Mit der Aufnahme des Grundsatzes „Ambulant vor Stationär“
im SGB XII sollte der nächste Schritt hin zur personenzentrierten Hilfeleistung
erfolgen; d.h. weg von der bislang üblichen einrichtungsfinanzierten Hilfe und
hin zu einer am persönlichen Bedarf angemessenen Sozialhilfe.
Gleichzeitig wurde die Annahme des Gesetzgebers quasi kodifiziert,
dass ambulante Leistungen günstiger seien als teil- und vollstationäre
Leistungen. Da dies aber nicht als gegeben vermutet werden kann, gab es den
Zusatz, dass dieser Grundsatz nicht einzuhalten ist, wenn die Maßnahmen mit „unverhältnismäßigen
Mehrkosten“ verbunden sind.
§ 13 SGB XII, Leistungen für Einrichtungen,
Vorrang anderer Leistungen
(1)
Die
Leistungen können entsprechend den Erfordernissen des Einzelfalles für die
Deckung des Bedarfs außerhalb von Einrichtungen (ambulante Leistungen), für
teilstationäre oder stationäre Einrichtungen (teilstationäre oder stationäre
Leistungen) erbracht werden. Vorrang
haben ambulante Leistungen vor teilstationären und stationären Leistungen sowie
teilstationäre vor stationären Leistungen. Der Vorrang der ambulanten
Leistung gilt nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre
Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen
Mehrkosten verbunden ist. Bei der Entscheidung ist zunächst die Zumutbarkeit zu
prüfen. Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände
angemessen zu berücksichtigen. Bei Unzumutbarkeit ist ein Kostenvergleich nicht
vorzunehmen.
(2) Einrichtungen im Sinne des Absatzes 1 sind alle Einrichtungen, die
der Pflege, der Behandlung oder sonstigen nach diesem Buch zu deckenden Bedarfe
oder der Erziehung dienen.
Doch die darin enthaltene Annahme, dass Ambulant mit günstig
gleichgesetzt werden kann, ist gefährlich. Gesamtfiskalisch betrachtet kann
dies nicht stimmen, da Menschen, die zuvor in einer stationären Wohneinrichtung
ein Zimmer bewohnt hatten, nunmehr Mieter oder Untermieter einer ganzen bzw.
halben Wohnung werden. Die Aufwendungen für Miete müssen höher ausfallen, da
nicht mehr ein Bad, eine Küche oder ein Gemeinschaftsraum mit vielen anderen
Bewohnern geteilt wird, sondern nunmehr alleine genutzt werden. Natürlich erhöht
sich der Nutzwert der Räumlichkeiten beträchtlich für den einzelnen Bewohner,
doch verliert sich auf der anderen Seite das Leben in einer Gemeinschaft. An
dieser Stelle müssen Leistungserbringer für neue Sozialräume sorgen, was
schlussendlich refinanziert wird von den Leistungsträgern (d.h. der
Sozialhilfe). Sozialräume dienen dazu, ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen und
so gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, welche den Teilhabebedarf behinderter
Menschen am Leben in der Gemeinschaft abdeckt. Und wo vorher noch über den
Investitionsbetrag ein Büro mitfinanziert wurde, wandern diese Kosten nunmehr in
die Maßnahmepauschale.
Man muss aber allerdings sagen, dass es im Einzelfall
tatsächlich günstiger werden würde, wenn nämlich der individuelle Hilfebedarf
eine Leistungsabsenkung erlaubt oder Wohnung sowie die Aufwendungen für den
ambulanten Dienst insgesamt günstiger ausfallen als die womöglich viel zu
teuren Kosten für einen stationären Wohnplatz.
Auch wenn diese Vorschrift als Steuerungsinstrument (oder
Druckmittel) angesehen werden kann, so steht sie doch in gewisser Weise
einschränkend dem Bedarfsdeckungsprinzip aus § 9 SGB XII gegenüber. Sozialhilfe
muss sich natürlich immer am tatsächlichen Bedarf des Hilfebedürftigen richten.
Es soll eine konkrete Notsituation abgestellt werden, die nur durch Mittel der Sozialhilfe
beseitigt werden kann (vgl. § 9 Abs. 1 SGB XII).
Geht man davon aus, dass der individuelle Hilfebedarf
abgedeckt werden muss, darf es keinen Vorrang bzw. eine Bevorzugung geben.
Benötigt ein behinderter Mensch sozialpädagogische Betreuung, dann stellt sich
nicht die Frage nach ambulanter oder stationärer Leistung, sondern nach Verfügbarkeit
und bedarfsdeckendem Angebot. Benötigt der Leistungsberechtigte darüber hinaus neuen
Wohnraum, dann erst stellt sich die Frage nach der eigenen Wohnung oder
Wohngruppe. Die Zumutbarkeit müsste sich stattdessen darauf richten, welche
Lösung in welchem Zeitraum oder in welcher örtlichen Umgebung (d.h. lokales
Angebot) verfügbar wäre.
Der § 13 Abs. 1 SGB XII enthält kein Wahlrecht, sondern
er gibt genau vor, was zu tun ist seitens des Leistungsträgers. Von daher
müssten auch Altfälle geprüft werden, ob nicht doch eine ambulante Leistung
zumutbar wäre. Dem steht aber § 130 SGB XII als eine Besitzstandsregelung
gegenüber; mit anderen Worten: wer schon in einer Wohngrupp lebt, muss keinen
erzwungenen Auszug fürchten (der umgekehrte Fall wäre auch geschützt).
In gewisser Weise könnte man auch eine Verpflichtung des
Leistungsträgers aus dem § 13 SGB XII herauslesen, dass ambulante Angebote zu
schaffen wären. Denn gäbe es nur stationäre Angebote, aber diese wären
unzumutbar, ungeeignet und teurer, als eine erdachte ambulante Leistung, müsste
der Leistungsträger entsprechende Strukturen fördern. In Ballungsräumen können
ambulante Dienste schnell verschiedene Klienten besuchen, in Flächengebieten
ist dies nicht möglich bzw. wäre zeitraubend und entsprechend teurer
(Stichwort: Rüstzeiten).
Hat also eine Priorisierung, wie sie in § 13 SGB XII
vorgegeben ist, überhaupt noch eine Berechtigung? Ich glaube nicht.
Die Landesregierung von Schleswig-Holstein sieht es
möglicherweise ähnlich. Zumindest teilte sie jetzt mit, dass das Land weiterhin
„78 %“ der Kosten für ambulanten Leistungen übernehmen wird, aber es wird „kein
gesonderter Anreiz zur Förderung der Ambulantisierung mehr geboten“ (vgl.
Medien-Information des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Familie und
Gesundheitsförderung vom 15.7.2014).
CGS