Mit der Einführung des neuen Schulgesetzes in
Schleswig-Holstein wird es keine Schulnoten mehr geben bis zum Erreichen der 6.
Klasse. Dies ergibt sich allerdings nicht direkt aus dem Schulgesetz, sondern
genauer aus der dazugehörigen Verordnung (vgl. § 4 Abs. 1 RegVO-SH i.V.m. § 16
SchulG-SH). Doch wie sieht es mit Schülern aus, die aufgrund eines
Förderschwerpunktes inklusiv beschult werden? Bisher scheinen diese Schüler
sozusagen „mitzulaufen“ im Klassenverband; sie nehmen am Unterricht teil oder
werden zeitweise sonderpädagogisch nach einem eigenen Lehrplan unterrichtet.
Ich bin kein Pädagoge, doch ich versuche mich auch diesem
Thema soweit es geht zu nähern, weil Bildung und Berufsausbildung die
fundamentalen Bausteine darstellen für ein inklusives Leben in dieser Gemeinschaft.
Ohne Chancengleichheit können wir nicht von einer wahrhaft freien Gesellschaft
sprechen. Die Landesregierung in Schleswig-Holstein hat sich zur inklusiven
Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung an Regelschulen (d.h.
Grund- und weiterführenden Schulen) bekannt, und nun teste ich anhand der
vorhandenen Regelungen, inwieweit dieses Bekenntnis umgesetzt werden kann.
Wenn Schüler an einer Regionalschule (d.h. nach Abschluss
der Grundschulzeit) unterrichtet werden, erhalten Sie ab der 6. Klasse ein
Notenzeugnis. Noten beziehen sich in der Regel auf einen Leistungsstand, der
mit einem festgelegten Leistungsstandard verglichen wird. Ist die Wiedergabe
des Leistungsstandes nicht identisch mit dem Leistungsstandard, dann erfolgt
die Benotung innerhalb des jeweiligen Notensystems mit einer Note beispielsweise
anders als „1“ oder „sehr gut“ (vgl. auch Artikel hierzu in der Wikipedia,
Stichwort „Schulnote“). Das zu prüfende Wissen ist einheitlich definiert, und
wer in der Prüfung die Beherrschung dieses Wissens demonstriert, hat bestanden.
Doch dies sind nicht die Kriterien, die sich in der
Verordnung wiederfinden:
-
Der Aufstieg in die Jahrgangsstufe 7 erfolgt
durch „Versetzungsbeschluss der Klassenkonferenz“ auf der Grundlage ihres
Urteils zur „Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz der Schülerin oder
des Schülers“ (vgl. §§ 3 Abs. 2 und 4 Abs. 2 RegVO-SH).
-
Der Aufstieg in die Jahrgangsstufen 8 und 9
erfolgt „ohne Versetzungsbeschluss, sofern nicht die Klassenkonferenz den
Aufstieg mit einem Vorbehalt … verbindet“. Die Klassenkonferenz muss dabei „zu
der Auffassung [gelangen], dass [die Schülerin oder der Schüler] in der
folgenden Jahrgangsstufe nicht erfolgreich mitarbeiten kann.“ Nicht erfolgreich
mitarbeiten bedeutet, dass einer erfolgreichen Mitarbeit „erhebliche fachliche
Mängel“ entgegenstehen müssen (vgl. § 4 Abs. 3 und Abs. 4 RegVO-SH).
-
Der Aufstieg in die Jahrgangsstufe 10 passiert
wieder durch Versetzungsbeschluss (vgl. § 4 Abs. 7 RegVO-SH).
Beim Übergang von der 6. zur 7. Klasse wird ein
Versetzungsbeschluss benötigt, beim Aufstieg in die 8./9. Klasse ist dies nicht
notwendig. Bei einem Versetzungsbeschluss ist das Vorliegen von bestimmten
Eignungen entscheidend (d.h. es muss etwas beobachtet worden sein), im anderen
Fall liegt die Fachlichkeit nicht vor (d.h. es ist etwas nicht beobachtbar).
Hin zur 7. Klasse werden die an die Person gebundenen Faktoren Sozial- und
Selbstkompetenz abgefragt, für die Aufstiege zur 8./9. Klasse kommt es darauf
nicht an.
Sach- und Methodenkompetenzen werden benötigt, um Inhalte
bzw. fachbezogenes Wissen anzueignen, auszuwerten und für sich nutzbar zu
machen. Sie sind die Fundamente, auf denen aufgesetzt und weitergearbeitet
werden kann. Doch fachliches Wissen selbst wird erst mit der 7./8. Klasse benötigt,
da am Ende der 9. Klasse der „Erste allgemeinbildende Schulabschluss“ steht
(vgl. § 5 Abs. 2 RegVO-SH). Fachliches Wissen kann sicherlich im Wege eines
reinen Auswendiglernens erworben werden, doch wirklich Anwendbares Wissen
entsteht, wenn die konzeptionellen Grundlagen vorhanden und abrufbar sind.
Sozial- und Selbstkompetenzen sind dagegen Faktoren, die
in der Person des Schülers an sich liegen. Man könnte sie auch mit „Reife“ ein
wenig altertümlich anmutend aber dennoch treffend bezeichnen.
Doch wie sieht es mit Schülern aus, die mit einer Lern- oder
geistigen Behinderung leben?
Fachliches Wissen erwerben Schüler mit einer Lern- oder
geistigen Behinderung sehr mühsam und zeitintensiv. Was als Reife angesehen
wird, benötigt häufig bei geistig behinderten Menschen noch viel mehr Zeit. Daher
werden sie auch „zieldifferent“ unterrichtet, wobei sich eine entsprechende
Regelung in der Verordnung (oder das Gegenteil „zielgleich“) so nicht
wiederfinden lässt.
Doch Zeit ist nicht unendlich vorhanden. Die Verordnung
regelt natürlich auch die Entlassung aus der Schule. Nach § 6 RegVO-SH wird
entlassen, wer „zweimal erfolglos an der Prüfung zum Erwerb des Ersten
allgemeinbildenden Schulabschlusses teilgenommen hat“ oder „weder in die
Jahrgangsstufe 10 versetzt wird noch nach § 5 Abs. 4 aufsteigt“, d.h. ein
Versetzungsbeschluss mangels fachlicher Leistung nicht möglich ist. Von daher
wird auch ein Mensch mit Behinderung aus der Schule entlassen, wenn die
Kompetenzen oder Leistungen nicht festgestellt worden sind (das heißt nicht,
dass nicht zwischenzeitlich Fördermaßnahmen versucht wurden).
Problematisch erscheint mir die Handhabung bei der „zieldifferenten“
Leistungsbeurteilung, da man „grundsätzlich“ eine Benotung der Leistung und
Entwicklung auf dem Zeugnis von behinderten Schülern ablehnt und stattdessen
immer auf einen Förderplan / Entwicklungsbericht verweist. Dies geschieht, da
auf dem stark formalisierten Zeugnis kein Raum sei, auf die Besonderheiten
einzugehen. So wird der Förderplan zu einem Berichtszeugnis, selbst wenn die
geforderten Kompetenzen und das fachliche Wissen teilweise vorhanden sind. Es wäre
angemessener, wenn die beobachteten Kompetenzen und das abrufbare fachliche
Wissen in den Fächern, in denen es vorhanden ist, auch benotet werden. Denn
dann würde der Förderplan / Entwicklungsbericht lediglich die Bereiche
erläutern, in denen „zieldifferent“ bewertet wurde.
Denkbar wäre auch ein neuer Benotungsansatz, der eben
nicht ausschließlich einem objektivierten Maßstab folgt; ich schreibe bewusst „objektiviert“,
da Wissen nicht notwendigerweise „objektiv“ ist. Als ein anderer
Benotungsansatz wären zum Beispiel der Interpersonelle Vergleich wie auch der
Intrapersonelle (Entwicklungs-) Vergleich. Im ersten Fall benotet man die
Leistung im Vergleich zu einer Gruppe von Schülern (z.B. die Schüler der
eigenen Klasse), im zweiten Fall wird die persönliche Entwicklung bzw. die
Lernentwicklung, wie auf einer Lernstraße, verglichen. Durch solche Benotungen
erhält auch ein behinderter Mensch das Feedback von Leistungsfähigkeit und
schulischem Erfolg (in vielen anderen wissenschaftlichen Studien wurde
bewiesen, dass mit solchen Maßnahmen tatsächlich ein Lernerfolg generiert
werden kann). Leider fehlt es aber an solchen Instrumenten.
Wenn die Zukunft darin besteht, eine inklusive
Gesellschaft zu formen und Menschen mit Handicap aus dem Fürsorge-System
herauszuführen in ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben, dann
müssen ihnen auch Abschlüsse und Berechtigungen erteilt werden, mit denen sie
diesen Schritt gehen können. Solange Abschlüsse und Berechtigungen verweigert
werden, hat die Gesellschaft die Pflicht, diese Menschen in einem
Fürsorge-System zu betreuen. Die Kosten dafür trägt die Sozialhilfe, und die
wird aus fortwährend steigenden Steuern getragen. Von daher sollte keine
Investition gescheut werden, die frühzeitig unterstützend und fördernd einwirkt.
Dann passiert, was einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleicht: Der Mensch
übernimmt für sich Verantwortung und wird ein aktiv teilhabendes Mitglieder der
Gesellschaft.
CGS
Quelle: