Samstag, 19. August 2017

Eine (lange) Chronologie des Streits um Schulbegleitungen

Man sollte eigentlich das Thema längst ad acta gelegt haben. Doch noch immer gibt es so viele Fragen und Probleme, Vereinbarungen und Verständnisschwierigkeiten, dass man sich trotz allem weiterhin damit auseinandersetzen muss.

In Schleswig-Holstein hatte es jetzt zum Ende des letzten Jahres erneut Verhandlungen zwischen dem Land und seinen Kommunen gegeben, weil die einen eine Sicherstellung erreichen wollten und die anderen – boshaft gesprochen – die Gunst der Stunde nutzten. Das für sich genommen, ist auch recht interessant, zeigt es doch eine Auseinandersetzung in der Politik und Verwaltung, die es in sich hat.

Was nun kommt, ist zugegebener Maßen recht lang geworden. Die wirklich wesentlichen Punkte finden sich dort, wo es um die beiden BSG-Urteile geht. Alles andere ist nur Chronologie.


Wie der Streit im Land entstand

Das Landessozialgericht von Schleswig Holstein hatte noch am 17. Februar 2014 in einem Beschluss festgestellt, dass manche Tätigkeiten der Schulbegleitungen den „Kernbereich der pädagogischen Arbeit“ betreffen und somit nicht in den Aufgabenbereich der Eingliederungshilfe fallen. Aufgabe der Schule, so die Begründung des Landessozialgerichts, geht „laut Schulgesetz weit über die reine Wissensvermittlung hinaus“ hin zu einer inklusiven Schule. Daraufhin verweigerten viele Kommunen im Land die Kostenübernahme für Schulbegleitungen.

Damit der Schulbesuch an der Regelschule für Kinder mit Behinderungen nicht gefährdet war, trafen sich Landesregierung und kommunale Landesverbände im April 2015 und verständigten sich auf den Einsatz von Schulischen Assistenzkräften im Grundschulbereich (314 Stellen). Es zog sich allerdings noch weit über den angepeilten 1. August 2015 hin, weil nämlich zuerst die Finanzierung geklärt wie auch die Einstellungsverfahren in Gang gesetzt werden mussten.

Was man als Lösung in den Medien anpries, wurde dagegen von manchen Kommunen und ihren Landräten als Bestätigung ihrer Rechtsauffassung angesehen. Nicht die Kommunen als Eingliederungshilfeträger, sondern Schulen wären vorrangig zur Leistungsübernahme verpflichtet. In zwei Landkreisen wurden dann Bewilligungen unter dem Vorbehalt ausgestellt, dass bei Einsatz der Schulassistenten an den Grundschulen die Leistungsbescheide auslaufen würden bzw. nur bis zum Ende des ersten Schulhalbjahres im Januar 2016 gelten.

Landesrecht ist nicht Bundesrecht

Dass hier die Kreise gegen geltendes Bundesrecht verstießen, blieb irgendwie unkommentiert:

·        In seinem Urteil vom 22. März 2012 erklärte das Bundessozialgericht, dass grundsätzlich „alle Maßnahmen in Betracht kommen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer angemessenen Schulbildung geeignet und erforderlich sind, die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mildern“. Deshalb trifft die Leistungspflicht den Sozialhilfeträger (als Träger der Eingliederungshilfe), d.h. die Kommunen, selbst dann, wenn diese Maßnahmen in den Aufgabenbereich der Schulverwaltung fallen. Hervorgehoben wird zwar vom Gericht, dass davon der „Kernbereich der pädagogischen Arbeit“ ausgenommen wird, dies bezieht sich aber nicht auf unterstützende Leistungen zur Beseitigung oder Milderung von Behinderungsfolgen (vgl. BSG-Urteil Az. B 8 SO 30/10 R; Rz. 22). Somit würde die Schulbegleitung eine Hilfeleistung sein, die unter § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII fällt.

·        Zudem machte das Bundessozialgericht deutlich, dass der Nachranggrundsatz in § 2 SGB XII keine Ausschlussnorm darstellt. Leistungen müssen tatsächlich „erhalten“ werden, damit ein Sozialhilfeträger sich erfolgreich seiner Leistungspflicht entziehen kann (Rz. 25).

·        In einem weiteren Urteil vom 9. Dezember 2016 definierte das Bundessozialgericht, was es mit dem Kernbereich pädagogischer Arbeit meinte. Das Gericht schrieb, dass die „Vorgabe und Vermittlung der Lerninhalte, somit der Unterricht selbst, seine Inhalte, das pädagogische Konzept der Wissensvermittlung wie auch die Bewertung der Schülerleistungen“ den Lehrkräfte vorbehalten bleiben und damit diesem Bereich zuzuordnen wären. Die Schulbegleitung „flankiert“ lediglich bzw. sichert die pädagogische Arbeit der Lehrkraft ab; „alle integrierenden, beaufsichtigenden und fördernden Assistenzdienste“ berühren diesen Kernbereich pädagogischer Tätigkeit nicht (vgl. BSG-Urteil, Az. B 8 SO 8/15 R; Rz. 25).

·        Die zu erbringenden Hilfen müssen „geeignet“ und „erforderlich“ sein, um die Ziele der Eingliederungshilfe zu erreichen, führte das Bundessozialgericht weiter aus. Es muss dabei auf die Besonderheiten des Einzelfalls geschaut werden. Dabei ist ein „individualisiertes Förderverständnis“ anzuwenden und keine verallgemeinernden Annahmen und Differenzierungen über Hilfen mit „pädagogischen Charakter“ vorzunehmen; so etwas „verbietet“ sich, bestimmte das Gericht (Rz. 26). Eine angemessene Hilfe war im Verfahren eine „Fokussierung“ der Aufmerksamkeit der Schülerin auf die zu erledigende Aufgabe. Dass dabei seitens der Schulbegleitung in gewisser Weise „pädagogische Kenntnisse und Fertigkeiten notwendig waren und zur Anwendung kamen, … [war] qualitativ für die Beurteilung der Erforderlichkeit und Eignung der Hilfe ohne Bedeutung“ (Rz. 27).

·        Abschließend stellte das Bundessozialgericht dann klar, dass die Leistungspflicht, wenn auch „nachrangig“, bestehen bleibt. Eine Ablehnung der Leistung war nicht gerechtfertigt, hätte also nicht stattfinden dürfen, selbst wenn die Schulverwaltung zur Leistung vorrangig verpflichtet gewesen wäre. Das Gericht führte sogar aus, dass es unerheblich sei, welche andere „juristische Person“ für diese Hilfen zuständig gewesen wäre und auf welcher Rechtsgrundlage ein solcher Anspruch bestehen würde. Eine solche Frage wäre lediglich relevant für die Kostenerstattung „gegen einen denkbaren Schuldner nach Überleitung eines sich ggf aus dem Schulrecht ergebenden Anspruchs (§ 93 SGB XII)“ (Rz. 30).

Man kann daraus folgern, dass die Bundesrichter den Träger der Eingliederungshilfe, also die Kommunen, wie einen Ausfallbürgen betrachten. Dieser ist zuerst einmal verpflichtet, die geeigneten und erforderlichen Hilfen festzustellen, ohne dabei eine Abgrenzung zu anderen Bereichen vorzunehmen. Ziel ist, Hilfen für den Schulbesuch bereitzustellen und zu gewähren. Dass diese Sicherstellung vielleicht aufgrund des Landesrechts von Dritten eigentlich zu übernehmen ist, kann lediglich dazu führen, dass die Kommune sich die Mittel von diesen erstattet lässt. Von einem solchen Erstattungsverfahren müssen die Leistungsberechtigten, also die Eltern und ihre Kinder, unbehelligt bleiben. Es handelt sich dabei um ein internes Verfahren zwischen Eingliederungshilfe und z.B. dem landesrechtlich zur Inklusion verpflichteten Schulträger.

Land und Kommunen vereinbaren was

Am 7. November 2016 vereinbarten das Bundesland Schleswig-Holstein und die kommunalen Landesverbände eine Beteiligung des Landes an den Kosten der Integration auf kommunaler Ebene sowie weitere finanzielle Entlastungen. Die Vertreter der Kommunen erreichten jetzt, dass ein Teil der Kosten übernommen wurden für die Schuljahre 2016/2017 und 2017/2018 – man kann auch sagen, dass sich das Land irgendwie „freikaufte“.

Am 15. Dezember 2016 entstand dann ein Schriftstück mit der Überschrift „Empfehlungen des Ministeriums für Schule und Berufsbildung, des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung und den Kommunalen Landesverbänden zum Zusammenwirken von Schulbegleitung / Schulischer Assistenz an den Grundschulen“. Unterzeichner waren Vertreter von zwei Landesministerien wie auch Vertretern der Gemeinden, Städte und Landkreistag von Schleswig-Holstein. Diese Unterlage macht aber eher den Eindruck eines Vertrages. Die Beteiligten vereinbaren, dass das gemeinsame und übergeordnete Ziel „die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit (drohenden) Behinderungen aus einer Hand“ ist. Die Teilhabe dieser Kinder und Jugendlichen mit Behinderung ist „zu gewährleisten und zu fördern“ (S. 2).

Interessant und kritikwürdig an dieser Unterlage sind eigentlich alle Punkte:

-        In jedem Kreis soll eine „federführende Stelle als Ansprechpartner“ bestimmt werden, welche die Zusammenarbeit aller Beteiligten im Verfahren (Unterstützung behinderter Schüler zum Besuch an einer Regelschule) koordiniert. Eltern und Schüler sollen dabei umfassend einbezogen werden, damit Transparenz und Nachvollziehbarkeit der behördlichen Entscheidungen entsteht. Das bedeutet aber nicht, dass sich Eltern direkt an diese Stelle mit einem Antrag oder einer Beschwerde richten können – dazu müssten sie schließlich wissen, wer und wo diese Stelle wäre. Beteiligte sind zudem diejenigen, die über die Leistungsträgerschaft zu entscheiden haben (dazu später mehr).

-        Notwendige gutachterliche Prozesse sind zwischen Schule und Leistungsträger bestmöglich abzustimmen, damit es keine Doppelbegutachtungen gibt. Stellungnahmen von Ärzten, Therapeuten, Klassenlehrkraft und bisherigen Leistungserbringern wie auch den Eltern sollen zudem berücksichtigt werden. Am Ende soll dann ein Teilhabe- oder Förderplan stehen, der  „den Grundsätzen des Rehabilitationsrechts“ entspricht – klingt irgendwie nach einer Gesamtplankonferenz gem. § 58 SGB XII, allerdings ohne Mitspracherecht des behinderten Menschen und somit ohne Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechtes nach § 9 SGB XII.

-        Hinsichtlich der Leistungserbringung soll die Schulische Assistenz einbezogen werden. Hierzu würden sich die Sozialleistungsträger (!), der Träger der Schulischen Assistenz (!) und Schule über ein fachlich orientiertes „Unterstützungssetting“ abstimmen. Mit Sozialleistungsträger sind sehr wahrscheinlich die Eingliederungshilfeträger und Jugendhilfeträger gemeint, nicht aber Krankenkassen als Rehabilitationsträger. Träger der Schulischen Assistenz sind dagegen in der Regel die Schulen selber, auch wenn die Einstellung durch das Land erfolgte. Nicht mit einbezogen bzw. hier nicht benannt ist der Leistungserbringer für die Schulbegleitung.

-        Die Erbringung der als notwendig erachteten Unterstützungsleistungen soll im Wege der Zusammenarbeit zwischen den Trägern der Schulbegleitung und der Schulische Assistenz „im Benehmen mit der Schulleitung bzw. den Lehrkräften“ erfolgen. Das bedeutet, dass eine Steuerung der Leistungserbringung durch die Schule geschehen soll, was wiederum einer Orientierung nach den vorhandenen Ressourcen darstellt und nicht dem persönlichen Bedarf des Menschen mit Behinderung entspricht – eine totale Institutsorientierung bzw. das Gegenteil vom Wunsch- und Wahlrecht des Kindes und seiner Eltern.

-        Ist die Leistungsträgerschaft weiterhin streitig, soll eine „Clearing/Task Force“-Stelle erneut alle möglichen und „vorhandenen Ressourcen einschließlich … Sonderpädagogik und die Schulische Assistenz“ prüfen, damit eine Unterstützung dennoch gewährleistet ist. Diese Stelle setzt sich zusammen aus Vertretern der Sozial- und Jugendhilfe sowie der jeweiligen Schule vor Ort. Wenn zudem dies gewünscht ist, sollen auch Vertreter der beiden  Landesministerien beteiligt sein, damit eine „gütliche Einigung“ gefördert wird. Die Clearing-Stelle soll in Aktion treten, bevor ein Widerspruchsverfahren abschließend entschieden wird.

Das Landessozialgericht verabschiedet sich von seiner früheren Rechtsauffassung

Nachdem aber am 13. Januar 2017 das Landessozialgericht von Schleswig-Holstein sich nunmehr von seiner früheren Rechtsauffassung verabschiedete und erklärte, dass die schulrechtlichen Vorschriften nicht die Auslegung des SGB XII bestimmen können und die schulrechtlichen Bestimmungen nach einer inklusiven Schule keine Überschneidung mit den Aufgaben der Eingliederungshilfe darstellen, gibt es die in den „Empfehlungen“ genannte „gemischte Aufgaben- und Zuständigkeitssphäre von Schule und Eingliederungshilfe“ eigentlich nicht. Und somit müssten sich die oben genannten Punkte erledigt haben.

Dass es zu einer solchen Sammlung von „Empfehlungen“ gekommen ist, kann man nachvollziehen. Wie gesagt, erst durch den Beschluss des Landessozialgerichts sah man die Verantwortlichkeit „insbesondere“ bei einer „anderen“ Stelle (§ 2 Abs. 1 SGB XII), die sich ihrer Pflicht somit nicht durch Verweis auf die Vorschriften der Sozialhilfe entziehen durfte (Abs.2). Doch weil damit die Beschulung behinderter Kinder und somit eine Exklusion drohte, mussten sofort Verhandlungen aufgenommen werden. Für das Bundesland war dies eine sehr schwerwiegende Fehlentwicklung, der man begegnen musste.

Die Regelungen zur Kostenübernahme, auch wenn zeitlich befristet und nicht wirklich bedingungslos, waren nur ein Schritt. Man glaubte an eine „Grauzone“ zwischen den Bereichen Schulbegleitung als Leistung der Eingliederungshilfe und dem Auftrag der Schule, für eine inklusive Schule zu sorgen. Von daher war es notwendig, eine Verpflichtung für beide Seiten herzustellen, die man dann in „Handlungsempfehlungen“ einpackte. In diesem Schriftstück ging es nicht ums Geld, sondern um die Pflicht zur Leistung von unterstützenden Maßnahmen für Kinder mit und drohender Behinderung – und das ist ein Kunststück gewesen: Wer von den kommunalen Landesverbänden sich nun davon abkehren würde, trägt die Schuld am Versagen. Das Land dagegen hätte nun alles getan und würde in jedem Einzelfall für die Findung einer Lösung bereitstehen.

Wie es weitergeht – Fragezeichen.

Man kann an der Kompetenz der Höheren Verwaltung des Landes und den Kommunen schon zweifeln, weil man die höchstrichterliche Rechtsprechung zumindest aus dem ersten BSG-Urteil nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Was das zweite BSG-Urteil anbelangt, gab es hier offenbar eine terminliche Überschneidung, so dass man die klaren Worte daraus vielleicht überhörte. Andererseits schafften die Kommunen es, sich ein wenig mehr Geld vom Land zu erstreiten. Dafür geopfert wurden die Nerven der Eltern und die Zukunft der Kinder.

Wie geht es nun weiter? Werden die Schulassistenten abgeschafft oder weitet man ihren Einsatz sogar auf andere Bereiche aus? Immerhin erinnern sich die Landkreise daran, dass das Thema Schulassistenten eigentlich nur bis zum Ende des Schuljahres 2017/2018 läuft. Die Zeit läuft und nun wird man einen weiteren Akt in diesem Drama erwarten dürfen.

CGS




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