Dienstag, 7. August 2018

Zuständigkeitsprobleme? Das neue BGH-Urteil und ein altes Problem

Kürzlich entschied der Bundesgerichtshof (!), dass für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten gegenüber den Antragsstellern hinsichtlich der Rechtsvorschriften im Sozialrecht bestehen (Urteil vom 2.8.2018, Az. III ZR 466/16).

Das Problem hier (mal wieder) ist das sehr komplexe Sozialrecht, in dem sich selbst Leistungsträger nicht zurechtfinden und womöglich berechtigte Ansprüche nicht zustande kommen lassen. Im vorliegenden Fall erhielt ein behinderter Mensch Grundsicherungsleistungen, obwohl eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugestanden hätte. Er musste über fast sieben Jahre lang einen anderen Lebensstandard hinnehmen, weil man seitens des Landratsamts (als die örtlich zuständige Stelle für Grundsicherungsleistungen) einer Beratungspflicht nicht nachgekommen war. Diese Beratungspflicht, so der BGH, ist nicht auf die den „betreffenden Sozialleistungsträger“ anzuwendende „Normen beschränkt“ – sie geht viel weiter (vgl. Pressemitteilung vom 2.8.2018, S. 2). 

Eigentlich ist dieses Problem altbekannt.


Die (gar nicht so) neue Rechtsprechung und ihre Folgen

Wer sich mit einem Hilfeersuchen an einen Leistungsträger wendet, sollte darauf vertrauen dürfen, dass ihm eine richtige Auskunft erteilt wird – selbst wenn die Antragsunterlagen noch unvollständig sind. Eine Behörde, als „erstangegangener Leistungsträger“, soll darauf hinwirken, dass die Anträge vollständig, klar und sachdienlich gestellt werden (vgl. § 16 Abs. 3 SGB I). Zeigt sich dann bei der weiteren Bearbeitung ein Anspruch auf zusätzliche Sozialleistungen, soll eine Aufklärung stattfinden (§ 13 SGB I) und eine Beratung ermöglicht werden (§ 14 SGB I). Man kann das alles als eine Bring-Schuld bezeichnen, die vom zuerst angegangenen Leistungsträger erfüllt werden muss.

Dies geschah im jetzt entschiedenen Fall nicht, so dass der leistungsberechtigte Mensch über Jahre nicht die Leistung erhielt, die ihm tatsächlich zugestanden hätte. Woran es mangelte war, so der BGH in seiner Pressemitteilung, die „verständnisvolle Förderung des Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen…“ (S. 2). Mit anderen Worten, die Sachbearbeitung vor Ort hätte sich dem Leistungsberechtigten zuwenden und ihn auf die weiteren Möglichkeiten hinweisen müssen; und zwar in verständlicher Form. Dass das nicht geschah, liegt vielleicht an der manchmal nicht vorhandenen Kenntnis über diese Möglichkeiten; in solchen Fällen müssen die Mitarbeiter geschult werden. Der rentenversicherungsrechtliche Beratungsbedarf war nach Feststellung des BGH allerdings „eindeutig erkennbar“. Demzufolge wurde anscheinend gröbst fahrlässig eine gesetzliche Pflicht zulasten des Antragsstellers nicht erfüllt.

Das Gericht hob hervor, dass die „… sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden“ müssen (§ 2 Abs. 2 SGB I) und ein Leistungsträger verpflichtet ist „… darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält…“ (§ 17 Abs. 1 SGB I).

Weil es daran fehlte, stellte sich jetzt die Frage nach der (Amts-) Haftung. Und hier traf der BGH ein wegweisendes Urteil in Bezug auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung. Das Landgericht gab der Klage auf Zahlung von 50.322,61 Euro nebst Zinsen statt, das Oberlandesgericht änderte das erstinstanzliche Urteil später ab. Der BGH sah das ganz anders.  Nunmehr muss ein anderer Senat am OLG diese Frage neu entscheiden.  

Die Amtspflichtverletzung ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Art. 34 GG und § 839 BGB. Gerade weil ein Beratungsbedarf nun mal „eindeutig erkennbar“ war, hatte derjenige, welcher „in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes … [die] obliegende Amtspflicht“ verletzt (S. 1). Hinzu kommt auch noch, dass ein Rückgriff (Regress) seitens des Staates auf den Sachbearbeiter möglich ist (S. 2). Aber um seinen Anspruch geltend machen zu können, ist der „ordentliche Rechtsweg nicht ausgeschlossen“ (S. 3) – oder mit anderen Worten: Der Geschädigte darf sich an ein Zivilgericht bzw. er muss sich statt an ein Amtsgericht gleich an das Landgericht wenden. Von daher ging diese Sache dann letztendlich nicht an das Bundessozialgericht.


Ein Ping-Pong-Spiel

Diese Sache mit dem Hilfeersuchen an einen Leistungsträger führt anscheinend immer wieder zu Problemen. Man kann doch nicht erwarten, dass ein hilfesuchender Mensch sich im komplizierten Sozialrecht auskennt. Vielmehr muss sogar erwartet werden, dass der Leistungsanspruch an den falschen und somit „unzuständigen“ Leistungsträger gerichtet wird (vgl. beispielsweise bei Leistungen zur Teilhabe in § 14 Abs. 1 SGB IX).

Damit es nicht wie in einem Ping-Pong-Spiel immer hin und her geht, hat innerhalb von zwei Wochen eine Zuständigkeitsprüfung zu erfolgen. Der Mensch mit seinem Hilfebedarf muss sich aber darauf verlassen können, dass diese Prüfung richtig und ordnungsgemäß verläuft. Wenn nämlich der neue Leistungsträger sich für unzuständig erklärt, kann die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit nicht geschehen (§ 1 Abs. 1 SGB I). Was daraus folgen würde, wäre ein Verteilungskampf, der so nicht Grundlage unserer Verfassung und unserer Gesellschaft ist (Art. 1, Art. 2 und insbesondere Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG). 

Wichtig ist, dass seitens des angegangenen Leistungsträgers eine Feststellung über den Hilfebedarf erfolgt. Hierzu kann es notwendig sein, die ursprünglichen zwei Wochen Frist noch einmal zu verlängern, wenn ein Gutachten benötigt wird. Ist die Ursache der Behinderung geklärt, soll das Hilfeersuchen an den Rehabilitationsträger (für Leistungen zur Teilhabe) weitergeleitet werden, der die Leistung „ohne Rücksicht auf die Ursache“ zu erbringen hat (§ 14 Abs. 1 S. 3 SGB IX). Dies bedeutet, dass jeglicher Ermessensspielraum verschwindet und daraus nun ein Anspruch auf Leistung entsteht. Und dann wiederum ist dieser Anspruch unverzüglich zu verwirklichen.

Es kann jedoch sein, dass ein solcher Anspruch mehrere Leistungsträger betrifft. Hier sollte der Leistungsberechtigte schnell reagieren, am besten gleich mit der eigentlichen Antragstellung, und die Erbringung von sogenannten „Vorläufigen Leistungen“ verlangen (§ 43 SGB I), damit überhaupt etwas geschieht.  


Zuständig obwohl unzuständig

Es kann passieren, dass der Leistungsträger sich zwar zuständig sieht, aber ablehnt (siehe hierzu Medieninformation 19/14 zum BSG-Urteil Az. B 3 KR 1/14 R). In diesem Fall hatte die Krankenkasse als erstangegangener Leistungsträger die Prüfung der Zuständigkeit unterlassen. Man kann an dieser Stelle schon vermuten, dass sich die Krankenkasse auch nicht wirklich mit dem angemeldeten Hilfebedarf auseinandersetzte, sondern gleich die Ablehnung verfolgte. Hätte sie sich weiteren Umständen auseinandergesetzt, hätte sie feststellen müssen, dass die Pflegekasse zuständiger Leistungsträger wäre. Doch weil sie es nicht tat und das Hilfeersuchen ablehnte auf der Grundlage ihrer Rechtsvorschriften, konnte ein Nachteilsausgleich nicht erfolgen – konkret hätte damit die benötigte Treppensteighilfe aus eigenen Mitteln beschafft werden müssen.

Nach Ansicht des BSG trat die Krankenkasse an die Stelle der Pflegekasse und hätte somit nach den Rechtsvorschriften der Sozialen Pflegeversicherung entscheiden müssen. Der Anspruch auf Leistung ergab sich nämlich aus § 40 Abs. 1 S. 1 SGB XI. Der Kläger war pflegebedürftig und seine besondere Wohnsituation machte es erforderlich, dass er ein Hilfsmittel benötigte, welches ihm eine „selbständigere Lebensführung“ ermöglichte (auch bekannt als Pflegeerleichterung). Eine Abgrenzung, wie es sie im § 33 SGB V gibt, kann dagegen nur dann erfolgen, wenn sich ein Doppelanspruch auftut und zwei Leistungsträger für die gleiche Leistung zuständig wären.

Daraus folgt leider nun, dass ein Antragsteller bei jedem Bescheid erst einmal prüfen muss, ob der  Leistungsträger überhaupt eine Zuständigkeitsprüfung (z.B. nach § 14 Abs. 1 SGB IX oder § 98 SGB XII) pflichtgemäß unternommen hat und inwieweit eine Ursachenklärung bzw. Feststellung über den vorliegenden Hilfebedarf in ausreichender und angemessener Form passierte (z.B. nach § 9 SGB XII). Sind diese Prüfpunkte nicht erkennbar bearbeitet worden, ergeben sich hieraus die Begründungen für das weitere Widerspruchsverfahren. *)

CGS



Quellen:

BGH-Urteil vom 2.8.2018, Az. III ZR 466/16

Siehe hierzu auch den Beitrag der Sozialberatung Kiel, Autor Helge Hildebrandt:
BGH: Sozialleistungsträger müssen umfassend über alle in Frage kommenden Leistungsansprüche beraten


Versorgung eines pflegebedürftigen Rollstuhlfahrers mit einer Treppensteighilfe gehört zum Leistungsbereich der Pflegeversicherung
Bundessozialgericht Medieninformation 19/14 zum Az. B 3 KR 1/14 R
  
(letzter Aufruf alle Links am 7.8.2018)


*) =

Und trotzdem können sich noch viele weitere Hindernisse ergeben.




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