Freitag, 31. August 2018

Bürokratie, die sich lohnt


Diese Sache ist ein wenig sehr bürokratisch. Aber: Sie „lohnt“ sich!

In Schleswig-Holstein gibt es eine Regelung zur „Mehrfachbetreuung“ von behinderten Menschen, die in einer Wohneinrichtung leben (stationäre Einrichtung, klassische Behindertenhilfe). Es geht jetzt aber nicht um zusätzliches Personal, sondern um mögliche „doppelte“ Kosten, die mit der Verpflegung dieser Menschen entstehen können. Das klingt nach einem ordentlichen Maß an Bürokratie und Verwaltungsarbeit – und man darf sich schon fragen, ob sich das Ganze überhaupt lohnt.

Zuerst einmal ist es wichtig, dass man den Sinn des Ganzen hinterfragt. Warum gibt es überhaupt sowas wie eine Mehrfachbetreuung an einem anderen Ort? Und um wie viel Geld geht es?


Mehrfachbetreuung weil Zwei-Milieu-Prinzip

In manchen Vergütungsvereinbarungen findet sich seit einigen Jahren ein Passus über die Mehrfachbetreuung bei stationärer Unterbringung. Hintergrund ist der, dass in den betreffenden Einrichtungen die Tagesstruktur an einem anderen Ort stattfinden kann. Beispiele für solche Orte sind Beschäftigungs- und Arbeitsprojekte, eine Tagesstätte oder sogar eine Werkstatt für behinderte Menschen, ebenso bekannt als teilstationäre Einrichtungen. Ein Leistungsberechtigter besucht diese an den Werktagen und erhält dort eine Beschäftigung. Seine übrige Zeit verbringt er dann in der stationären Einrichtung – seinem Heim und privaten Rückzugsort (Zwei-Milieu-Prinzip).

Mit diesem Zwei-Milieu-Prinzip wird neben dem Leistungsbereich „Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ auch eine „Teilhabe am Arbeitsleben und Beschäftigung“ sichergestellt (vgl. auch § 4 SGB IX). Das bisher bekannte Kriterium eines „Mindestmaß an verwertbarer Arbeit“ darf dabei nicht mehr zur Geltung kommen. Es soll verhindert werden, dass damit ein Ausschluss der behinderten Menschen von einer Beschäftigung bzw. die Beschränkung auf Maßnahmen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft stattfindet. Das Anrecht auf Beschäftigung kann folgerichtig als ein Grundrecht verstanden werden.

Was nun die Mehrfachbetreuung angeht, hatte man sich in einer Sitzung der zuständigen Vertragskommission überlegt, dass eine Rückerstattung von möglicherweise doppelt kalkulierten Lebensmittelkosten erfolgen muss. Wenn Leistungserbringer sich tagsüber an einem anderen Ort aufhalten, erfolgt durch die stationäre Einrichtung keine Voll-Verpflegung. Es gibt zwar ein Frühstück und Abendessen, aber keine Mittagsverpflegung. Die aufgesuchte, teilstationäre Einrichtung, wie z.B. eine WfbM, wird dagegen die Mittagsverpflegung stellen, so dass dann eine Rückerstattung wegen Nicht-Leistung irgendwie erfolgen musste.

Damit diese Möglichkeit zur Kürzung der Vergütung nicht vergessen wird, musste der Passus in die Vergütungsvereinbarung eingearbeitet werden und sofort den Betrag ausweisen, der zu erstatten ist.


Berechnung einer Erstattung

Die Koordinierungsstelle soziale Hilfen der schleswig-holsteinischen Kreise (KOSOZ) trägt in die Vergütungsvereinbarung den Hinweis ein, dass nunmehr eine Erstattung in Höhe von „40 %“ des vereinbarten Lebensmittelsatzes erfolgen soll, wenn ein Bewohner dieser Einrichtung eine teilstationäre Einrichtung (wie z.B. die WfbM oder ein Arbeitsprojekt) aufsucht.

Was den Lebensmittelsatz anbelangte, gibt es nach wie vor keine einheitliche Größe. In vielen Fällen ist es ein historischer Wert, der einfach nur fortgeschrieben wurde; nur selten fand eine echte Neukalkulation statt. Da in früheren Jahren noch dazu ein „Selbstkosten“-Prinzip angewendet wurde, handelte es sich teilweise um echte Ausgaben auf der Grundlage von vergangenen Arbeitsweisen und Betreuungssituationen. Mittlerweile gibt es immerhin den Vergleich mit den Pauschalen in den Regelbedarfssätzen aus Hartz IV. Für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke sind im Monat 145,04 Euro vorgesehen, was einem Tagessatz von 4,77 Euro entsprechen würde. Rechnet man jetzt mit den 40 % weiter und unterstellt 210 Arbeitstage (ohne Urlaubs- und Krankheitsabwesenheiten), ergibt sich eine Erstattung von 400,68 Euro.

Der Betrag soll nach den Vorstellungen der KOSOZ von der jeweiligen stationären Einrichtung an die teilstationäre Einrichtung oder den Leistungsberechtigten selber gezahlt werden. Das Problem an dieser Stelle wäre, dass es mit den beiden keine Verträge über so etwas gibt. Wer die Erstattung geltend machen könnte, wäre allerdings der zuständige Leistungsträger. Doch um eine solche Erstattung wiederum geltend zu machen, braucht es eine Besuchsstatistik aus der teilstationären Einrichtung.

Ganz schön kompliziert. Es wäre einfacher, wenn der Lebensmittelsatz bereits gekürzt wäre um die potentiell nicht geleistete Mittagsverpflegung und dieser Passus dann schlichtweg gestrichen wird. Bei Vergütungsvereinbarungen über Einrichtungstypen A.I.2 (Position im Katalog der Einrichtungstypen in Schleswig-Holstein) wäre das grundsätzlich der Fall. Bei den Einrichtungstypen A.I.3 müsste der Passus jedoch bestehen bleiben, weil eine solche Konstellation denkbar ist. Wie häufig das nun wirklich der Fall ist, kann m.W. keiner beziffern.

Würde der Tagessatz einer Vollvergütung bei etwa 100 Euro liegen, ergibt sich immerhin eine Einsparung von 1 % bei einem Leistungsberechtigten. Braucht der Verwaltungsmensch für die Herstellung einer solchen Rückerstattung doch mal 2 bis 3 Stunden (ca. 110 Euro Personalkosten des Verwaltungsmenschen auf Vollkosten-Basis), wird es knapp, aber die Verwaltung hätte trotzdem Geld gespart.

Es „lohnt“.

CGS



PS:

Es ist natürlich so, dass noch viel mehr Zeit darauf verwandt wurde, sich so eine Regelung überhaupt auszudenken, zu formulieren und zu vereinbaren (auf VK- und Verhandler-Ebenen). Weil es aber bis in alle Ewigkeit so weitergeht, „lohnt“ es sich.


Und noch ein PS:

Als Leistungserbringer sollte man tunlichst darauf achten, was man als Vergütungsvereinbarung vorgesetzt bekommt. Wenn schon jetzt die Kalkulation einen reduzierten Bedarf berücksichtigt hatte, braucht es ein „Zusatzmodul“ für diejenigen Leistungsberechtigten, die z.B. aus Altersgründen aus der WfbM ausgeschieden sind.




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