Mittwoch, 3. Februar 2021

Geminderte Eingliederungshilfe wenn man keine Grundsicherung braucht?!

Kurz vor Weihnachten versandte ein Landkreis in Schleswig-Holstein eine Reihe von Rückforderungen, weil angeblich zu viel Eingliederungshilfe bezahlt wurde. Konkret ging es dabei um den Geldbetrag, der die Angemessenheitsgrenze bei den Kosten der Unterkunft in besonderen Wohnformen (ehemals vollstationäre Wohneinrichtungen) um 25 % überschritt und eigentlich Sache der Eingliederungshilfe ist. Die Rückforderungen richteten sich zwar gegen die Leistungserbringer selber, aber die wurden damit aufgefordert, das Geld von den Leistungsberechtigten zu holen.

Begründung des fordernden Leistungsträgers war, dass die Leistungsberechtigten ja gar keinen Anspruch auf Grundsicherung hatten, weil ihr Einkommen zu hoch gewesen wäre.

Es dauerte nicht lange und die Rückforderungen wurden wieder zurückgenommen.  

 

Zum Hintergrund

Mit der Reform der Eingliederungshilfe sollte vorrangig diese soziale Leistung aus der Sozialhilfe (SGB XII) herausgelöst werden und dem der Rehabilitation (SGB IX) zugeordnet werden. Das klingt zuerst einmal nur nach „linke Tasche, rechte Tasche“. Doch es sind sehr viele andere Bedeutungen damit verbunden: Zum Beispiel handelt es sich bei der Eingliederungshilfe dann nicht mehr um eine Leistung zur Überwindung einer Notlage, die Eingliederungshilfe wird jetzt unabhängiger gemacht von den „engeren“ Einkommens- und Vermögensgrenzen der Sozialhilfe (vgl. dazu auch Kapitel 9, Einkommen und Vermögen im SGB IX), der Lebensunterhalt wird nach Standard-Sätzen geleistet und nur noch die Fachleistung wird trägerindividuell verhandelt.

Bei der Herauslösung zeigte sich sehr schnell, dass die Finanzierungsstrukturen in den bisherigen Vergütungen sehr komplex gestaltet waren.*) Das eigentliche Problem bestand allerdings darin, dass man so manche Sonderleistung verbaut hatte in die Einrichtungen (z.B. Bewegungsbäder, große Bäder, Therapieräume). Diese Besonderheiten waren und sind nach wie vor fachlich und pflegerisch bedeutsam, bezahlt werden sollte aber nun nur noch das Wohnen nach der Sozialhilfe; das hätte im Extrem dazu geführt, dass man aus seinem barrierefreie Lebensumfeld in eine typische und sozialhilfegemäße Wohnung hätte umziehen müssen?

Es wurde in der Reform von daher geregelt, dass Kosten der Unterkunft noch bei einem Übersteigen der Angemessenheitsgrenze um 25 % vom Sozialhilfe-Träger geleistet werden sollen. Die Kosten des Wohnens, die diese Grenze überschreiten (also oberhalb der 125 %), sind der Eingliederungshilfe zuzuordnen, „sofern dies wegen der besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen erforderlich ist“ (§ 113 Abs. 5 S. 1 SGB IX).

 

Zum Irrtum

Die bewilligende Behörde sah das jetzt nicht. Sie hatte lediglich geprüft, ob der Mensch mit einem Anspruch auf Eingliederungshilfe nun auch einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen gestellt hatte (4. Kapitel SGB XII). Wenn bei der Antragsprüfung herauskam, dass diese Menschen aufgrund des Bezugs einer Rente und (Werkstatt-) Einkommens die Einkommensgrenzen überschritten, bestand auch kein Anspruch mehr auf die Hilfen nach § 42a Abs. 6 SGB XII. In dem Passus steht:

(6) Übersteigen die Aufwendungen für die Unterkunft nach Absatz 4 den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang und hat der für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständige Träger Anhaltspunkte dafür, dass ein anderer Leistungsträger diese Aufwendungen ganz oder teilweise zu übernehmen verpflichtet ist, wirkt er auf eine sachdienliche Antragstellung bei diesem Leistungsträger hin. Übersteigen die tatsächlichen Aufwendungen die Angemessenheitsgrenze nach Absatz 5 Satz 3 um mehr als 25 Prozent, umfassen die Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches auch diese Aufwendungen.

(Fettdruck von mir)

Drei Punkte sind hier zu betonen:

Die Besonderheiten des Einzelfalls können den angemessenen Umfang übersteigen, weil vielleicht ein Bewegungsbad, rollstuhlgerechte Bäder, barrierefreie Zugänge und Anlagen genutzt werden müssen. Sie wären also entweder mit-vermietet worden an die Leistungsberechtigten (anstelle eines kleinen Bads für „Normalos“) oder schon vorab Bestandteil der Fachleistung. Vielleicht handelt es sich auch um ein Stadthaus in einer Metropole, die aber schon seit sehr langer Zeit ein bedeutender Lebensmittelpunkt für den schutzbedürftigen Personenkreis darstellt; mal eben so umziehen und sich womöglich sogar selbst darum zu kümmern wie jeder andere auch, das ist für diese Menschen nicht möglich. Diese Besonderheiten wurden vom Gesetzgeber anerkannt. Die Reform sollte nicht dazu genutzt werden, den Menschen die Lebensgrundlage zu entziehen.

Natürlich muss der Sozialhilfe-Träger nicht auf den Leistungen sitzen bleiben. Getreu dem Nachrang-Grundsatz sind andere Leistungsträger aufzufinden, damit die die Anspruchssicherung übernehmen. Ein Sozialhilfe-Träger steht aber in der Verantwortung und muss darauf hinwirken, dass ein Antrag gestellt wird. Und diese Forderung nach dem Hinwirken muss sehr nachdrücklich betrachtet werden: Ein Abschieben der Verantwortung auf gesetzlich bestellte Betreuer ist damit nicht gemeint.

In jedem Fall sind die Kosten, die die Angemessenheitsgrenze um mehr als 25 % übersteigen (125 %), Sache der Eingliederungshilfe – ob mit oder ohne Grundsicherungsleistungen.

 

Zum Ende

Dieser Irrtum brauchte ein wenig Zeit, bis er beim Leistungsträger erkannt und abgestellt wurde. Man kann also sagen: Ende gut, alles gut.

Trotzdem sollte man sich klar darüber sein, dass diese Kosten mit dem Träger der Eingliederungshilfe verhandelt werden müssen. Für Objekte, die vor der BTHG-Umstellung in 2020 erstellt worden waren, kann vielleicht noch ein Bestandsschutz geltend gemacht werden. Bei Neubauten muss eine enge Abstimmung erfolgen und man sollte die „besonderen Bedürfnisse“ beschreiben können. Die Besonderheiten des Einzelfalls müssen schon bei einer Projektplanung benannt werden.

Es gibt allerdings noch eine weitere Besonderheit, die im Moment zu bedenken ist. Weil in § 42a Abs. 6 SGB XII direkter Bezug genommen wird auf den Teil 2 SGB IX und in § 113 Abs. 5 S. 1 SGB IX die Brücke zurückgeschlagen wird, entsteht somit die Notwendigkeit, Regelungen für Leistungsträger und Leistungserbringer zu formulieren – die Leistungsberechtigten sind hier ausgenommen. 

Im Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX und in den Leistungsvereinbarungen nach § 125 SGB IX braucht es Mechanismen, damit in den Vergütungsverhandlungen kein Chaos entsteht über diesen Kostenbestandteil. Solange es diese Vertragstexte nicht gibt, fehlt es auch an jedweder Möglichkeit, irgendwelche Kosten zu kürzen bzw. zurückzufordern.

Der Irrtum lief also aus zwei Gründen ins Leere.

CGS

 

 

Fußnote:

*) = In manchen Fällen hatten in den Verhandlungen die Vertragsparteien immer wieder Verschiebungen in den Kostenpositionen getätigt (statt Grundpauschale nun Maßnahmepauschale, und umgekehrt), weil im Externen Vergleich die eine Kostenposition „zu teuer“ kalkuliert war, und so fort.  

 

Das hier ist keine Rechtsberatung oder Aufforderung zur Vornahme eines Rechtsgeschäftes. Der Beitrag stellt nur meine Sicht auf die Dinge dar. Und eine solche Sicht kann sich immer noch ändern. Brauchen Sie rechtliche Unterstützung, wenden Sie sich an die zuständigen Behörden, Sozial- und Betroffenenverbände oder rechtskundige Dritte. Lesen Sie bitte ebenfalls die Hinweise zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss sowie die Datenschutzerklärung.

Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Empfehlen Sie ein//gegliedert weiter oder klicken Sie gleich reihum auf die übrigen Seiten dieses Blogs – ersetzt das Applaudieren und ist ein guter Motivator für mich.

Möchten Sie was sagen?

Schreiben Sie mir eine E-Mail – Ihre Meinung hilft mir, meine Sichtweise neu zu überdenken. Meine E-Mail-Adresse finden Sie auf der Seite Über mich.

Geminderte Eingliederungshilfe wenn man keine Grundsicherung braucht?!