Freitag, 18. Juli 2014

Der Grundsatz Ambulant vor Stationär im SGB XII

Mit der Aufnahme des Grundsatzes „Ambulant vor Stationär“ im SGB XII sollte der nächste Schritt hin zur personenzentrierten Hilfeleistung erfolgen; d.h. weg von der bislang üblichen einrichtungsfinanzierten Hilfe und hin zu einer am persönlichen Bedarf angemessenen Sozialhilfe.

Gleichzeitig wurde die Annahme des Gesetzgebers quasi kodifiziert, dass ambulante Leistungen günstiger seien als teil- und vollstationäre Leistungen. Da dies aber nicht als gegeben vermutet werden kann, gab es den Zusatz, dass dieser Grundsatz nicht einzuhalten ist, wenn die Maßnahmen mit „unverhältnismäßigen Mehrkosten“ verbunden sind.

§ 13 SGB XII, Leistungen für Einrichtungen, Vorrang anderer Leistungen

(1)    Die Leistungen können entsprechend den Erfordernissen des Einzelfalles für die Deckung des Bedarfs außerhalb von Einrichtungen (ambulante Leistungen), für teilstationäre oder stationäre Einrichtungen (teilstationäre oder stationäre Leistungen) erbracht werden. Vorrang haben ambulante Leistungen vor teilstationären und stationären Leistungen sowie teilstationäre vor stationären Leistungen. Der Vorrang der ambulanten Leistung gilt nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Bei der Entscheidung ist zunächst die Zumutbarkeit zu prüfen. Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen. Bei Unzumutbarkeit ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen.

(2) Einrichtungen im Sinne des Absatzes 1 sind alle Einrichtungen, die der Pflege, der Behandlung oder sonstigen nach diesem Buch zu deckenden Bedarfe oder der Erziehung dienen.

Doch die darin enthaltene Annahme, dass Ambulant mit günstig gleichgesetzt werden kann, ist gefährlich. Gesamtfiskalisch betrachtet kann dies nicht stimmen, da Menschen, die zuvor in einer stationären Wohneinrichtung ein Zimmer bewohnt hatten, nunmehr Mieter oder Untermieter einer ganzen bzw. halben Wohnung werden. Die Aufwendungen für Miete müssen höher ausfallen, da nicht mehr ein Bad, eine Küche oder ein Gemeinschaftsraum mit vielen anderen Bewohnern geteilt wird, sondern nunmehr alleine genutzt werden. Natürlich erhöht sich der Nutzwert der Räumlichkeiten beträchtlich für den einzelnen Bewohner, doch verliert sich auf der anderen Seite das Leben in einer Gemeinschaft. An dieser Stelle müssen Leistungserbringer für neue Sozialräume sorgen, was schlussendlich refinanziert wird von den Leistungsträgern (d.h. der Sozialhilfe). Sozialräume dienen dazu, ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen und so gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, welche den Teilhabebedarf behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft abdeckt. Und wo vorher noch über den Investitionsbetrag ein Büro mitfinanziert wurde, wandern diese Kosten nunmehr in die Maßnahmepauschale.

Man muss aber allerdings sagen, dass es im Einzelfall tatsächlich günstiger werden würde, wenn nämlich der individuelle Hilfebedarf eine Leistungsabsenkung erlaubt oder Wohnung sowie die Aufwendungen für den ambulanten Dienst insgesamt günstiger ausfallen als die womöglich viel zu teuren Kosten für einen stationären Wohnplatz.

Auch wenn diese Vorschrift als Steuerungsinstrument (oder Druckmittel) angesehen werden kann, so steht sie doch in gewisser Weise einschränkend dem Bedarfsdeckungsprinzip aus § 9 SGB XII gegenüber. Sozialhilfe muss sich natürlich immer am tatsächlichen Bedarf des Hilfebedürftigen richten. Es soll eine konkrete Notsituation abgestellt werden, die nur durch Mittel der Sozialhilfe beseitigt werden kann (vgl. § 9 Abs. 1 SGB XII).

Geht man davon aus, dass der individuelle Hilfebedarf abgedeckt werden muss, darf es keinen Vorrang bzw. eine Bevorzugung geben. Benötigt ein behinderter Mensch sozialpädagogische Betreuung, dann stellt sich nicht die Frage nach ambulanter oder stationärer Leistung, sondern nach Verfügbarkeit und bedarfsdeckendem Angebot. Benötigt der Leistungsberechtigte darüber hinaus neuen Wohnraum, dann erst stellt sich die Frage nach der eigenen Wohnung oder Wohngruppe. Die Zumutbarkeit müsste sich stattdessen darauf richten, welche Lösung in welchem Zeitraum oder in welcher örtlichen Umgebung (d.h. lokales Angebot) verfügbar wäre.

Der § 13 Abs. 1 SGB XII enthält kein Wahlrecht, sondern er gibt genau vor, was zu tun ist seitens des Leistungsträgers. Von daher müssten auch Altfälle geprüft werden, ob nicht doch eine ambulante Leistung zumutbar wäre. Dem steht aber § 130 SGB XII als eine Besitzstandsregelung gegenüber; mit anderen Worten: wer schon in einer Wohngrupp lebt, muss keinen erzwungenen Auszug fürchten (der umgekehrte Fall wäre auch geschützt).

In gewisser Weise könnte man auch eine Verpflichtung des Leistungsträgers aus dem § 13 SGB XII herauslesen, dass ambulante Angebote zu schaffen wären. Denn gäbe es nur stationäre Angebote, aber diese wären unzumutbar, ungeeignet und teurer, als eine erdachte ambulante Leistung, müsste der Leistungsträger entsprechende Strukturen fördern. In Ballungsräumen können ambulante Dienste schnell verschiedene Klienten besuchen, in Flächengebieten ist dies nicht möglich bzw. wäre zeitraubend und entsprechend teurer (Stichwort: Rüstzeiten).

Hat also eine Priorisierung, wie sie in § 13 SGB XII vorgegeben ist, überhaupt noch eine Berechtigung? Ich glaube nicht.

Die Landesregierung von Schleswig-Holstein sieht es möglicherweise ähnlich. Zumindest teilte sie jetzt mit, dass das Land weiterhin „78 %“ der Kosten für ambulanten Leistungen übernehmen wird, aber es wird „kein gesonderter Anreiz zur Förderung der Ambulantisierung mehr geboten“ (vgl. Medien-Information des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Familie und Gesundheitsförderung vom 15.7.2014).


CGS