Sonntag, 16. Juni 2024

Die (mögliche) Kündigungsklausel im kommenden LRV-SH

Dass es mit der neuartigen Kündigungsklausel im Entwurf zum Landesrahmenvertrag für Schleswig-Holstein (auch Rahmenvertrag oder abgekürzt LRV) eine Diskussion entstand hinsichtlich einer möglichen Rückkehr der (ach so „verhassten) Landesverordnung über Inhalte des Rahmenvertrags nach § 131 SGB IX zu Leistungen der Eingliederungshilfe (auch Rechtsverordnung oder abgekürzt LandVO), kam recht überraschend.

Die Lenkungsgruppe, die am Entwurfstext arbeitet, hatte die bisherige Regelung jedenfalls textlich angereichert und die Bestandsschutzgarantie für einen gekündigten LRV herausgenommen. Stattdessen wurde zum einen die Möglichkeit der Teilkündigung von Vertragsbestandteilen weiter ausgeführt, zum anderen sollte die kündigende Partei den Kündigungsgrund erklären. Erst wenn dann die weiteren Verhandlungen über eine vertragliche Anpassung gescheitert wären, würde der LRV außer Kraft gesetzt sein. Und das wiederum könnte Grund für eine Rechtsverordnung werden, mit der die Landesregierung die Inhalte ersetzend regelt.

 

Der Worst-Case

Zuerst einmal sollte man sich bewusst machen, dass mit dem Außerkraftsetzen eines LRV die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nicht ebenfalls außer Kraft gesetzt sind. Diese Vereinbarungen werden zwischen den einzelnen Leistungserbringern und den Trägern der Eingliederungshilfe (Kommunen und Behörden) abgeschlossen, um konkret die Leistungserbringung und die Leistungsabrechnung zu regeln. Bei einem Rahmenvertrag sind die Vertragspartner die Vereinigungen oder Verbände.

Ein LRV regelt die Rahmenbedingungen für die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, die man als Leistungserbringer benötigt. Eine Vertragskommission (VK) muss es zudem geben, die diese Vorgaben bestimmt und für alle Beteiligten „gemeinsam und einheitlich“ die vertraglichen Regelungen klärt. Auf diese Weise soll die Eingliederungshilfe fortentwickelt werden. Besetzt wird die VK eigentlich nur mit Vertretern der Vertragsparteien. Damit aber auch die Interessenvertretungen der behinderten Menschen (Leistungsberechtigte) ein Gehör finden, sind sie für das Bundesland Schleswig-Holstein als nicht stimmberechtigte Mitglieder dabei (§ 35 Abs. 5 LRV-SH).

Übrigens wird im LRV ausdrücklich von einer Interessenvertretung „nach § 81 SGB IX“ gesprochen, d.h. es betrifft Menschen, die Leistungen zum Erwerb und Erhalt von praktischen Kenntnissen und Fähigkeiten brauchen, in Hamburg hat man dagegen den Dachverband Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen e.V. (LAG), der über 70 Organisationen vertritt, hinzugenommen.

Ist ein LRV gekündigt, werden diese drei Parteien über die neue Version eines Rahmenvertrags verhandeln müssen. Wie dieses Mitwirken effektiv zustande kommt, ist jedoch nicht genau im § 131 Abs. 2 SGB IX bestimmt worden. Von daher müssten alle drei sofort eine neue Vertragskommission bilden, da ja die alte VK mit dem Außerkraftsetzen ihre Grundlage verloren hätte. Eine Bestimmung, wie schnell es mit so einer Verhandlung zugehen muss, findet sich nicht im Sozialgesetzbuch.  

 

Der Zweit-Runden-Effekt

Weil es mit dem Außerkraftsetzen niemanden mehr geben wird, welcher die Aufgabe hat, die verschiedenen Inhalte des LRV „unter Berücksichtigung höchstrichterlicher Rechtsprechung auszulegen“ und weil eine Fortentwicklung oder Änderung nicht mehr einstimmig möglich ist (§ 35 Abs. 1 LRV-SH), wird es Schwierigkeiten geben auf der darunter liegenden Ebene mit den Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nach § 123 ff. SGB IX.

Für eine Zeitlang könnte man sich auf die altbekannten Verfahren stützen (z.B. Abschnitt 6, § 28 LRV-SH). Doch gerade bei der Sache mit den Vergütungen und ganz besonders bei manchen Änderungen in Bezug auf das einzusetzende Personal kann es schnell zu Problemen kommen. Zum Beispiel soll es zwar landeseinheitliche Personalrichtwerte geben, die zu befolgen wären, aber es dürfen „im Einzelfall abweichende oder zusätzliche Anforderungen oder Qualifikationsanforderungen“ vereinbart werden (§ 21 Abs. 8 und 9 LRV-SH). Diese Festlegungen gelten dann nicht mehr.

Oder es gibt zum Beispiel diese Sache mit der Fortentwicklung der Eingliederungshilfe. Der Bund hat hierzu den Auftrag an die Länder gerichtet, umfassend für flächen- und bedarfsdeckende Angebote von Leistungsanbietern zu sorgen (vgl. § 94 Abs. 3 SGB IX). Dieser Auftrag ist als sehr zielgerichtet und bindend anzusehen. Die Eingliederungshilfe soll schließlich gefördert und weiterentwickelt werden (Abs. 4). Eine Arbeitsgemeinschaft auf Landesebene wäre hierzu zu bilden, man kann aber durchaus diesen Auftrag übertragen auf die VK im LRV (siehe dazu den Hamburger LRV). Würde der LRV nun nicht mehr bestehen, würde die VK somit aufhören zu existieren und dementsprechend auch diese Funktion nicht mehr ausüben können; für Schleswig-Holstein ist dieser Auftrag so nicht in der VK etabliert, allerdings könnte man (mit viel gutem Willen) hinsichtlich der Einigung der Vertragsparteien in § 12 LRV-SH zur Weiterentwicklung von „einheitlichen Maßstäben für die Wirksamkeit von Leistungen“ das annehmen.

Mit anderen Worten also: die weitere wirtschaftliche Leistungserbringung und die Sicherstellung der Versorgung im Lande wären mit dem Außerkraftsetzen schwierig.

 

Die jetzige Kündigungsklausel

Fehlt es an einem LRV, ist das Land berechtigt, eine entsprechende Verordnung zu erlassen. Die Inhalte einer solchen LandVO würden dann für die Seite der verhandelnden Leistungsträger (z.B. die KOSOZ oder eine kreisfreie Stadt in Schleswig-Holstein) sowie alle Leistungserbringer bindend sein (§ 131 Abs. 4). Eine derartige Bindung könnte die beteiligten Unternehmen und Organisationen zu einer deutlichen Anpassung ihrer Leistungserbringung führen und damit die Versorgungslage beeinträchtigen.

Im derzeit bestehenden Rahmenvertrag steht nun folgendes:

§ 38 Inkrafttreten, Laufzeit und Kündigung

(1) Dieser Rahmenvertrag [von Schleswig-Holstein] tritt am Tag nach seiner Unterzeichnung in Kraft [das war am 12.8.2019].

(2) Nach dem 31.12.2021 kann jede Vertragspartei den Vertrag mit einer Frist von 6 Monaten zum Jahresende ganz oder teilweise kündigen. Die Kündigung erfolgt schriftlich. Für den Fall einer Kündigung verpflichten sich die Vertragsparteien, unverzüglich in Verhandlungen einzutreten. Bis zum Abschluss eines neuen Landesrahmenvertrages gelten die Regelungen dieses Vertrages fort.

Der letzte Satz war bislang das „Auffangbecken“ und sicherte das Bestehenbleiben der VK und ihrer verschiedenen Arbeitsgruppen zu. Das soll sich allerdings in der neuen Version ändern.

Die neue Version müsste mal langsam die Runde machen, um sich mit den Einzelheiten ein wenig mehr zu befassen; in einigen Verhandlungen berichten Leistungserbringer, dass man ihnen von der anderen Seite her mit „verbindlichen Einigungen“ daherkommt – das empört. Und darum ist es auch kein Wunder, wenn beim Gedanken, die neue Kündigungsklausel ermöglicht ein Außerkraftsetzen eines bis dato üblicherweise fortgeltenden, gekündigten Rahmenvertrags, ein „kleines Entsetzen“ sich breit macht.

 

Die Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Vertrags

Ein LRV ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag (§§ 53 ff. SGB X), der nach seinem Vertragsbeginn durchaus angepasst und sogar gekündigt werden sollte. Haben sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses maßgebend bestanden hatten, wesentlich geändert, braucht es ein gestuftes Vorgehen. Die Vertragskommission wäre die erste Stufe in so einem Änderungsprozess, allerdings nur in Bezug auf eine „höchstrichterliche Rechtsprechung“. Bei gesetzlichem Anpassungsbedarf wären die nächsten Stufen die der Teilkündigung mit anschließender Neufassung und die der gesamten Kündigung. Nach § 59 Abs. 1 S. 2 SGB X besteht sogar eine Pflicht zur Kündigung für die Behörde, „um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen“. Daraus folgt, dass eine Fortgeltung irgendwann gar nicht möglich ist.

In jedem Fall braucht es für die wirksame (Teil-) Kündigung die Schriftform (soweit nicht durch Rechtsvorschrift eine andere Form vorgeschrieben ist) und die Begründung (Abs. 2). Mit einer Salvatorischen Klausel ist da wenig geholfen, auch wenn diese überbrückend gute Dienste leisten wird.

Ein Kündigen „mal eben so“ ist allerdings nicht möglich. Neben dem zuvor schon genannten „maßgebend“ und „wesentlich“, braucht es zudem die Unzumutbarkeit am weiteren Festhalten. In der Fachliteratur wird hierzu gesagt, dass die Ergebnisse aus dem Vertragsverhältnis „untragbar“ sind sowie mit dem Grundsatz von „Recht und Gerechtigkeit“ nicht mehr vereinbart werden können. Es wird sogar von einer „Opfergrenze“ gesprochen, die zu einem Bruch des Vertragsverhältnisses führen würde (Diering et al. in LPK-SGB IX, 6. Aufl., zu § 59, S. 638 Rn. 8).

Das gestufte Vorgehen würde also im nächsten Schritt die gemeinsame Anpassung des jeweiligen Vertragsbestandteils mit sich bringen. Inwieweit nun ein Rechtsanspruch darauf besteht, müsste noch geklärt werden. Mit dem Verlangen auf Anpassung des Vertrags müssten die konkreten Gründe dargelegt werden, von der Partei mit dem Änderungswillen. Hinzuzufügen wäre noch, wie die zukünftigen Bestimmungen aussehen sollen, damit nun die Gegenseite prüfen und entscheiden kann. Die Vertragskommission wäre nach meinem Dafürhalten nicht das richtige Gremium, weil die einzelnen Vertreter der Vereinigungen und Verbände nicht empfangsberechtigt wären. Im Prinzip wäre es aber nur eine Formsache, weil effektiv die Verhandlungen zu den strittigen Punkten sowieso von den jeweiligen Vertretern übernommen werden. Einigt man sich auf die Anpassungen, müssen aber nach die Vereinigungen und Verbände ihre Mitglieder befragen.

Erst wenn eine grundsätzliche Ablehnung auf Anpassung vorliegt, entsteht ein Kündigungsgrund. Das wiederum wäre im neuen Text klarzustellen, ob die „grundsätzliche Ablehnung“ ausgesprochen werden muss oder nach erfolgloser Fristsetzung vermutet werden kann. Das Fehlen einer Begründung der Kündigung, wie sie in § 59 Abs. 2 S. 2 SGB X empfohlen wird, bedeutet keine Unwirksamkeit. Im Endeffekt würde eine Kündigung ohne Begründung das Außerkraftsetzen jedenfalls nicht verhindern.

CGS

 

Ein paar letzte Worte:

Eine gut ausgearbeitete Kündigungsklausel kann den Parteien klare Regeln und Verfahren für die Beendigung des Vertrags bieten, was dazu beitragen kann, potenzielle Konflikte zu vermeiden. Sie kann auch festlegen, unter welchen Bedingungen und mit welcher Frist eine Vertragspartei den Vertrag kündigen kann. Sie stellt zwar nur ein sehr zentrales Element in einem Vertrag dar, aber es ist ratsam, sich immer im Vorhinein mit dem Ausstieg aus einem Vertrag vertraut zu machen.

 

 

Quelle:

Rahmenvertrag nach § 131 SGB IX zur Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Schleswig-Holstein

letzter Aufruf am 15.6.2024

 

Eigener Beitrag: „Könnte die Landesverordnung wieder auferstehen?“ vom 12.6.2024

 

 

Notizen:

Ein Rahmenvertrag nach § 131 SGB IX ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag. Wesentliches Merkmal hierfür ist, dass mindestens eine Behörde Vertragspartner ist. In diesem Vertrag werden Sachfragen behandelt, die alle von öffentlichem Interesse sind. Die Beteiligten in diesem Vertragsverhältnis sehen sich gebunden und können nur im Wege eines gemeinsamen Willens diesen Vertrag schließen.

Kommt es aber nun nicht zu einer übereinstimmenden Willenserklärung, kann das Bundesland eine Rechtsverordnung erlassen.

 

 

 

Bild zum Beitrag eigene Aufnahme.

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Die (mögliche) Kündigungsklausel im kommenden LRV-SH