Das Problem hier
(mal wieder) ist das sehr komplexe Sozialrecht, in dem sich selbst
Leistungsträger nicht zurechtfinden und womöglich berechtigte Ansprüche nicht
zustande kommen lassen. Im vorliegenden Fall erhielt ein behinderter Mensch
Grundsicherungsleistungen, obwohl eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugestanden
hätte. Er musste über fast sieben Jahre lang einen anderen Lebensstandard
hinnehmen, weil man seitens des Landratsamts (als die örtlich zuständige Stelle
für Grundsicherungsleistungen) einer Beratungspflicht nicht nachgekommen war.
Diese Beratungspflicht, so der BGH, ist nicht auf die den „betreffenden
Sozialleistungsträger“ anzuwendende „Normen beschränkt“ – sie geht viel weiter
(vgl. Pressemitteilung vom 2.8.2018, S. 2).
Eigentlich ist
dieses Problem altbekannt.
Die (gar nicht
so) neue Rechtsprechung und ihre Folgen
Wer sich mit einem Hilfeersuchen an einen Leistungsträger
wendet, sollte darauf vertrauen dürfen, dass ihm eine richtige Auskunft erteilt
wird – selbst wenn die Antragsunterlagen noch unvollständig sind. Eine Behörde,
als „erstangegangener Leistungsträger“, soll darauf hinwirken, dass die Anträge
vollständig, klar und sachdienlich gestellt werden (vgl. § 16 Abs. 3 SGB I). Zeigt
sich dann bei der weiteren Bearbeitung ein Anspruch auf zusätzliche
Sozialleistungen, soll eine Aufklärung stattfinden (§ 13 SGB I) und eine
Beratung ermöglicht werden (§ 14 SGB I). Man kann das alles als eine
Bring-Schuld bezeichnen, die vom zuerst angegangenen Leistungsträger erfüllt
werden muss.
Dies geschah im jetzt entschiedenen Fall nicht, so dass
der leistungsberechtigte Mensch über Jahre nicht die Leistung erhielt, die ihm
tatsächlich zugestanden hätte. Woran es mangelte war, so der BGH in seiner
Pressemitteilung, die „verständnisvolle Förderung des Versicherten auch von
Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen…“ (S. 2).
Mit anderen Worten, die Sachbearbeitung vor Ort hätte sich dem
Leistungsberechtigten zuwenden und ihn auf die weiteren Möglichkeiten hinweisen
müssen; und zwar in verständlicher Form. Dass das nicht geschah, liegt
vielleicht an der manchmal nicht vorhandenen Kenntnis über diese Möglichkeiten;
in solchen Fällen müssen die Mitarbeiter geschult werden. Der
rentenversicherungsrechtliche Beratungsbedarf war nach Feststellung des BGH
allerdings „eindeutig erkennbar“. Demzufolge wurde anscheinend gröbst
fahrlässig eine gesetzliche Pflicht zulasten des Antragsstellers nicht erfüllt.
Das Gericht hob hervor, dass die „… sozialen Rechte
möglichst weitgehend verwirklicht werden“ müssen (§ 2 Abs. 2 SGB I) und ein
Leistungsträger verpflichtet ist „… darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte
die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig
erhält…“ (§ 17 Abs. 1 SGB I).
Weil es daran fehlte, stellte sich jetzt die Frage nach
der (Amts-) Haftung. Und hier traf der BGH ein wegweisendes Urteil in Bezug auf
Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung. Das Landgericht gab der Klage auf Zahlung
von 50.322,61 Euro nebst Zinsen statt, das Oberlandesgericht änderte das
erstinstanzliche Urteil später ab. Der BGH sah das ganz anders. Nunmehr muss ein anderer Senat am OLG diese
Frage neu entscheiden.
Die Amtspflichtverletzung ergibt sich aus dem
Zusammenspiel von Art. 34 GG und § 839 BGB. Gerade weil ein Beratungsbedarf nun
mal „eindeutig erkennbar“ war, hatte derjenige, welcher „in Ausübung eines ihm
anvertrauten öffentlichen Amtes … [die] obliegende Amtspflicht“ verletzt (S. 1).
Hinzu kommt auch noch, dass ein Rückgriff (Regress) seitens des Staates auf den
Sachbearbeiter möglich ist (S. 2). Aber um seinen Anspruch geltend machen zu
können, ist der „ordentliche Rechtsweg nicht ausgeschlossen“ (S. 3) – oder mit
anderen Worten: Der Geschädigte darf sich an ein Zivilgericht bzw. er muss sich
statt an ein Amtsgericht gleich an das Landgericht wenden. Von daher ging diese
Sache dann letztendlich nicht an das Bundessozialgericht.
Ein
Ping-Pong-Spiel
Diese Sache mit dem Hilfeersuchen an einen
Leistungsträger führt anscheinend immer wieder zu Problemen. Man kann doch nicht
erwarten, dass ein hilfesuchender Mensch sich im komplizierten Sozialrecht
auskennt. Vielmehr muss sogar erwartet werden, dass der Leistungsanspruch an
den falschen und somit „unzuständigen“ Leistungsträger gerichtet wird (vgl. beispielsweise
bei Leistungen zur Teilhabe in § 14 Abs. 1 SGB IX).
Damit es nicht wie in einem Ping-Pong-Spiel immer hin und
her geht, hat innerhalb von zwei Wochen eine Zuständigkeitsprüfung zu erfolgen.
Der Mensch mit seinem Hilfebedarf muss sich aber darauf verlassen können, dass diese
Prüfung richtig und ordnungsgemäß verläuft. Wenn nämlich der neue
Leistungsträger sich für unzuständig erklärt, kann die Verwirklichung von
sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit nicht geschehen (§ 1 Abs. 1 SGB
I). Was daraus folgen würde, wäre ein Verteilungskampf, der so nicht Grundlage
unserer Verfassung und unserer Gesellschaft ist (Art. 1, Art. 2 und
insbesondere Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG).
Wichtig ist, dass seitens des angegangenen
Leistungsträgers eine Feststellung über den Hilfebedarf erfolgt. Hierzu kann es
notwendig sein, die ursprünglichen zwei Wochen Frist noch einmal zu verlängern,
wenn ein Gutachten benötigt wird. Ist die Ursache der Behinderung geklärt, soll
das Hilfeersuchen an den Rehabilitationsträger (für Leistungen zur Teilhabe)
weitergeleitet werden, der die Leistung „ohne Rücksicht auf die Ursache“ zu
erbringen hat (§ 14 Abs. 1 S. 3 SGB IX). Dies bedeutet, dass jeglicher
Ermessensspielraum verschwindet und daraus nun ein Anspruch auf Leistung
entsteht. Und dann wiederum ist dieser Anspruch unverzüglich zu verwirklichen.
Es kann jedoch sein, dass ein solcher Anspruch mehrere
Leistungsträger betrifft. Hier sollte der Leistungsberechtigte schnell
reagieren, am besten gleich mit der eigentlichen Antragstellung, und die
Erbringung von sogenannten „Vorläufigen Leistungen“ verlangen (§ 43 SGB I),
damit überhaupt etwas geschieht.
Zuständig obwohl
unzuständig
Es kann passieren, dass der Leistungsträger sich zwar
zuständig sieht, aber ablehnt (siehe hierzu Medieninformation 19/14 zum BSG-Urteil
Az. B 3 KR 1/14 R). In diesem Fall hatte die Krankenkasse als erstangegangener
Leistungsträger die Prüfung der Zuständigkeit unterlassen. Man kann an dieser
Stelle schon vermuten, dass sich die Krankenkasse auch nicht wirklich mit dem
angemeldeten Hilfebedarf auseinandersetzte, sondern gleich die Ablehnung
verfolgte. Hätte sie sich weiteren Umständen auseinandergesetzt, hätte sie
feststellen müssen, dass die Pflegekasse zuständiger Leistungsträger wäre. Doch
weil sie es nicht tat und das Hilfeersuchen ablehnte auf der Grundlage ihrer
Rechtsvorschriften, konnte ein Nachteilsausgleich nicht erfolgen – konkret
hätte damit die benötigte Treppensteighilfe aus eigenen Mitteln beschafft
werden müssen.
Nach Ansicht des BSG trat die Krankenkasse an die Stelle der
Pflegekasse und hätte somit nach den Rechtsvorschriften der Sozialen
Pflegeversicherung entscheiden müssen. Der Anspruch auf Leistung ergab sich nämlich
aus § 40 Abs. 1 S. 1 SGB XI. Der Kläger war pflegebedürftig und seine besondere
Wohnsituation machte es erforderlich, dass er ein Hilfsmittel benötigte,
welches ihm eine „selbständigere Lebensführung“ ermöglichte (auch bekannt als
Pflegeerleichterung). Eine Abgrenzung, wie es sie im § 33 SGB V gibt, kann dagegen
nur dann erfolgen, wenn sich ein Doppelanspruch auftut und zwei Leistungsträger
für die gleiche Leistung zuständig wären.
Daraus folgt leider nun, dass ein Antragsteller bei jedem Bescheid
erst einmal prüfen muss, ob der Leistungsträger überhaupt eine
Zuständigkeitsprüfung (z.B. nach § 14 Abs. 1 SGB IX oder § 98 SGB XII)
pflichtgemäß unternommen hat und inwieweit eine Ursachenklärung bzw.
Feststellung über den vorliegenden Hilfebedarf in ausreichender und angemessener
Form passierte (z.B. nach § 9 SGB XII). Sind diese Prüfpunkte nicht erkennbar
bearbeitet worden, ergeben sich hieraus die Begründungen für das weitere Widerspruchsverfahren.
*)
CGS
Quellen:
BGH-Urteil vom 2.8.2018, Az. III ZR 466/16
Siehe hierzu auch den Beitrag der Sozialberatung Kiel, Autor Helge
Hildebrandt:
BGH: Sozialleistungsträger müssen umfassend über alle in Frage
kommenden Leistungsansprüche beraten
Versorgung eines pflegebedürftigen Rollstuhlfahrers mit einer
Treppensteighilfe gehört zum Leistungsbereich der Pflegeversicherung
Bundessozialgericht Medieninformation 19/14 zum Az. B 3 KR 1/14 R
(letzter Aufruf alle Links am 7.8.2018)
*) =
Und trotzdem können sich noch viele weitere Hindernisse ergeben.
Bitte lesen Sie die Hinweise
zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss
sowie die Datenschutzerklärung.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Empfehlen Sie ein//gegliedert weiter.
Wollen Sie mir Ihre Meinung sagen? Ihre Kritik
interessiert mich. Vielleicht können Sie mir sogar eine neue Perspektive
aufzeigen. Darüber würde ich mich freuen. Meine Email-Adresse finden Sie auf
der Seite Über
mich.
Zuständigkeitsprobleme? Das neue BGH-Urteil und ein altes
Problem – eingegliedert.blogspot.com