Dienstag, 30. September 2014

Der Barbetrag zur persönlichen Verfügung

Bekanntermaßen wird der Lebensunterhalt von Menschen, die aus eigener Kraft heraus nicht mehr in der Lage sind, diesen zu bestreiten, aus Mitteln der Sozialhilfe gedeckt. Es wird auf der Basis eines regelhaften Bedarfes (= Regelbedarf) dann ein Betrag (= Regelsatz) gezahlt.

Die Sozialhilfe übernimmt den notwendigen Lebensunterhalt eines Leistungsberechtigten. Was diesen notwendigen Lebensunterhalt ausmacht, ist ständig in der Diskussion, denn es handelt sich um nicht weniger als den Maßstab für das Existenzminimum. Hierzu gehören „…insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens sowie Unterkunft und Heizung“ (§ 27 a Abs. 1 S. 1 SGB XII).

Unter dem Begriff „persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens“ versteht man „… eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft; dies gilt in besonderem Maß für Kinder und Jugendliche“ (§ 27 a Abs. 1 S. 2 SGB XII). Der Umfang soll dabei „vertretbar“ sein, wobei hier Leistungsberechtigter und Leistungsträger ganz unterschiedliche Ansichten haben werden.

Die vorgenannte Aufzählung schließt die Liste nicht ab. Je nach den persönlichen Lebensumständen können Besonderheiten vorkommen, welche dann ebenfalls angemessen zu berücksichtigen wären. Diese Lebensumstände können zum Beispiel das Bewohnen einer eigenen Wohnung sein wie auch das Leben in einer stationären Wohneinrichtung. Obwohl der Bedarf in beiden Umgebungen in etwa als gleichartig angenommen wird (!), zahlt im ersten Fall der Sozialhilfeträger einen Regelsatz aus, im zweiten Fall wird dagegen eine Sachleistung verschafft.

Nochmal: Während Leistungsberechtigte, die als Selbstversorger im eigenen Wohnraum leben, einen Anspruch nach § 27 a SGB XII geltend machen können, haben Leistungsberechtigte in stationären Einrichtungen einen Anspruch nach § 27 b SGB XII. Diese Differenzierung erscheint zuerst einmal nicht nachvollziehbar:

§ 27 a SGB XII
§ 27 b SGB XII
Vergleich
(1) Der für die Gewährleistung des Existenzminimums notwendige Lebensunterhalt umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens sowie Unterkunft und Heizung. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehört in vertretbarem Umfang eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft; dies gilt in besonderem Maß für Kinder und Jugendliche. Für Schülerinnen und Schüler umfasst der notwendige Lebensunterhalt auch die erforderlichen Hilfen für den Schulbesuch.

(1) Der notwendige Lebensunterhalt in Einrichtungen umfasst den darin erbrachten sowie in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt. Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspricht dem Umfang der Leistungen der Grundsicherung nach § 42 Nummer 1, 2 und 4.

(2) Der weitere notwendige Lebensunterhalt umfasst insbesondere Kleidung und einen angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung; § 31 Absatz 2 Satz 2 ist nicht anzuwenden. [betrifft: Einmalige Bedarf]  …
In § 27 b Abs. 1 wird lediglich auf den in der Einrichtung „erbrachten“ Lebensunterhalt verwiesen. Eine Aufzählung, wie sie in § 27 a Abs. 1 stattfindet, entfällt. Grund wird sein, dass die Sozialhilfeträger Leistungsvereinbarungen mit den Trägern der Wohneinrichtungen abschließen, in denen Art, Inhalt und Umfang der Leistungen beschrieben sind.

Die Herausstellung, dass ein weiterer notwendiger Lebensunterhalt darüber hinaus gewährt wird, erfolgt, weil diese Posten eben nicht Bestandteil der Leistungsvereinbarungen sind.

(2) Der gesamte notwendige Lebensunterhalt nach Absatz 1 mit Ausnahme der Bedarfe nach dem Zweiten bis Vierten Abschnitt ergibt den monatlichen Regelbedarf. Dieser ist in Regelbedarfsstufen unterteilt, die bei Kindern und Jugendlichen altersbedingte Unterschiede und bei erwachsenen Personen deren Anzahl im Haushalt sowie die Führung eines Haushalts berücksichtigen.


In Wohneinrichtungen gibt es keine weiteren Haushalte, was es erforderlich macht, hier differenzierte Regelsätze zur Auszahlung zu bringen. Von daher muss in § 27 b eine entsprechende Regelung fehlen.

(3) Zur Deckung der Regelbedarfe, die sich nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 ergeben, sind monatliche Regelsätze zu gewähren. Der Regelsatz stellt einen monatlichen Pauschalbetrag zur Bestreitung des Regelbedarfs dar, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen.

(2) … Leistungsberechtigte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, erhalten einen Barbetrag in Höhe von mindestens 27 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28. Für Leistungsberechtigte, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen die Höhe des Barbetrages fest.
Hier gibt es eine Unterscheidung in der Höhe des auszuzahlenden Regelsatzes bei Leistungsberechtigten, die in einer stationären Wohneinrichtung leben, aber keine Unterscheidung bei der eigenverantwortlichen Verwendung.

(4) Im Einzelfall wird der individuelle Bedarf abweichend vom Regelsatz festgelegt, wenn ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Besteht die Leistungsberechtigung für weniger als einen Monat, ist der Regelsatz anteilig zu zahlen. Sind Leistungsberechtigte in einer anderen Familie, insbesondere in einer Pflegefamilie, oder bei anderen Personen als bei ihren Eltern oder einem Elternteil untergebracht, so wird in der Regel der individuelle Bedarf abweichend von den Regelsätzen in Höhe der tatsächlichen Kosten der Unterbringung bemessen, sofern die Kosten einen angemessenen Umfang nicht übersteigen.

(2) … Der Barbetrag wird gemindert, soweit dessen bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für die Leistungsberechtigten nicht möglich ist.
Hier finden sich in beiden Vorschriften Möglichkeiten für Leistungsträger, wie der Barbetrag „abweichend vom Regelsatz“ (§ 27 a) oder „gemindert“ (§ 27 b) festgelegt werden kann.


Als Selbstversorger muss der Leistungsberechtigte es hinnehmen, dass der Regelbedarf durch die monatliche Zahlung des einheitlichen Regelsatzes pauschal abgegolten wird. Dabei ist die weitere Verwendung gem. § 27 a Abs. 3 S. 2 SGB XII nicht vorgeschrieben. Der Leistungsberechtigte kann „eigenverantwortlich entscheiden“, muss aber selbst darüber wachen, dass „unregelmäßig anfallende Bedarfe“ entsprechend berücksichtigt werden. Dem Leistungsberechtigten, welcher in einer stationären Wohneinrichtung lebt, fehlt diese Eigenständigkeit, denn er wird umfänglich versorgt.

Es ist natürlich denkbar, dass mittels eines Persönlichen Budgets nach § 57 SGB XII auch ein Leistungsberechtigter in stationären Einrichtungen die gleiche Eigenständigkeit erwirbt, doch dies ist eine eher seltene Konstellation in der Praxis.

Bei stationären Wohneinrichtungen schließen Sozialhilfeträger und Leistungserbringer eine Gesamtvereinbarung nach § 75 SGB XII ab, wonach die Versorgung der in der Wohneinrichtung lebenden Menschen gesichert ist. Dafür erhält der Leistungserbringer eine Vergütung. Allerdings deckt diese einen eher verallgemeinerten und nicht persönlichen Bedarf von Leistungsberechtigten ab. So kann es durchaus sein, dass ein Leistungserbringer eine Anspruchsgeltendmachung durch Bewohner abwehrt, weil die Leistungsvereinbarung hierüber keine Regelung enthält bzw. der Anspruch außerhalb des Grundbedarfes liegt. Außerdem enthält die Vergütung, die sich aus der Leistungsvereinbarung und den Kalkulationsgrundlagen ableiten lässt, nicht alle Bestandteile, die eine Bedarfsdeckung der Bedarfe ausmacht. Es gibt also durchaus Abgrenzungsprobleme, die wie folgt dargestellt werden können:

Teilbedarfe
(§ 27 a Abs. 1 SGB XII)
Vergütung
(§ 76 Abs. 2 SGB XII)
Leistungserbringer
(Wohneinrichtung)
Leistungsträger
Ernährung
Grundpauschale

Ja (ggf. sogar Diätnahrung)
vergütet
Kleidung


Nein
Ja, gem. § 27 b SGB XII
Körperpflege
Grundpauschale

Ja (nur Grundwaschmittel)
vergütet
Hausrat
Investitionsbetrag

Teilweise (z.B. Bett, Schrank)
Ja, gem. § 31 SGB XII
Haushaltsenergie
Grundpauschale

Ja
vergütet
Persönliche Bedürfnisse
Maßnahmenpauschale

Nur der Betreuungsanteil
Ja, gem. § 27 b SGB XII
Unterkunft und Heizung
Investitionsbetrag

Ja
vergütet

Diese Lücke wird durch einen Barbetrag geschlossen, den nur Leistungsberechtigte erhalten, die in einer stationären Wohneinrichtung leben. Der Träger der Sozialhilfe übernimmt somit und zahlt aus einen Betrag „insbesondere [für] Kleidung und einen angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung“ (§ 27 b Abs. 2 SGB XII). Auch hier wieder ist die Aufzählung nicht abschließend, was nahe legt, dass weitere, darüber hinausgehende persönliche Bedürfnisse zu einer Anhebung führen können.

Hintergrund für einen Barbetrag zur persönlichen Verfügung ist der, dass einerseits dem Leistungsberechtigten der Umgang mit Geld nahe gebracht werden soll, andererseits zu einem selbstbestimmten Leben auch die freie und uneingeschränkte Verfügung und Verwendung von „eigenem“ Geld ermöglicht werden soll. Erst mit der Verschaffung eines solchen Maßes an Verantwortung und Freiheit wird ein Leben in Würde ermöglicht, was ja auch ein geschütztes Grundrecht darstellt (§ 1 Abs. 1 SGB I i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Andererseits erfolgt die Grundbedarfsdeckung durch den Leistungserbringer, was die Höhe des auszuzahlenden Barbetrages deckelt.

Der Barbetrag wird in Höhe von „mindestens“ 27 % der Regelbedarfsstufe 1, die sich aus der Anlage zu § 28 SGB XII ergibt, gezahlt. Das bedeutet, dass unter Umständen auch ein höherer Betrag gezahlt werden kann, wie es jetzt z.B. das SG Regensburg in einem Beschluss vom 3.4.2014 (Az. S 16 AS 4/14 ER) ausgeführt hat. Wenn nämlich noch weitere notwendige Ausgaben anfallen und ein anderer Leistungsträger nicht vorrangig leisten muss, wird der Betrag entsprechend erhöht. Im zugrunde gelegten Fall ging es um Fahrtkosten zu einer ambulanten Zahnbehandlung. Für solche Fahrten kann dann auch eine Art Beförderungspauschale gewährt werden, mit der sämtliche Kosten in einem Monat ohne weiteren Nachweis durch den Leistungsberechtigten abgedeckt werden. Eine andere denkbare Konstellation könnte sich aus den Eigenanteilen für sicherheitstechnische Prüfungen an Elektro-Geräten (z.B. BGV A3) ergeben – versucht hat es bislang m.W. noch keiner.

Dennoch ist zu beachten, dass der Beschluss des SG Regensburg nicht den bisher „freien“ Anteil von 27 % in Frage stellt und zu einer Anhebung führt, sondern es wird vielmehr auf der Grundlage eines zusätzlichen Bedarfs der sogenannte „weitere notwendige Lebensunterhalt“ für den klagenden Leistungsberechtigten neu festgestellt. 

Der Barbetrag muss vom Leistungsberechtigten nicht verwendet werden für Leistungen, die vom Träger der stationären Wohneinrichtung erbracht werden müssen (siehe oben). Hierfür erhält der Leistungserbringer eine Vergütung nach § 76 Abs. 2 SGB XII. Gehören dann Marken-Cremes oder Seifen zum persönlichen Mehr-Bedarf oder dem vergüteten Grundbedarf?

CGS

Donnerstag, 25. September 2014

Schulnoten (für behinderte Kinder) an Regelschulen

Mit der Einführung des neuen Schulgesetzes in Schleswig-Holstein wird es keine Schulnoten mehr geben bis zum Erreichen der 6. Klasse. Dies ergibt sich allerdings nicht direkt aus dem Schulgesetz, sondern genauer aus der dazugehörigen Verordnung (vgl. § 4 Abs. 1 RegVO-SH i.V.m. § 16 SchulG-SH). Doch wie sieht es mit Schülern aus, die aufgrund eines Förderschwerpunktes inklusiv beschult werden? Bisher scheinen diese Schüler sozusagen „mitzulaufen“ im Klassenverband; sie nehmen am Unterricht teil oder werden zeitweise sonderpädagogisch nach einem eigenen Lehrplan unterrichtet.

Ich bin kein Pädagoge, doch ich versuche mich auch diesem Thema soweit es geht zu nähern, weil Bildung und Berufsausbildung die fundamentalen Bausteine darstellen für ein inklusives Leben in dieser Gemeinschaft. Ohne Chancengleichheit können wir nicht von einer wahrhaft freien Gesellschaft sprechen. Die Landesregierung in Schleswig-Holstein hat sich zur inklusiven Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung an Regelschulen (d.h. Grund- und weiterführenden Schulen) bekannt, und nun teste ich anhand der vorhandenen Regelungen, inwieweit dieses Bekenntnis umgesetzt werden kann.

Wenn Schüler an einer Regionalschule (d.h. nach Abschluss der Grundschulzeit) unterrichtet werden, erhalten Sie ab der 6. Klasse ein Notenzeugnis. Noten beziehen sich in der Regel auf einen Leistungsstand, der mit einem festgelegten Leistungsstandard verglichen wird. Ist die Wiedergabe des Leistungsstandes nicht identisch mit dem Leistungsstandard, dann erfolgt die Benotung innerhalb des jeweiligen Notensystems mit einer Note beispielsweise anders als „1“ oder „sehr gut“ (vgl. auch Artikel hierzu in der Wikipedia, Stichwort „Schulnote“). Das zu prüfende Wissen ist einheitlich definiert, und wer in der Prüfung die Beherrschung dieses Wissens demonstriert, hat bestanden.

Doch dies sind nicht die Kriterien, die sich in der Verordnung wiederfinden:

-          Der Aufstieg in die Jahrgangsstufe 7 erfolgt durch „Versetzungsbeschluss der Klassenkonferenz“ auf der Grundlage ihres Urteils zur „Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz der Schülerin oder des Schülers“ (vgl. §§ 3 Abs. 2 und 4 Abs. 2 RegVO-SH).

-          Der Aufstieg in die Jahrgangsstufen 8 und 9 erfolgt „ohne Versetzungsbeschluss, sofern nicht die Klassenkonferenz den Aufstieg mit einem Vorbehalt … verbindet“. Die Klassenkonferenz muss dabei „zu der Auffassung [gelangen], dass [die Schülerin oder der Schüler] in der folgenden Jahrgangsstufe nicht erfolgreich mitarbeiten kann.“ Nicht erfolgreich mitarbeiten bedeutet, dass einer erfolgreichen Mitarbeit „erhebliche fachliche Mängel“ entgegenstehen müssen (vgl. § 4 Abs. 3 und Abs. 4 RegVO-SH).

-          Der Aufstieg in die Jahrgangsstufe 10 passiert wieder durch Versetzungsbeschluss (vgl. § 4 Abs. 7 RegVO-SH).

Beim Übergang von der 6. zur 7. Klasse wird ein Versetzungsbeschluss benötigt, beim Aufstieg in die 8./9. Klasse ist dies nicht notwendig. Bei einem Versetzungsbeschluss ist das Vorliegen von bestimmten Eignungen entscheidend (d.h. es muss etwas beobachtet worden sein), im anderen Fall liegt die Fachlichkeit nicht vor (d.h. es ist etwas nicht beobachtbar). Hin zur 7. Klasse werden die an die Person gebundenen Faktoren Sozial- und Selbstkompetenz abgefragt, für die Aufstiege zur 8./9. Klasse kommt es darauf nicht an.

Sach- und Methodenkompetenzen werden benötigt, um Inhalte bzw. fachbezogenes Wissen anzueignen, auszuwerten und für sich nutzbar zu machen. Sie sind die Fundamente, auf denen aufgesetzt und weitergearbeitet werden kann. Doch fachliches Wissen selbst wird erst mit der 7./8. Klasse benötigt, da am Ende der 9. Klasse der „Erste allgemeinbildende Schulabschluss“ steht (vgl. § 5 Abs. 2 RegVO-SH). Fachliches Wissen kann sicherlich im Wege eines reinen Auswendiglernens erworben werden, doch wirklich Anwendbares Wissen entsteht, wenn die konzeptionellen Grundlagen vorhanden und abrufbar sind.

Sozial- und Selbstkompetenzen sind dagegen Faktoren, die in der Person des Schülers an sich liegen. Man könnte sie auch mit „Reife“ ein wenig altertümlich anmutend aber dennoch treffend bezeichnen.

Doch wie sieht es mit Schülern aus, die mit einer Lern- oder geistigen Behinderung leben?

Fachliches Wissen erwerben Schüler mit einer Lern- oder geistigen Behinderung sehr mühsam und zeitintensiv. Was als Reife angesehen wird, benötigt häufig bei geistig behinderten Menschen noch viel mehr Zeit. Daher werden sie auch „zieldifferent“ unterrichtet, wobei sich eine entsprechende Regelung in der Verordnung (oder das Gegenteil „zielgleich“) so nicht wiederfinden lässt.

Doch Zeit ist nicht unendlich vorhanden. Die Verordnung regelt natürlich auch die Entlassung aus der Schule. Nach § 6 RegVO-SH wird entlassen, wer „zweimal erfolglos an der Prüfung zum Erwerb des Ersten allgemeinbildenden Schulabschlusses teilgenommen hat“ oder „weder in die Jahrgangsstufe 10 versetzt wird noch nach § 5 Abs. 4 aufsteigt“, d.h. ein Versetzungsbeschluss mangels fachlicher Leistung nicht möglich ist. Von daher wird auch ein Mensch mit Behinderung aus der Schule entlassen, wenn die Kompetenzen oder Leistungen nicht festgestellt worden sind (das heißt nicht, dass nicht zwischenzeitlich Fördermaßnahmen versucht wurden).

Problematisch erscheint mir die Handhabung bei der „zieldifferenten“ Leistungsbeurteilung, da man „grundsätzlich“ eine Benotung der Leistung und Entwicklung auf dem Zeugnis von behinderten Schülern ablehnt und stattdessen immer auf einen Förderplan / Entwicklungsbericht verweist. Dies geschieht, da auf dem stark formalisierten Zeugnis kein Raum sei, auf die Besonderheiten einzugehen. So wird der Förderplan zu einem Berichtszeugnis, selbst wenn die geforderten Kompetenzen und das fachliche Wissen teilweise vorhanden sind. Es wäre angemessener, wenn die beobachteten Kompetenzen und das abrufbare fachliche Wissen in den Fächern, in denen es vorhanden ist, auch benotet werden. Denn dann würde der Förderplan / Entwicklungsbericht lediglich die Bereiche erläutern, in denen „zieldifferent“ bewertet wurde.

Denkbar wäre auch ein neuer Benotungsansatz, der eben nicht ausschließlich einem objektivierten Maßstab folgt; ich schreibe bewusst „objektiviert“, da Wissen nicht notwendigerweise „objektiv“ ist. Als ein anderer Benotungsansatz wären zum Beispiel der Interpersonelle Vergleich wie auch der Intrapersonelle (Entwicklungs-) Vergleich. Im ersten Fall benotet man die Leistung im Vergleich zu einer Gruppe von Schülern (z.B. die Schüler der eigenen Klasse), im zweiten Fall wird die persönliche Entwicklung bzw. die Lernentwicklung, wie auf einer Lernstraße, verglichen. Durch solche Benotungen erhält auch ein behinderter Mensch das Feedback von Leistungsfähigkeit und schulischem Erfolg (in vielen anderen wissenschaftlichen Studien wurde bewiesen, dass mit solchen Maßnahmen tatsächlich ein Lernerfolg generiert werden kann). Leider fehlt es aber an solchen Instrumenten.

Wenn die Zukunft darin besteht, eine inklusive Gesellschaft zu formen und Menschen mit Handicap aus dem Fürsorge-System herauszuführen in ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben, dann müssen ihnen auch Abschlüsse und Berechtigungen erteilt werden, mit denen sie diesen Schritt gehen können. Solange Abschlüsse und Berechtigungen verweigert werden, hat die Gesellschaft die Pflicht, diese Menschen in einem Fürsorge-System zu betreuen. Die Kosten dafür trägt die Sozialhilfe, und die wird aus fortwährend steigenden Steuern getragen. Von daher sollte keine Investition gescheut werden, die frühzeitig unterstützend und fördernd einwirkt. Dann passiert, was einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleicht: Der Mensch übernimmt für sich Verantwortung und wird ein aktiv teilhabendes Mitglieder der Gesellschaft.

CGS



Quelle:




Montag, 22. September 2014

Schulbegleitung in Schleswig-Holstein: Der Ressourcenvorbehalt!

In meinem letzten Beitrag kam ich zu folgenden Ergebnissen:

1.       Die Schule hatte eine Beschulung des behinderten Kindes für möglich erklärt. Ein über die schulischen Ressourcen hinausgehender Mitteleinsatz war nicht erforderlich.

2.       Die Fachbehörde erkannte darauf hin, dass ein konkreter Bedarf nicht vorlag und lehnte soziale Leistungen pflichtgemäß – sie hätte auch dann ablehnen müssen, wenn vorläufige Leistungen genehmigt worden wären.

3.       Die Wahrnehmung der Eltern, dass ein ungedeckter Hilfebedarf vorliegt, und die Feststellung der Fachbehörde, dass dieser Hilfebedarf mit ausreichenden Mitteln abgedeckt wird, divergieren erheblich voneinander (eine solche Divergenz kennt man in der Psychologie auf der Ebene der einzelnen Person als Selbst- und Fremdwahrnehmungsdivergenz).

Nun gibt es einen Nachfolgeartikel in der Zeitung (Quellenverweis am Ende dieses Beitrags). Bemerkenswert an diesem Artikel ist der Schlussabsatz. Dort sagt (die zuständige?) Schulrätin:

„ …, dass noch nicht an jeder Wunschschule von Eltern mit gehandicapten Kindern genügend Förderangebote vorhanden seien. ‚Aber wir können nur die Ressourcen verteilen, die wir haben‘.“ (Kieler Nachrichten vom 1.9.2014, „Ein „Einzelfall“ schlägt hohe Wellen“, Jürgen Küppers)

Hier zeigt sich ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, denn einerseits soll inklusive Bildung ermöglicht werden, aber nur wenn andererseits organisatorische, personelle und sächliche Möglichkeiten es erlauben. Was sich in der Aussage der Schulrätin so anhört, als ob die Ressourcen noch geschaffen werden müssen, und so etwas braucht bekanntlich Zeit, ist im Schulgesetz von Schleswig-Holstein (gültig ab 31. Juli 2014) gesetzlich sogar abgesichert.

§ 4 SchulG-SH, Pädagogische Ziele

(13) Schülerinnen und Schüler mit Behinderung sind besonders zu unterstützen. Das Ziel einer inklusiven Beschulung steht dabei im Vordergrund.

§ 5 SchulG-SH, Formen des Unterrichts

(2) Schülerinnen und Schüler sollen unabhängig von dem Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gemeinsam unterrichtet werden, soweit es die organisatorischen, personellen und sächlichen Möglichkeiten erlauben und es der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf entspricht (gemeinsamer Unterricht).

Was passiert also, wenn die organisatorische, personelle und sächliche Ausstattung an der Schule es nicht erlaubt? Dürfen Schulen dann Schülern mit Behinderung den Zugang verweigern? Sind Schulen überhaupt verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um z.B. für Barrierefreiheit zu sorgen? Wie stellt man einen Mangel an Ressourcen überhaupt fest?

Nach dem Willen der Landesregierung sollen im kommenden Jahr „schulische Assistenten“ eingestellt werden. Dann wären zumindest auf dem Papier weitere personelle Ressourcen vorhanden. Inwieweit diese Stellen qualitativ und quantitativ ausreichen, kann derzeit niemand sagen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein e.V. stellte jedenfalls am 28.8.2014 in einer Pressemitteilung ernüchternd fest: „Die Einführung einer Schulischen Assistenz ist grundsätzlich zu begrüßen und stellt einen Fortschritt dar. Die geplanten 314 schulischen Assistenzstellen reichen allerdings bei weitem nicht aus. Einige Grundschulen in Schleswig-Holstein werden keine Schulassistenz erhalten“ (Quellenangabe siehe weiter unten). Was mit diesen 314 Stellen gemeint ist und welche Qualifikationen diese mitbringen, muss man leider noch abwarten (vgl. auch meinen letzten Beitrag vom 8.9.2014). Es handelt sich in jedem Fall erst einmal um eine personelle Aufrüstung, welche voll und ganz der Prävention dient. Hier wird gehandelt, um einer möglichen Leistungsverschlechterung oder sonstigen Beeinträchtigung bei Schülern mit Lernschwierigkeiten zu begegnen.

Wenn aber dennoch ein Mangel festgestellt wird, dann waren die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend und schon gar nicht präventiv. Bei Kindern mit einer seelischen oder geistigen Behinderung wird vermutlich die Feststellung einer Fehlentwicklung sehr spät, wenn nicht sogar zu spät erfolgen. Darum stellt sich die Frage, ob das Recht auf Erhalt von Leistungen der Eingliederungshilfe weiterhin bestehen bleibt (vgl. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Zwar sind die Besonderheiten des Einzelfalls, insbesondere Art und Schwere der (auch drohenden) Behinderung maßgeblich, dennoch wird durch den Einsatz von schulischen Assistenten das Recht auf Erhalt von Eingliederungshilfe m.E. nicht gemindert.

Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es ebenfalls, Hilfen für eine angemessene Schulbildung zu leisten.

§ 12 Eingliederungshilfe-Verordnung, Schulbildung

Die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch umfaßt auch

1.
heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern,

2.
Maßnahmen der Schulbildung zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen eine im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbare Bildung zu ermöglichen,

3.
Hilfe zum Besuch einer Realschule, eines Gymnasiums, einer Fachoberschule oder einer Ausbildungsstätte, deren Ausbildungsabschluß dem einer der oben genannten Schulen gleichgestellt ist, oder, soweit im Einzelfalle der Besuch einer solchen Schule oder Ausbildungsstätte nicht zumutbar ist, sonstige Hilfe zur Vermittlung einer entsprechenden Schulbildung; die Hilfe wird nur gewährt, wenn nach den Fähigkeiten und den Leistungen des behinderten Menschen zu erwarten ist, daß er das Bildungsziel erreichen wird.

Die Rechtsstellung des Hilfeberechtigten gegenüber dem Sozialhilfeträger bleibt somit unangetastet. Zwar muss damit gerechnet werden, dass eine Schulbegleitung nicht mehr großzügig in dem Umfang gewährt wird, wie es in früheren Zeiten üblich war. Und auch die Aufgaben werden deutlicher konkretisiert, so dass sich Überschneidungen in den Kernbereich der pädagogischen Arbeit nicht ergeben, dennoch sollte eine Leistungsgewährung möglich sein; sie muss nur konkret auf den tatsächlichen Hilfebedarf abgestellt werden und das erfordert eine gründliche Vorbereitung, wenn nicht sogar sozialrechtliche-sozialpädagogische Beratung (ich will hier keine Beratungsleistung verkaufen, aber schon an diesem Beispiel zeigt sich, warum viele Betroffenen-Verbände auf einen Rechtsanspruch auf Beratung im neuen Bundesteilhabegesetz drängen).

Wie sieht also dieser Hilfebedarf aus? – Immerhin hat die Schule mehr Personal zur Verfügung!

In der Praxis wird die Schule Eltern von Kindern mit Behinderung wahrscheinlich ungenügend unterstützen – ein „Kann-Nicht“ seitens der Schule wäre ja ein Eingeständnis von Versagen. Darüber hinaus muss sie als öffentliche Einrichtung, wie auch die Lehrkräfte, sich ohnehin neutral verhalten. Das heißt, sie muss so tun, als ob mit den neuen schulischen Assistenten eine Verbesserung eingetreten ist und außerdem können gem. § 5 Abs. 2 SchulG-SH nur die vorhandenen Ressourcen eingesetzt werden. Doch ob damit bezogen auf das behinderte Kind eine wirkliche Bedarfsdeckung erfolgte, wäre zu untersuchen. Und dazu muss auf den Schulalltag geschaut werden, an welchen Stellen Unterstützungsleistungen nötig sind, damit ein Schulbesuch bzw. inklusive Bildung (§ 4 Abs. 13 SchulG-SH) ermöglicht wird. Erst wenn sich hier die Lücken im System offenbaren, können Anträge gestellt werden.

Beispiel: Klassenfahrt

-        Die Eingliederungshilfe übernimmt die Kosten einer Integrationsassistenz für die Dauer der Klassenfahrt. Damit sind aber nicht gemeint die Reisekosten und Verpflegung der Assistenz. Nach Ansicht des Sozialhilfeträgers liegt die Verantwortlichkeit für diese Kosten bei demjenigen, der den Ort der Schulveranstaltung bestimmt hat – d.h. der Schule.
-        Die Integrationsassistenz ist nur für das behinderte Kind zuständig. Sie darf keine Leistungen für andere Kinder erbringen und welche in den Kernbereich der pädagogischen Arbeit fallen.
-        Die Schule weist darauf hin, dass es sich um eine schulische Pflichtveranstaltung handelt. Aus diesem Grund ist es erforderlich, dass eine Integrationsassistenz gestellt wird.

Beispiel: Schuhe An- und Ausziehen vor dem mit Teppich ausgelegten Klassenraum

-        Die Eingliederungshilfe übernimmt nicht die Kosten für eine Hilfe, da die Schule diese Barriere abschaffen muss, um eine inklusive Beschulung zu ermöglichen. Zudem liegt die Entscheidung zur Schaffung dieses Hindernisses im Machtbereich der Schule.
-        Einen Klassenraum mit Teppich auszulegen, ist nicht erforderlich.

Für einen Laien sind diese Abgrenzungsprobleme schon nicht mehr nachvollziehbar. Aus diesem Grund wäre eine unabhängige sozialrechtliche-sozialpädagogische Beratung wünschenswert.

Zum Glück stehen die Leistungsberechtigten nicht alleine vor dem Problem. Sozialhilfeträger müssen genau erklären, wo ihre Leistungspflicht endet und bei wem diese beginnt – zur Not müssen dann mehrere Anträge gestellt und der alte Antrag mit Widerspruch offen gehalten werden. Leider bindet eine solche Bürokratie sehr viel Arbeitskraft, von daher wäre ein übergreifendes Fallmanagement ebenfalls wünschenswert.

Bisher ist mir noch kein Fall bekannt, in der eine Schule ernsthaft mit dem Ressourcenvorbehalt aus § 5 Abs. 2 SchulG-SH argumentiert hat. Es wäre – nun zu guter Letzt – wünschenswert, wenn Schulen sich offen an die Seite von Leistungsberechtigten und ihren Eltern stellen und klar stellen, dass ihnen die Ressourcen fehlen. Dann soll mal ein Sozialhilfeträger kommen und ablehnen.

CGS


+++ Ergänzung vom 22.9.2014 +++

Es gibt noch eine Ergänzung zu machen, die mir leider erst jetzt aufgefallen ist und die zeigt, dass sich Sozialhilfeträger auch irren können!

Zum Beispiel: Klassenfahrt.

Der Sozialhilfeträger lehnte die Reisekosten und Verpflegungsaufwendungen ab, da die Verantwortlichkeit demjenigen obliegt, der den Ort der Schulveranstaltung bestimmt hat. Doch hierzu gibt es eine gesetzliche Regelung, welche dieser Auffassung widerspricht.

§ 22 Eingliederungshilfe-Verordnung, Kosten der Begleitpersonen

Erfordern die Maßnahmen der Eingliederungshilfe die Begleitung des behinderten Menschen, so gehören zu seinem Bedarf auch

1.   die notwendigen Fahrtkosten und die sonstigen mit der Fahrt verbundenen notwendigen Auslagen der Begleitperson,
2.   weitere Kosten der Begleitperson, soweit sie nach den Besonderheiten des Einzelfalles notwendig sind.
Nun könnte der Sozialhilfeträger argumentieren, dass die Maßnahme vor Ort von einem anderen Dienst erbracht werden kann. Die Begleitung während der An- und Abreise könnte als nicht erforderlich betrachtet werden.

Eine solche Sichtweise ist im Prinzip richtig, wenn man von einer Austauschbarkeit der Leistung ausgehen würde. Bei Sachleistungen wäre dies in der Regel der Fall. Doch bei einer Dienstleistung, wie im Falle der Integrationsassistenz, gibt es immer noch eine persönliche Bindung zwischen Klient und Assistenz, so dass sich hieraus schon eine Notwendigkeit zur persönlichen Begleitung ableiten ließe; allerdings kommt es wie immer auf den Einzelfall an.

§ 20 Eingliederungshilfe-Verordnung, Anleitung von Betreuungspersonen

Bedarf ein behinderter Mensch wegen der Schwere der Behinderung in erheblichem Umfange der Betreuung, so gehört zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe auch, Personen, denen die Betreuung obliegt, mit den durch Art und Schwere der Behinderung bedingten Besonderheiten der Betreuung vertraut zu machen.

Wie man sieht, es muss nicht unbedingt billiger werden, wenn der Einzelfall es erforderlich macht.


CGS




Quelle:



Das neue Schulgesetz wurde zum Zeitpunkt dieses Beitrags noch nicht in der Juris-Datenbank aktualisiert, so dass hier hilfsweise auf die Nichtamtliche Bekanntmachung verlinkt wurde.



Montag, 8. September 2014

Schulbegleitung in Schleswig-Holstein: Die Schulischen Assistenten im Konzept des Bildungsministeriums

In der Medien-Information vom 27. August 2014 des schleswig-holsteinischen Bildungsministeriums wird das Konzept „Schleswig-Holsteins Weg zur inklusiven Schule“ beschrieben. Da in einer demnächst stattfindenden Diskussionsrunde weitere Details und inhaltliche Erläuterungen bekannt werden, mich aber eigentlich nur der Punkt „Zukunft der Integrationsassistenz / Schulbegleitung“ interessiert, werden die zehn Punkte mit Ausnahme der Ziffer 1 vernachlässigt.

Unter Ziffer 1 wird ein Betrag von 13,2 Mio. EUR jährlich ab 2015 für die Ausstattung mit rd. 314 schulischen Assistenzstellen an den Grundschulen des Landes in Aussicht gestellt. Was das bedeutet, sollte klarer werden, wenn man diese Zahlen in Beziehung zueinander und zu anderen Daten setzt.

Zuerst einmal sind 13,2 Mio. EUR ein großer Geldbetrag, wie auch 314 (Vollzeit-) Stellen, die geschaffen werden sollen – pro Stelle sind das 42 TEUR im Jahr.

Zum Vergleich:

Eine FSJ-Kraft kostet ca. 9 TEUR im Jahr bei i.d.R. 39 Wochenstunden Arbeitszeit.

Eine Vollzeit-Nichtfachkraft im sozialen Dienst (S3 TVÖD) kostet im dritten Jahr 35 TEUR inkl. 20 % SV-Anteil.

Eine Vollzeit-Fachkraft im sozialen Dienst (S8 TVÖD) kostet im dritten Jahr rd. 42 TEUR inkl. 20 % SV-Anteil.

Den 314 schulischen Assistenten standen nach Angaben des Bildungsministeriums für das Schuljahr 2012/2013 insgesamt 393 öffentliche Grundschulen gegenüber. Von daher ist es zwar richtig, wenn man feststellen muss, dass nicht jede Grundschule eine zusätzliche Vollzeit-Assistentenstelle bekommt, sehr wahrscheinlich wird es aber weit mehr Teilzeitkräfte geben.

An den 393 Grundschulen wurden 100.000 Schüler unterrichtet. Bei 20 Schülern pro Klasse hätte man 5.000 Klassen, bei 25 Schülern noch 4.000 Klassen. Jede Assistenzstelle müsste im Schnitt 13 bis 16 Klassen betreuen, was schon mal zeigt, dass man nicht mit 314 Personen rechnen kann. Sehr wahrscheinlich wird jede Assistenz nur in wenigen Klassen eingesetzt werden.

Das Schuljahr hat rd. 41 Unterrichtswochen, wobei je nach Bundesland ein paar Tage weniger bedingt durch weitere Feiertage zusammenkommen können. Wenn aber pro Unterrichtswoche 20 Unterrichtsstunden angesetzt werden, ergibt sich ein Zeitkontingent von 820 Stunden pro Assistenzstelle und 257.480 Stunden für alle Assistenzstellen. Bezogen auf den Mitteleinsatz von 13,2 Mio. EUR ergeben sich somit Kosten von 51 EUR pro Stunde.

Was hier „vorbehaltlich der Zustimmung des Landtags“ in den Haushalt geplant wird, ist bezogen auf die geplanten Stellen schon nicht wenig. Man könnte sich über so viel Qualifizierungsinitiative freuen, wenn man nicht das berühmte „Haar in der Suppe“ vermuten würde. Vom Zustimmungsvorbehalt einmal abgesehen, heißt es weiter: „Mittelfristig ist vorgesehen, die übrigen Schularten in gleicher Weise zu unterstützen.“ Bedeutet das nun, dass noch weitere Assistenzstellen hinzukommen? Das wäre in der Tat ein revolutionärer Ansatz. Oder werden die 314 Stellen dann umverteilt auf alle Grundschularten?

Dass das (meerumschlungene) Land Schleswig-Holstein bald wieder in Geld „schwimmen“ kann, drängt sich nach Bekanntwerden des Finanzsaldos für die kommenden Jahre bis 2024 auf. Während die Ausgaben noch mit 289 und 99 Mio. EUR für die Jahre 2014 und 2015 über den Einnahmen liegen, wird sich dies in den darauffolgenden Jahren erheblich ändern, so die Landesregierung. In 2016 wird der Überschuss bei 32 und dann schon bei 102 Mio. EUR in 2017 liegen.

Inwieweit diese neuen Assistenzstellen dazu führen, dass Integrationsassistenten, welche aus Mitteln der Eingliederungs- oder Jugendhilfe finanziert werden, nicht mehr zum Einsatz kommen, muss noch erforscht werden. Mit Sicherheit wird es auch die Integrationsassistenz, insbesondere diejenige geben, welche Heilpflegeleistungen erbringen müssen. Dann wird die Schnittstelle zwischen den beiden Leistungen genau zu definieren sein.


CGS


Quellen:





Dienstag, 2. September 2014

Schulbegleitung in Schleswig-Holstein: Enttäuschte Eltern!

„Wer sich wehrt, kann verlieren. Wer sich nicht wehrt, hat schon verloren.“

Diesen Leitspruch wiederhole ich gerne, weil die derzeitige Situation in Schleswig-Holstein für Betroffene und ihre Eltern noch immer sehr schwierig ist.

Rekapitulation:

Im Februar 2014 erließ das LSG-Schleswig einen Beschluss hinsichtlich der unrechtmäßigen Finanzierung von Schulbegleitungen (bzw. Integrationsassistenten) aus Mitteln der Eingliederungshilfe (Sozialhilfe). Begründet wurde dieser Beschluss damit, dass im Schulgesetz des Landes eindeutig ein Bekenntnis zur inklusiven Beschulung behinderter Kinder enthalten ist. Von daher würde der Nachranggrundsatz aus § 2 SGB XII greifen, wonach vorrangig andere Träger die Leistungen übernehmen müssen.

In den Folgemonaten erhielten Eltern von behinderten Kindern, welche (bisher) eine Schulbegleitung finanziert bekommen hatten, einen Ablehnungsbescheid der zuständigen Jugendhilfe- oder Sozialhilfeträger. Da aber weder Ressourcen noch finanzielle Mittel im Haushaltsplan an den Schulen für die Übernahme dieser Aufgaben enthalten waren, versprach das Bildungsministerium eine schnelle und unkomplizierte Lösung.

Am 26.8.2014 berichtete das Bildungsministerium an die Landesregierung über die Inklusion an den Schulen in Schleswig-Holstein (Drucksache 18/2065 des schleswig-holsteinischen Landtags):

Der Landtag hat mit der Drucksache 18/1246 die Landesregierung gebeten, schriftlich
den aktuellen Stand zur Umsetzung von Inklusion an den schleswig-holsteinischen
Schulen darzustellen. Dabei soll auch die beabsichtigte Schrittfolge aufgezeigt
werden, wie auf dem Weg zur Inklusion vor allem die Qualität gesichert und ausgebaut
werden kann und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um mehr Kinder mit
Förderbedarf in Regelschulen aufzunehmen. Darüber hinaus soll der Bericht die seitens
des Landes, der Kommunen und kommunalen Schulträger erforderlichen finanziellen,
sächlichen und personellen Ressourcen darstellen, die zur Umsetzung der
jeweiligen Teilziele notwendig sind. Des Weiteren soll Auskunft gegeben werden, in
welcher Form Aufgaben der schulischen Inklusion in die anstehende Reform der
Lehrerbildung eingebracht werden sollen.

Dieser Bericht wurde bereits von verschiedenen Interessenverbänden kritisch durchgesehen und kommentiert. Vor allem die angekündigte lange Zeitdauer für die Umsetzung der Maßnahmen sowie Absichtserklärungen ohne konkrete Lösungen wird bemängelt. Es bleibt also abzuwarten, welche Aufgaben die neuen „schulischen Assistenten“ übernehmen sollen und wie mit nicht ausreichenden Ressourcen umgegangen wird (vgl. auch § 5 Abs. 2 SchulG-SH). Antworten soll die sogenannte Expertenkommission liefern.

Da die Rahmenbedingungen sich nicht verändert haben und das Schuljahr bereits begonnen hat, treten die ersten Probleme zu tage. In den Kieler Nachrichten wird z.B. unter der Überschrift „Angst vor dem ersten Schultag“ von einem Fall berichtet, bei dem Eltern eines Jungen mit einer Autismus-Spektrum-Störung trotz rechtzeitigem und intensiven Bemühens um eine Schulbegleitung, von der zuständigen Fachbehörde einen Ablehnungsbescheid erhielten (Quellenangabe siehe weiter unten).

Die Nachrichten berichten, dass „zehn Tage vor Schulbeginn“ das Amt für Familie und Soziales in Kiel den Antrag vom Oktober 2013, dann noch einmal erneuert vom Juni 2014, per Bescheid ablehnte. Wäre der Antrag zum ersten Mal erst im Juni gestellt worden, hätte man sicherlich mit der schwierigen personellen Besetzung während der Urlaubsmonate argumentieren und Verständnis aufbringen können. Da aber die Eltern bereits im Oktober des Vorjahres das Amt aufgefordert hatten, hätte schon rechtzeitig vorher eine Bearbeitung erfolgen müssen:

§ 14 Abs. 1 SGB IX gibt dem Amt zwei Wochen Zeit, seine Zuständigkeit zu prüfen;
§ 43 SGB I gibt dem Antragsteller die Möglichkeit, vorläufige Leistungen zu verlangen.

Das Amt muss die Besonderheiten des Einzelfalls (§ 9 SGB XII) ausreichend ermitteln und dabei jeder Frage, die zu einer Einschränkung des Ermessens führt, nachgehen. Aus dem Artikel ist nicht klar erkennbar, aber man sollte annehmen, dass die Eltern das Gutachten des medizinischen Kinderzentrums in Pelzerhaken vorgelegt haben. Insofern ergibt sich hieraus schon die Tatsache, dass das Kind eine Behinderung und somit Anspruch auf Leistungen hat (§ 53 Abs. 1 SGB XII).

Problematisch erscheint mir an dem Fall, dass ein Gutachten der Schule vorgelegen haben soll, wonach „der autistische Junge dem Unterricht ohne Einschränkung“ folgen könne. Hier hat sich die Schule vermutlich selbst ein Bein, sozusagen, gestellt, es sei denn, dass die Beschulung objektiv gesehen wirklich kein Problem darstellt.

Weil nun ein konkreter Bedarf nicht festgestellt werden konnte, musste die Fachbehörde ablehnen. Dies ist auch ihre Pflicht!

Hätten die Eltern vorläufige Leistungen beantragt, hätte die Fachbehörde trotzdem im Nachhinein, d.h. zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens des Gegengutachtens, ablehnen müssen.

Auch wenn die Eltern mit dem jetzigen Ablehnungsbescheid die Möglichkeit haben, ins Widerspruchsverfahren zu gehen, das Gegengutachten wird dem Wunsch nach Bereitstellung einer Schulbegleitung immer im Weg stehen. Die Schule behauptet, dass eine Beschulung des Kindes mit diesen Einschränkungen möglich ist und ein über die schulischen Ressourcen hinausgehender Mitteleinsatz nicht erforderlich ist.

Trotzdem bleibt die Enttäuschung der Eltern, die im Hinblick auf den bekannten Hilfebedarf des eigenen Kindes einen größtmöglichen Schutzraum in Form von zusätzlicher Betreuung sich gewünscht haben. Die Hinweise des Amtes bezüglich des Prüfverfahrens werden nun als „Vertröstungen“ wahrgenommen, die Ablehnung als „Kosteneinsparungsmaßnahme“. 

Dieser Fall zeigt exemplarisch, wie stark Fremd- und Selbstwahrnehmung differieren können. Die richtige Anwendung des § 9 SGB XII ist kruzial, doch auch die Eltern müssen mitgenommen werden bei diesen Entscheidungen - kommunikativ wie auch kollaborativ. Beide Seiten haben hier versagt, weil es sich für die einen um ein aus Sachfeststellungen und Richtlinien zusammengesetztes Verfahren handelt, für die anderen um die Zukunft und Bestehen des eigenen Kindes. Der jetzige Veränderungsprozess in Schleswig-Holstein hinsichtlich der Regel- und Förderschulen wird zudem unzureichend begleitet von der Politik, den Schulen und sogar Eltern-Betroffenen-Sozialverbänden. 

Sollten sich Eltern also immer wehren? Einerseits Ja, weil auch Fachbehörden Fehler bei der Ermittlung des tatsächlichen Bedarfes unterlaufen. Andererseits Nein, weil mit einem Widerspruch auch weitere Hoffnungen verbunden sind auf einen "Sieg" gegenüber dem bürokratischen System. In diesem Fall nun aber muss sich zeigen, ob die Entscheidung der Schule, das Kind ausreichend beschulen zu können, richtig war.

CGS



Quelle: