Donnerstag, 25. September 2014

Schulnoten (für behinderte Kinder) an Regelschulen

Mit der Einführung des neuen Schulgesetzes in Schleswig-Holstein wird es keine Schulnoten mehr geben bis zum Erreichen der 6. Klasse. Dies ergibt sich allerdings nicht direkt aus dem Schulgesetz, sondern genauer aus der dazugehörigen Verordnung (vgl. § 4 Abs. 1 RegVO-SH i.V.m. § 16 SchulG-SH). Doch wie sieht es mit Schülern aus, die aufgrund eines Förderschwerpunktes inklusiv beschult werden? Bisher scheinen diese Schüler sozusagen „mitzulaufen“ im Klassenverband; sie nehmen am Unterricht teil oder werden zeitweise sonderpädagogisch nach einem eigenen Lehrplan unterrichtet.

Ich bin kein Pädagoge, doch ich versuche mich auch diesem Thema soweit es geht zu nähern, weil Bildung und Berufsausbildung die fundamentalen Bausteine darstellen für ein inklusives Leben in dieser Gemeinschaft. Ohne Chancengleichheit können wir nicht von einer wahrhaft freien Gesellschaft sprechen. Die Landesregierung in Schleswig-Holstein hat sich zur inklusiven Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung an Regelschulen (d.h. Grund- und weiterführenden Schulen) bekannt, und nun teste ich anhand der vorhandenen Regelungen, inwieweit dieses Bekenntnis umgesetzt werden kann.

Wenn Schüler an einer Regionalschule (d.h. nach Abschluss der Grundschulzeit) unterrichtet werden, erhalten Sie ab der 6. Klasse ein Notenzeugnis. Noten beziehen sich in der Regel auf einen Leistungsstand, der mit einem festgelegten Leistungsstandard verglichen wird. Ist die Wiedergabe des Leistungsstandes nicht identisch mit dem Leistungsstandard, dann erfolgt die Benotung innerhalb des jeweiligen Notensystems mit einer Note beispielsweise anders als „1“ oder „sehr gut“ (vgl. auch Artikel hierzu in der Wikipedia, Stichwort „Schulnote“). Das zu prüfende Wissen ist einheitlich definiert, und wer in der Prüfung die Beherrschung dieses Wissens demonstriert, hat bestanden.

Doch dies sind nicht die Kriterien, die sich in der Verordnung wiederfinden:

-          Der Aufstieg in die Jahrgangsstufe 7 erfolgt durch „Versetzungsbeschluss der Klassenkonferenz“ auf der Grundlage ihres Urteils zur „Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz der Schülerin oder des Schülers“ (vgl. §§ 3 Abs. 2 und 4 Abs. 2 RegVO-SH).

-          Der Aufstieg in die Jahrgangsstufen 8 und 9 erfolgt „ohne Versetzungsbeschluss, sofern nicht die Klassenkonferenz den Aufstieg mit einem Vorbehalt … verbindet“. Die Klassenkonferenz muss dabei „zu der Auffassung [gelangen], dass [die Schülerin oder der Schüler] in der folgenden Jahrgangsstufe nicht erfolgreich mitarbeiten kann.“ Nicht erfolgreich mitarbeiten bedeutet, dass einer erfolgreichen Mitarbeit „erhebliche fachliche Mängel“ entgegenstehen müssen (vgl. § 4 Abs. 3 und Abs. 4 RegVO-SH).

-          Der Aufstieg in die Jahrgangsstufe 10 passiert wieder durch Versetzungsbeschluss (vgl. § 4 Abs. 7 RegVO-SH).

Beim Übergang von der 6. zur 7. Klasse wird ein Versetzungsbeschluss benötigt, beim Aufstieg in die 8./9. Klasse ist dies nicht notwendig. Bei einem Versetzungsbeschluss ist das Vorliegen von bestimmten Eignungen entscheidend (d.h. es muss etwas beobachtet worden sein), im anderen Fall liegt die Fachlichkeit nicht vor (d.h. es ist etwas nicht beobachtbar). Hin zur 7. Klasse werden die an die Person gebundenen Faktoren Sozial- und Selbstkompetenz abgefragt, für die Aufstiege zur 8./9. Klasse kommt es darauf nicht an.

Sach- und Methodenkompetenzen werden benötigt, um Inhalte bzw. fachbezogenes Wissen anzueignen, auszuwerten und für sich nutzbar zu machen. Sie sind die Fundamente, auf denen aufgesetzt und weitergearbeitet werden kann. Doch fachliches Wissen selbst wird erst mit der 7./8. Klasse benötigt, da am Ende der 9. Klasse der „Erste allgemeinbildende Schulabschluss“ steht (vgl. § 5 Abs. 2 RegVO-SH). Fachliches Wissen kann sicherlich im Wege eines reinen Auswendiglernens erworben werden, doch wirklich Anwendbares Wissen entsteht, wenn die konzeptionellen Grundlagen vorhanden und abrufbar sind.

Sozial- und Selbstkompetenzen sind dagegen Faktoren, die in der Person des Schülers an sich liegen. Man könnte sie auch mit „Reife“ ein wenig altertümlich anmutend aber dennoch treffend bezeichnen.

Doch wie sieht es mit Schülern aus, die mit einer Lern- oder geistigen Behinderung leben?

Fachliches Wissen erwerben Schüler mit einer Lern- oder geistigen Behinderung sehr mühsam und zeitintensiv. Was als Reife angesehen wird, benötigt häufig bei geistig behinderten Menschen noch viel mehr Zeit. Daher werden sie auch „zieldifferent“ unterrichtet, wobei sich eine entsprechende Regelung in der Verordnung (oder das Gegenteil „zielgleich“) so nicht wiederfinden lässt.

Doch Zeit ist nicht unendlich vorhanden. Die Verordnung regelt natürlich auch die Entlassung aus der Schule. Nach § 6 RegVO-SH wird entlassen, wer „zweimal erfolglos an der Prüfung zum Erwerb des Ersten allgemeinbildenden Schulabschlusses teilgenommen hat“ oder „weder in die Jahrgangsstufe 10 versetzt wird noch nach § 5 Abs. 4 aufsteigt“, d.h. ein Versetzungsbeschluss mangels fachlicher Leistung nicht möglich ist. Von daher wird auch ein Mensch mit Behinderung aus der Schule entlassen, wenn die Kompetenzen oder Leistungen nicht festgestellt worden sind (das heißt nicht, dass nicht zwischenzeitlich Fördermaßnahmen versucht wurden).

Problematisch erscheint mir die Handhabung bei der „zieldifferenten“ Leistungsbeurteilung, da man „grundsätzlich“ eine Benotung der Leistung und Entwicklung auf dem Zeugnis von behinderten Schülern ablehnt und stattdessen immer auf einen Förderplan / Entwicklungsbericht verweist. Dies geschieht, da auf dem stark formalisierten Zeugnis kein Raum sei, auf die Besonderheiten einzugehen. So wird der Förderplan zu einem Berichtszeugnis, selbst wenn die geforderten Kompetenzen und das fachliche Wissen teilweise vorhanden sind. Es wäre angemessener, wenn die beobachteten Kompetenzen und das abrufbare fachliche Wissen in den Fächern, in denen es vorhanden ist, auch benotet werden. Denn dann würde der Förderplan / Entwicklungsbericht lediglich die Bereiche erläutern, in denen „zieldifferent“ bewertet wurde.

Denkbar wäre auch ein neuer Benotungsansatz, der eben nicht ausschließlich einem objektivierten Maßstab folgt; ich schreibe bewusst „objektiviert“, da Wissen nicht notwendigerweise „objektiv“ ist. Als ein anderer Benotungsansatz wären zum Beispiel der Interpersonelle Vergleich wie auch der Intrapersonelle (Entwicklungs-) Vergleich. Im ersten Fall benotet man die Leistung im Vergleich zu einer Gruppe von Schülern (z.B. die Schüler der eigenen Klasse), im zweiten Fall wird die persönliche Entwicklung bzw. die Lernentwicklung, wie auf einer Lernstraße, verglichen. Durch solche Benotungen erhält auch ein behinderter Mensch das Feedback von Leistungsfähigkeit und schulischem Erfolg (in vielen anderen wissenschaftlichen Studien wurde bewiesen, dass mit solchen Maßnahmen tatsächlich ein Lernerfolg generiert werden kann). Leider fehlt es aber an solchen Instrumenten.

Wenn die Zukunft darin besteht, eine inklusive Gesellschaft zu formen und Menschen mit Handicap aus dem Fürsorge-System herauszuführen in ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben, dann müssen ihnen auch Abschlüsse und Berechtigungen erteilt werden, mit denen sie diesen Schritt gehen können. Solange Abschlüsse und Berechtigungen verweigert werden, hat die Gesellschaft die Pflicht, diese Menschen in einem Fürsorge-System zu betreuen. Die Kosten dafür trägt die Sozialhilfe, und die wird aus fortwährend steigenden Steuern getragen. Von daher sollte keine Investition gescheut werden, die frühzeitig unterstützend und fördernd einwirkt. Dann passiert, was einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleicht: Der Mensch übernimmt für sich Verantwortung und wird ein aktiv teilhabendes Mitglieder der Gesellschaft.

CGS



Quelle: