Dass es mit der
neuartigen Kündigungsklausel im Entwurf zum Landesrahmenvertrag für
Schleswig-Holstein (auch Rahmenvertrag oder abgekürzt LRV) eine Diskussion entstand
hinsichtlich einer möglichen Rückkehr der (ach so „verhassten) Landesverordnung
über Inhalte des Rahmenvertrags nach § 131 SGB IX zu Leistungen der
Eingliederungshilfe (auch Rechtsverordnung oder abgekürzt LandVO), kam recht überraschend.
Die Lenkungsgruppe,
die am Entwurfstext arbeitet, hatte die bisherige Regelung jedenfalls textlich
angereichert und die Bestandsschutzgarantie für einen gekündigten LRV
herausgenommen. Stattdessen wurde zum einen die Möglichkeit der Teilkündigung
von Vertragsbestandteilen weiter ausgeführt, zum anderen sollte die kündigende
Partei den Kündigungsgrund erklären. Erst wenn dann die weiteren Verhandlungen über
eine vertragliche Anpassung gescheitert wären, würde der LRV außer Kraft
gesetzt sein. Und das wiederum könnte Grund für eine Rechtsverordnung werden,
mit der die Landesregierung die Inhalte ersetzend regelt.
Der Worst-Case
Zuerst einmal sollte man sich bewusst machen, dass mit dem
Außerkraftsetzen eines LRV die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nicht
ebenfalls außer Kraft gesetzt sind. Diese Vereinbarungen werden zwischen den
einzelnen Leistungserbringern und den Trägern der Eingliederungshilfe (Kommunen
und Behörden) abgeschlossen, um konkret die Leistungserbringung und die
Leistungsabrechnung zu regeln. Bei einem Rahmenvertrag sind die Vertragspartner
die Vereinigungen oder Verbände.
Ein LRV regelt die Rahmenbedingungen für die Leistungs- und
Vergütungsvereinbarungen, die man als Leistungserbringer benötigt. Eine
Vertragskommission (VK) muss es zudem geben, die diese Vorgaben bestimmt und für
alle Beteiligten „gemeinsam und einheitlich“ die vertraglichen Regelungen klärt.
Auf diese Weise soll die Eingliederungshilfe fortentwickelt werden. Besetzt
wird die VK eigentlich nur mit Vertretern der Vertragsparteien. Damit aber auch
die Interessenvertretungen der behinderten Menschen (Leistungsberechtigte) ein
Gehör finden, sind sie für das Bundesland Schleswig-Holstein als nicht
stimmberechtigte Mitglieder dabei (§ 35 Abs. 5 LRV-SH).
Übrigens wird im LRV ausdrücklich von einer
Interessenvertretung „nach § 81 SGB IX“ gesprochen, d.h. es betrifft Menschen,
die Leistungen zum Erwerb und Erhalt von praktischen Kenntnissen und Fähigkeiten
brauchen, in Hamburg hat man dagegen den Dachverband Landesarbeitsgemeinschaft
für behinderte Menschen e.V. (LAG), der über 70 Organisationen vertritt,
hinzugenommen.
Ist ein LRV gekündigt, werden diese drei Parteien über die
neue Version eines Rahmenvertrags verhandeln müssen. Wie dieses Mitwirken
effektiv zustande kommt, ist jedoch nicht genau im § 131 Abs. 2 SGB IX bestimmt
worden. Von daher müssten alle drei sofort eine neue Vertragskommission bilden,
da ja die alte VK mit dem Außerkraftsetzen ihre Grundlage verloren hätte. Eine
Bestimmung, wie schnell es mit so einer Verhandlung zugehen muss, findet sich
nicht im Sozialgesetzbuch.
Der Zweit-Runden-Effekt
Weil es mit dem Außerkraftsetzen niemanden mehr geben wird,
welcher die Aufgabe hat, die verschiedenen Inhalte des LRV „unter Berücksichtigung
höchstrichterlicher Rechtsprechung auszulegen“ und weil eine Fortentwicklung
oder Änderung nicht mehr einstimmig möglich ist (§ 35 Abs. 1 LRV-SH), wird es
Schwierigkeiten geben auf der darunter liegenden Ebene mit den Leistungs- und
Vergütungsvereinbarungen nach § 123 ff. SGB IX.
Für eine Zeitlang könnte man sich auf die altbekannten
Verfahren stützen (z.B. Abschnitt 6, § 28 LRV-SH). Doch gerade bei der Sache
mit den Vergütungen und ganz besonders bei manchen Änderungen in Bezug auf das
einzusetzende Personal kann es schnell zu Problemen kommen. Zum Beispiel soll
es zwar landeseinheitliche Personalrichtwerte geben, die zu befolgen wären,
aber es dürfen „im Einzelfall abweichende oder zusätzliche Anforderungen oder
Qualifikationsanforderungen“ vereinbart werden (§ 21 Abs. 8 und 9 LRV-SH).
Diese Festlegungen gelten dann nicht mehr.
Oder es gibt zum Beispiel diese Sache mit der
Fortentwicklung der Eingliederungshilfe. Der Bund hat hierzu den Auftrag an die
Länder gerichtet, umfassend für flächen- und bedarfsdeckende Angebote von
Leistungsanbietern zu sorgen (vgl. § 94 Abs. 3 SGB IX). Dieser Auftrag ist als
sehr zielgerichtet und bindend anzusehen. Die Eingliederungshilfe soll schließlich
gefördert und weiterentwickelt werden (Abs. 4). Eine Arbeitsgemeinschaft auf
Landesebene wäre hierzu zu bilden, man kann aber durchaus diesen Auftrag übertragen
auf die VK im LRV (siehe dazu den Hamburger LRV). Würde der LRV nun nicht mehr
bestehen, würde die VK somit aufhören zu existieren und dementsprechend auch diese
Funktion nicht mehr ausüben können; für Schleswig-Holstein ist dieser Auftrag
so nicht in der VK etabliert, allerdings könnte man (mit viel gutem Willen)
hinsichtlich der Einigung der Vertragsparteien in § 12 LRV-SH zur
Weiterentwicklung von „einheitlichen Maßstäben für die Wirksamkeit von Leistungen“
das annehmen.
Mit anderen Worten also: die weitere wirtschaftliche
Leistungserbringung und die Sicherstellung der Versorgung im Lande wären mit
dem Außerkraftsetzen schwierig.
Die jetzige Kündigungsklausel
Fehlt es an einem LRV, ist das Land berechtigt, eine
entsprechende Verordnung zu erlassen. Die Inhalte einer solchen LandVO würden
dann für die Seite der verhandelnden Leistungsträger (z.B. die KOSOZ oder eine
kreisfreie Stadt in Schleswig-Holstein) sowie alle Leistungserbringer bindend
sein (§ 131 Abs. 4). Eine derartige Bindung könnte die beteiligten Unternehmen
und Organisationen zu einer deutlichen Anpassung ihrer Leistungserbringung führen
und damit die Versorgungslage beeinträchtigen.
Im derzeit bestehenden Rahmenvertrag steht nun folgendes:
§ 38 Inkrafttreten,
Laufzeit und Kündigung
(1) Dieser
Rahmenvertrag [von Schleswig-Holstein] tritt am Tag nach seiner Unterzeichnung
in Kraft [das war am 12.8.2019].
(2) Nach dem
31.12.2021 kann jede Vertragspartei den Vertrag mit einer Frist von 6 Monaten
zum Jahresende ganz oder teilweise kündigen. Die Kündigung erfolgt schriftlich.
Für den Fall einer Kündigung verpflichten sich die Vertragsparteien, unverzüglich
in Verhandlungen einzutreten. Bis zum Abschluss eines neuen
Landesrahmenvertrages gelten die Regelungen dieses Vertrages fort.
Der letzte Satz war bislang das „Auffangbecken“ und sicherte
das Bestehenbleiben der VK und ihrer verschiedenen Arbeitsgruppen zu. Das soll
sich allerdings in der neuen Version ändern.
Die neue Version müsste mal langsam die Runde machen, um
sich mit den Einzelheiten ein wenig mehr zu befassen; in einigen Verhandlungen
berichten Leistungserbringer, dass man ihnen von der anderen Seite her mit „verbindlichen
Einigungen“ daherkommt – das empört. Und darum ist es auch kein Wunder, wenn
beim Gedanken, die neue Kündigungsklausel ermöglicht ein Außerkraftsetzen eines
bis dato üblicherweise fortgeltenden, gekündigten Rahmenvertrags, ein „kleines
Entsetzen“ sich breit macht.
Die Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Vertrags
Ein LRV ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag (§§ 53 ff.
SGB X), der nach seinem Vertragsbeginn durchaus angepasst und sogar gekündigt
werden sollte. Haben sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des
Vertragsabschlusses maßgebend bestanden hatten, wesentlich geändert, braucht es
ein gestuftes Vorgehen. Die Vertragskommission wäre die erste Stufe in so einem
Änderungsprozess, allerdings nur in Bezug auf eine „höchstrichterliche
Rechtsprechung“. Bei gesetzlichem Anpassungsbedarf wären die nächsten Stufen
die der Teilkündigung mit anschließender Neufassung und die der gesamten Kündigung.
Nach § 59 Abs. 1 S. 2 SGB X besteht sogar eine Pflicht zur Kündigung für die
Behörde, „um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu
beseitigen“. Daraus folgt, dass eine Fortgeltung irgendwann gar nicht möglich
ist.
In jedem Fall braucht es für die wirksame (Teil-) Kündigung
die Schriftform (soweit nicht durch Rechtsvorschrift eine andere Form
vorgeschrieben ist) und die Begründung (Abs. 2). Mit einer Salvatorischen Klausel
ist da wenig geholfen, auch wenn diese überbrückend gute Dienste leisten wird.
Ein Kündigen „mal eben so“ ist allerdings nicht möglich. Neben
dem zuvor schon genannten „maßgebend“ und „wesentlich“, braucht es zudem die
Unzumutbarkeit am weiteren Festhalten. In der Fachliteratur wird hierzu gesagt,
dass die Ergebnisse aus dem Vertragsverhältnis „untragbar“ sind sowie mit dem
Grundsatz von „Recht und Gerechtigkeit“ nicht mehr vereinbart werden können. Es
wird sogar von einer „Opfergrenze“ gesprochen, die zu einem Bruch des
Vertragsverhältnisses führen würde (Diering et al. in LPK-SGB IX, 6. Aufl., zu §
59, S. 638 Rn. 8).
Das gestufte Vorgehen würde also im nächsten Schritt die
gemeinsame Anpassung des jeweiligen Vertragsbestandteils mit sich bringen. Inwieweit
nun ein Rechtsanspruch darauf besteht, müsste noch geklärt werden. Mit dem
Verlangen auf Anpassung des Vertrags müssten die konkreten Gründe dargelegt
werden, von der Partei mit dem Änderungswillen. Hinzuzufügen wäre noch, wie die
zukünftigen Bestimmungen aussehen sollen, damit nun die Gegenseite prüfen und
entscheiden kann. Die Vertragskommission wäre nach meinem Dafürhalten nicht das
richtige Gremium, weil die einzelnen Vertreter der Vereinigungen und Verbände
nicht empfangsberechtigt wären. Im Prinzip wäre es aber nur eine Formsache,
weil effektiv die Verhandlungen zu den strittigen Punkten sowieso von den
jeweiligen Vertretern übernommen werden. Einigt man sich auf die Anpassungen, müssen
aber nach die Vereinigungen und Verbände ihre Mitglieder befragen.
Erst wenn eine grundsätzliche Ablehnung auf Anpassung
vorliegt, entsteht ein Kündigungsgrund. Das wiederum wäre im neuen Text
klarzustellen, ob die „grundsätzliche Ablehnung“ ausgesprochen werden muss oder
nach erfolgloser Fristsetzung vermutet werden kann. Das Fehlen einer Begründung
der Kündigung, wie sie in § 59 Abs. 2 S. 2 SGB X empfohlen wird, bedeutet keine
Unwirksamkeit. Im Endeffekt würde eine Kündigung ohne Begründung das Außerkraftsetzen
jedenfalls nicht verhindern.
CGS
Ein paar letzte Worte:
Eine gut ausgearbeitete Kündigungsklausel kann den Parteien
klare Regeln und Verfahren für die Beendigung des Vertrags bieten, was dazu
beitragen kann, potenzielle Konflikte zu vermeiden. Sie kann auch festlegen,
unter welchen Bedingungen und mit welcher Frist eine Vertragspartei den Vertrag
kündigen kann. Sie stellt zwar nur ein sehr zentrales Element in einem Vertrag
dar, aber es ist ratsam, sich immer im Vorhinein mit dem Ausstieg aus einem
Vertrag vertraut zu machen.
Quelle:
Eigener Beitrag: „Könnte die Landesverordnung wieder
auferstehen?“ vom 12.6.2024
Notizen:
Ein Rahmenvertrag nach § 131 SGB IX ist ein öffentlich-rechtlicher
Vertrag. Wesentliches Merkmal hierfür ist, dass mindestens eine Behörde
Vertragspartner ist. In diesem Vertrag werden Sachfragen behandelt, die alle
von öffentlichem Interesse sind. Die Beteiligten in diesem Vertragsverhältnis
sehen sich gebunden und können nur im Wege eines gemeinsamen Willens diesen
Vertrag schließen.
Kommt es aber nun nicht zu einer übereinstimmenden
Willenserklärung, kann das Bundesland eine Rechtsverordnung erlassen.
Bild zum Beitrag eigene Aufnahme.
Das hier ist keine Rechtsberatung oder Aufforderung zur
Vornahme eines Rechtsgeschäftes. Der Beitrag stellt nur meine Sicht auf die
Dinge dar. Und eine solche Sicht kann sich immer ändern. Brauchen Sie
rechtliche Unterstützung, wenden Sie sich an die zuständigen Behörden, Sozial-
und Betroffenenverbände oder rechtskundige Dritte. Lesen Sie bitte ebenfalls
die Hinweise
zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss
sowie die Datenschutzerklärung.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Empfehlen Sie ein//gegliedert
weiter oder klicken Sie gleich reihum auf die übrigen Seiten dieses Blogs –
ersetzt das Applaudieren und ist
ein guter Motivator für mich.
Möchten Sie was sagen?
Schreiben Sie mir eine E-Mail – Ihre Meinung hilft mir,
meine Sichtweise neu zu überdenken. Meine E-Mail-Adresse finden Sie auf der
Seite Über mich.