaftlich nicht vertretbar – Mehrkostenvorbehalt).

In einem Urteil aus dem Jahr 2001 befand ein Verwaltungsgerichtshof (Bayern), dass das Erreichen von Lernzielen einer Jahrgangsstufe wesentlich ist (siehe Quelle unten). Es wurde weiter geprüft, ob dieses Erreichen nur mit Hilfe der außerschulischen Fördermaßnahme, d.h. die während der Schulzeit zu betreuende pädagogische Hilfskraft, möglich ist. Weil dies der Fall war, die regionale Förderschule ebenfalls eine angemessene Schulbildung ermöglichte und hierzu keine Gegenrede seitens der klagenden Leistungsberechtigten eingebracht wurde, befand das Gericht, dass der Nachrang der Sozialhilfe zu beachten wäre. Die Kostenübernahme durch den Sozialhilfe-Träger sei somit nicht mehr erforderlich. **)

Bedeutet das nun, dass die Lernziele eines Jahrgangs entscheidend sind?


Könnte die UN-Kinderrechtskonvention hier etwas anderes bewirken?

In gewisser Weise ist dies zu bejahen (beide Fragen). Nicht nur im schleswig-holsteinischen Schulgesetz in der Regelung über Gymnasien findet sich der Leistungsgedanke (vgl. § 44 Abs. 1 SchulG-SH), auch in der UN-Kinderrechtskonvention steht, dass der Zugang zu Hochschulen entsprechend der „Fähigkeiten“ geschehen soll (Art. 28 Abs. 1 c UN-KRK). Damit gemeint ist ein gewisser Reifegrad, was durchaus nachzuvollziehen ist.

Doch was sich nicht findet, ist so etwas wie eine „übliche“ Anzahl an Schulbesuchsjahren; weder in der UN-KRK, noch im Landesschulgesetz von Schleswig-Holstein. Man kann also sagen, dass die Lernziele eines Jahrgangs zwar schon entscheidend sind für ein weiteres Fortkommen, die Ermöglichung des Schulbesuchs bleibt dennoch ein rechtlicher Anspruch, welcher zu verwirklichen ist. Und dieses Recht auf Verwirklichung, dieser rechtliche Anspruch umfasst damit den Bezug von Leistungen bzw. Hilfen zur Erlangung des Rechts auf Bildung.

Die UN-KRK soll übrigens bald Teil des bundesdeutschen Grundgesetzes werden. Vielleicht muss der Bundesgesetzgeber diese üble „Üblichkeit“ in der EinglVO überarbeiten?


Ein neues Rechtsverständnis

Aus dem zuvor genannten Urteil kann man das alte Rechtsverständnis gut erkennen. Mit der bewilligten Hilfe sollte ein Nachteilsausgleich beim Erreichen der pädagogischen Lernziele geschafft werden. Weil aber ein Erreichen nicht möglich war, musste das behinderte Kind zur Förderschule wechseln.

Kinder, die „normalerweise“ eine Förderschule besuchen müssten, werden heutzutage in der Regelschule „zieldifferent“ unterrichtet (Subjekt-bezogen). Dieses angeordnete Abweichen vom (objektiven) Standard-Lernziel hilft ihnen teilzuhaben an einem Leben in der Gemeinschaft. Und genau dies entspricht dem neuen Rechtsverständnis. Es darf nicht passieren, dass das Jedermann-Recht auf Bildung und Teilhabe zu einer Abschottung von der übrigen Gemeinschaft führt. Insofern wäre ein Urteil, wie es noch in 2001 geschehen ist, heute nicht mehr erlaubt.

Allerdings wird das „üblich erreichbare“ als Vergleichsmaßstab nicht automatisch überflüssig. Wenn man diese Begriffe in Bezug setzt zum jeweiligen Klassenverband, bedeutet es weder ein vorzeitiges Verlassen-müssen noch ein dauerhaftes Sitzen-bleiben. Es kommt damit nicht mehr darauf an, wie eine Hilfe möglichst wirtschaftlich erbracht werden kann, sondern in welcher Situation sich die leistungsberechtigte Person befindet und welche Bedarfe vorhanden sind – man muss von Fall zu Fall entscheiden und dabei die individuellen Wünsche mitberücksichtigen.


CGS




Quellen:

§ 12 Eingliederungshilfe-Verordnung, Schulbildung

Eigener Beitrag vom 14.5.2018

Eigener Beitrag vom 28.7.2018

VGH Bayern, Az. 12 B 98.2022, Urteil vom 14.5.2001
Anspruch auf Kostenübernahme wegen Besuchs einer Regelschule

Zitat: „Aus der Systematik der schulrechtlichen Bestimmungen ergebe sich, dass ein Kind nur dann in die Regelschule aufgenommen werden könne, wenn es voraussichtlich das Klassenziel der jeweils in Frage kommenden Jahrgangsstufe dieser Schule erreichen könne. Die staatliche Schulaufsicht habe darüber zu entscheiden, ob das schulpflichtige Kind in eine allgemeine Schule aufgenommen werde und dort verbleibe oder ob es Unterricht und Förderung an einer Sonderschule erhalte.“ (Fettdruck von mir, Referenznummer in der Datenbank ist R/R1568)

Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V.
“Neuausrichtung der Inklusion” der Schulministerin stößt auf Widerstand
Pressemitteilung vom 6.7.2018

(letzter Aufruf am 27.7.2018)


*) =

In Schleswig-Holstein findet in der Gemeinschaftsschule ein sogenannter „binnendifferenzierter“ Unterricht statt (vgl. § 43 Abs. 1 S. 2 SchulG-SH). Den ESA können die Schüler mit der Versetzung in die zehnte Jahrgangsstufe oder durch Teilnahme an einer Prüfung in der neunten Jahrgangsstufe erlangen (Abs. 2). Doch darüber hinaus ist ab der Jahrgangsstufe acht der Besuch einer „flexiblen Übergangsphase“ möglich, so dass die Schüler in drei Jahren auf den ESA vorbereitet werden können (Abs. 3). Damit kann sich die Anzahl der Schulbesuchsjahre bis zum ESA ab der Grundschule auf 6 Jahre erweitern.

Für die Grundschulzeit hat das Bundesland Schleswig-Holstein eine Eingangsphase von zwei Jahren bestimmt, die aber je nach Lernentwicklung eines Schülers oder Schülerin auf ein Jahr verkürzt oder auf drei Jahre verlängert werden kann (vgl. § 41 Abs. 2 SchulG-SH). Wenn diese Besonderheit mit zu berücksichtigen wäre, ergibt sich eine neue „übliche“ Schulbesuchszeit von maximal 11 Jahren (d.h. 5 Jahre Grundschule + 6 Jahre Sekundarstufe 1).

Dagegen beträgt die Dauer der (Vollzeit-) Schulpflicht insgesamt nur 9 Jahre (vgl. § 20 Abs. 2 Ziff. 1 SchulG-SH).

Die Vollzeitschulpflicht beginnt in der Regel im Alter von 6 Jahren (vgl. § 22 Abs. 1 SchulG-SH). Mit Verlassen der allgemeinen Schule beginnt die Berufsschulpflicht (vgl. § 23 Abs. 1 SchulG-SH).


**) =

Leistungen richten sich nach den Besonderheiten des Einzelfalls. Es geht also darum, dass ein Nachteilsausgleich stattfindet, damit das grundgesetzlich geschützte Recht auch erlangt werden kann. Was gebraucht wird, muss gemeinsam besprochen werden, zum Beispiel in einem Hilfeplan-Gespräch (HPG), einer Gesamtplankonferenz oder einem Förderplan. Nur im gemeinsamen Gespräch kann effektiv die Leistung entsprechend der „Art des Bedarfs“ unter Berücksichtigung der „örtlichen Verhältnissen“ (das kann wiederum ein Problem darstellen) und unter Hinzuziehung der „eigenen Kräfte und Mittel der Person“ bestimmt werden (vgl. § 9 Abs. 1 SGB XII).

Gleichzeitig soll den Wünschen des leistungsberechtigten Menschen in Bezug auf die Gestaltung der Leistung nach Möglichkeit entsprochen werden (Abs. 2 S. 1). Wenn diese Wünsche allerdings zu „unverhältnismäßigen Mehrkosten“ führen, soll den Wünschen nicht entsprochen werden (Abs. 2 S. 3). Daraus folgt, dass sich das Wirtschaftlichkeitsgebot nur auf die benötigte Leistung im Vergleich zu einer gleichwertigen, anderen Leistung als Alternative bezieht. Das Wirtschaftlichkeitsgebot bestimmt nicht, ob eine Leistung erbracht werden muss, sondern es bestimmt darüber, welche von zwei oder mehreren gleichwertigen Leistungen zum Zuge kommt.

Eine Förderschule wäre keine gleichwertige, andere Leistung im Vergleich zu einer Regelschule, weil mit der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (d.h. andere Menschen aus dem unmittelbaren Sozialraum / Nachbarschaft) ein zu beachtendes Bedürfnis vorhanden ist. Die Förderschule könnte ein weit entferntes Institut sein, ohne Bezug zum eigenen Lebensmittelpunkt.




Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Empfehlen Sie ein//gegliedert weiter.

Wollen Sie Ihre Meinung sagen? Ihre Kritik interessiert mich. Vielleicht können Sie mir sogar eine neue Perspektive aufzeigen. Darüber würde ich mich freuen. Meine Email-Adresse finden Sie auf der Seite Über mich.

Was ist für ein behindertes Kind eine angemessene Schulbildung? – eingegliedert.blogspot.com