„Die Proteste nehmen Fahrt auf.“ – hieß es noch vor einiger
Zeit. Aber nachdem die Verbände ihre Stellungnahmen abgaben, kehrte Ruhe ein.
Oder es trat das Thema „Transformationsprozess“ ein wenig mehr in den
Vordergrund.
Wie weit das Sozialministerium gehen wird in Bezug auf die
Gesetzgebung mit der Landesverordnung, muss sich zeigen. Eine erste Einschätzung
lautet, dass man Ernst machen will damit. Zur selben Zeit denken andere darüber
nach, Verfassungsbeschwerde einzulegen. Das Problem dabei ist jedoch, dass
eigentlich nur unmittelbar Betroffene das tun können; zum Beispiel im Fall des
Versagens von Leistungsansprüchen, aber die wird es mit der Landesverordnung nicht
geben.
Die Interessenvertretungen der behinderten Menschen könnten was
unternehmen, so richtige Unruhe ist an der Stelle jedoch nicht hochgekocht. Die
Verbände der Leistungserbringer würden mit der grundgesetzlich geschützten
Berufsfreiheit argumentieren. Die wird allerdings mit der Verordnung nicht
eingeschränkt. Und ob sich die Städte und Gemeinden dagegen stellen, ist sehr
undenkbar (vgl. Art. 52 Verfassung-SH).
Also was genau ist so untragbar an dieser Landesverordnung zu
§ 131 Abs. 4 SGB IX?
Den Landesrahmenvertrag aus dem Jahr 2019 ergänzen und teil-ersetzen
Leistungsträger und Leistungserbringer sollen unter
Mitwirkung der Interessenvertretungen der behinderten Menschen einen
Rahmenvertrag über die Inhalte nach Teil 2 Kapitel 8 SGB IX zu den Leistungen
der Eingliederungshilfe vereinbaren (§ 131 SGB IX; ganz im Sinne eines „Nicht
ohne uns über uns“). Vertragsparteien sind nicht einzelne Kommunen oder soziale
Unternehmen, sondern es sind Gremien und Verbände. Dieser Rahmenvertrag stellt
die Grundlage dar für die Vereinbarungen mit den einzelnen sozialen Unternehmen
als Leistungserbringer (§ 125 SGB IX). Er enthält Regelungen, auf die sich die
Individual-Vereinbarungen in der Folge beziehen werden. Damit das Rad zudem
nicht immer „neu erfunden“ wird, vereinbart man darüber hinaus Muster-Vereinbarungen,
die später individuell angepasst werden (vgl. dazu ebenfalls die früheren
Beiträge zu einer solchen Muster-Vereinbarung in Hamburg).
Im § 131 SGB IX sind sieben Punkte aufgeführt, die
vertraglich geregelt werden müssen. Der Landesrahmenvertrag von
Schleswig-Holstein (kurz LRV-SH) benennt dagegen nur sechs Punkte. Schaut man die
weiteren Verweise an, findet man im Prinzip gänzliche Übereinstimmung zu den
bundesgesetzlichen Anforderungen – nur in Nr. 1 hat man sich etwas erspart, was
dennoch an anderer Stelle so vorhanden ist. Es fehlt also nichts, was die
Landesverordnung nachträglich zu bestimmen hat.
Es fehlt vielleicht an detaillierten Regelungen. Und
gerade weil es mit dem BTHG einen Aufbruch gab bei der Komplexleistung
Eingliederungshilfe in die Teilbereiche Wohnen und Versorgt-werden
(Sozialhilfe, SGB XII) sowie Fachleistung (Rehabilitation und Teilhabe, SGB
IX), braucht es weitergehende Bestimmungen und Verfahren. Die Landesverordnung
will also lediglich die Inhalte des Rahmenvertrags in Ordnung bringen, „…
soweit die Vertragsparteien der Regelung der Inhalte nach § 131 Abs. 1 S. 2 SGB
IX bislang nicht oder nicht vollständig nachgekommen sind“ (§ 1
Entwurf-Land-VO) – kritisieren kann man das durchaus, siehe dazu den vorherigen
Beitrag. Nur was genau ist nach Meinung des Sozialministeriums nicht oder nicht
vollständig im Rahmenvertrag bestimmt worden?
Die Regelungslücken: Wohnkosten
Diese Sache mit der Gleichstellung im Sozialhilferecht
sollte nicht dazu führen, dass das Wohnen in den bisherigen Wohnstätten
abgeschafft wird. Man erdachte sich einen Bestandsschutz, indem man die
„besonderen Wohnformen“ erfand. Die Flächen der Wohnstätten wurden aufgeteilt
in Fachleistungsflächen (mit technischen Bereichen), Mischflächen sowie Wohn-
und Nutzflächen. Die darauf zu verteilenden Mietkosten sind zwar
unproblematisch für den gesamten Bereich der Flächen für die Fachleistung
Eingliederungshilfe, wenn allerdings die Mietkosten bei den Wohn- und
Nutzflächen für die behinderten Menschen rechnerisch die ortsübliche
Vergleichsmiete übersteigen, braucht es eine Toleranz (bis 125 %) und eine Art
Auffanglösung (§ 42a Abs. 6 SGB XII mit Verweis auf § 113 Abs. 5 SGB IX).
Bislang gab es die Allgemeinen Verfahrensvereinbarungen
(AVV-SH), in denen die einzelnen Kostenarten und ihre Abgrenzbarkeit bestimmt
wurden. Damals ging es also rein um die Natur der Kostenarten. Mit dem BTHG gab
es einen Bruch, so dass man jetzt differenzieren muss zwischen den
Investitionen in der alten Zeit und denen in der neuen BTHG-Zeit.
Wartungskosten, die sich auf diese verschiedenen Investitionen beziehen, wären
somit ebenfalls zu trennen, auch bei einem Wechsel der Verträge.
Ein zusätzliches Erfordernis entsteht durch die
Neubewertung des Anteils der Warmmiete, den die Eingliederungshilfe zu
übernehmen hat bei Überschreiten der ortsüblichen Miete. Ändert sich letztere,
hat dies Auswirkungen auf Vergütung und – zusätzlich – das Mietverlangen gegen
den Leistungsberechtigten; zu kritisieren ist an dieser Stelle, dass die
Land-VO auf den letzten Punkt nicht eingeht, und somit die Interessen der
Leistungsberechtigten und der gesetzlich bestellten Betreuer völlig ausblendet
(§ 2).
Was man stattdessen erreichen will, ist ein Absenken der
Inventarpauschale. Bisher gab es eine Pauschale von beispielsweise 4.500 Euro
pro Wohnplatz, die man für Inventar ausgeben konnte. Von diesem Geld sollte man
als Leistungserbringer mindestens 85 % eingesetzt haben, um diesen Wert für die
Vergütungskalkulationen verwenden zu können (geprüft wurde dies m.W. aber fast
nie). Diese Inventarpauschale soll nunmehr auf die Wohn- und
Fachleistungsflächen verteilt werden. Wenn die Leistungserbringer in ihren
Mietverträgen darüber keine Bestimmung enthalten haben, wenn somit keine
Abschreibungsanteile oder Eigenkapitalzinsen kalkuliert hatten, wird es einen
Fehlbetrag geben (vgl. § 2 Abs. 6 Entwurf-Land-VO).
Die Regelungslücken: Verbindliche Beschlüsse
Nicht immer trifft man auf Regelungslücken. Wesentlicher
Bestandteil eines Rahmenvertrags ist die Vertragskommission, in der über die
Ergebnisse aus verschiedenen Arbeitsgruppen zu besonderen Themen und
Fragestellungen beschlossen wird. Die Beschlüsse der Vertragskommission (früher
einmal VK-SGB XII, jetzt VK-SGB IX oder ähnlich) sind bindend für alle
Vertragspartner; ja sie wirken sich sogar aus auf die Ebenen unterhalb des
Rahmenvertrags.
In § 12 LRV-SH hatten die Vertragsparteien erklärt, dass
die „Entwicklung von einheitlichen Maßstäben für die Wirksamkeit von
Leistungen“ weiter zu untersuchen ist (S. 1). Man stellte gemeinsam heraus, was
die Aufgabe der Eingliederungshilfe überhaupt sein sollte (individuelle
Lebensführung entsprechend der Würde des Menschen) und man unterstellte die
Auslegung des Rahmenvertrags genau diesen Grundsätzen und Interessen der
Leistungsberechtigten. Mit der Land-VO sollt es nun eine Ergänzung geben, wobei
es darüber allerdings schon VK-Beschlüsse gegeben haben soll (liegen mir an
dieser Stelle nicht vor).
Aktuell muss man hinterfragen, was mit Wirksamkeit in
Wirklichkeit gemeint ist. Man kann sie als ein Ergebnis betrachten
(Ergebnisqualität), man kann sie ebenso als einen Prozess verstehen, der zu
einem Ergebnis führen wird (Prozessqualität). Wenn also ein einmal
festgestellter Leistungsbedarf, natürlich unter Berücksichtigung des Wunsch-
und Wahlrechts des behinderten Menschen, im Ergebnis gedeckt worden ist, egal
wie aufwändig dies gewesen ist, kann die Wirksamkeit des Mitteleinsatzes bestätigt
werden – von Effizienz keine Spur, weil darauf es nicht ankommt. Wenn man das
Ganze als einen „kausalen und prozesshaften Zusammenhang zwischen eingesetzten
Mitteln und vereinbarten Zielen im Interesse einer Bedarfsdeckung“ sieht, kommt
es nicht mehr auf die tatsächliche Bedarfsdeckung an (ganz im Sinne eines „der
Weg ist das Ziel“).
Aus Sicht der Leistungsträger und Leistungserbringer ist
das alles nachvollziehbar. Die Interessen der Leistungsberechtigten werden
damit jedoch nicht bedient – in keiner Weise.
Man wird sich dieser Deckelung nicht entziehen können,
denn der Mitteleinsatz findet dank des Ressourcenvorbehalts nicht unbegrenzt
statt (sollte, ist aber so). Genau mit diesem Problem werden allerdings die
Leistungserbringer konfrontiert sein, denn sie müssen im Vorwege in ihrer
Kalkulation über die Strukturqualität eine Verpflichtung treffen und
anschließend mit der Abweichung zum Wunsch- und Wahlrecht des
Leistungsberechtigten leben müssen. Es sollen Gespräche mit den
Leistungsberechtigten stattfinden, in denen es eine Auseinandersetzung und
Überprüfung der vereinbarten Ziele (aus den Gesamtplänen) geben soll. Es
könnten anonymisierte Befragungen stattfinden in der Zielgruppe, bei den
Angehörigen und den Mitarbeitenden (nicht zu vergleichen mit einer Befragung
zur psychischen Belastungsanalyse). Und man soll sich im Anschluss daran mit
dem Leistungsträger austauschen, wobei eine Bewertung der Ziele aus dem
Gesamtplan selber nicht bedient werden sollen (vgl. § 3 Entwurf-Land-VO).
Es gibt aber verbindliche Beschlüsse der
Vertragspartner, die koexistieren sollen mit den Regelungen der
Landesverordnung. So etwas irritiert.
Die Regelungslücken: Personalschlüssel und sonstige Gelder
Schon zuletzt gab es Personal- bzw. Stellenschlüssel. In
den Wohnstätten hatte man zum Beispiel für Leitung eine Größe von 1:50
festgelegt; also eine Vollzeitkraft zu 50 Bewohnern oder Wohnplätzen. Für
Leistungen nach § 78 SGB IX (Assistenzleistungen als Teil der Leistungen zur
Sozialen Teilhabe) ist nunmehr ein Personalschlüssel von 1:52,5 einseitig
bestimmt worden (vgl. § 10 Abs. 2 Nr. 1 a) Entwurf-Land-VO).
Der Verwaltungsschlüssel wurde dagegen auf 1:51
festgelegt, und der für Wirtschafts- und Versorgungspersonal soll dem aus den
Vorzeiten entsprechen (vgl. b) und c); früher lag der P-Schlüssel für die
Verwaltungskräfte bei 1:47).
Diese Absenkung erscheint relativ erheblich (4,8 % und
7,8 %). Interessant ist nun, um wie viel diese Absenkung zu einem „Fehlbetrag“
bei der Vergütung der EGH-Fachleistung führt und wie hoch die Kompensation aus
der Vermietungsleistung ausfallen wird. Pro Wohnplatz vermindert sich der
Ansatz für die Personalkosten um 187 Euro im Jahr (das Jahres-Brutto beinhaltet
neben dem 12-fachen Monats-Brutto auch noch die Jahressonderzahlung und ein
Leistungsentgelt, die für die Vergütung maßgeblichen Personalkosten enthalten
zusätzlich noch den Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitgebers in Höhe von 20
% und dem Arbeitgeberbeitrag zur Altersversorgung um 6,45 %).
Zum Vergleich: Vergütet werden gem. § 26 Abs. 2 II. BV
zwar 230 Euro, diese wären hochzurechnen auf den aktuellen
Verbraucherpreisindex (Abs. 4). Und das bedeutet, dass trotz dieser Absenkung
am Ende ein Mehrbetrag von knapp 100 Euro herauskommt.
Ein abschließendes Fazit
Es wird auf jeden Fall komplizierter. Der neue Entwurf
zum Formularsatz kann in der Tat erschrecken. Die Leistungserbringer, die in
Einzelverhandlungen ihre benötigten Steigerungsraten beschließen wollen, haben
dann schon sehr viel zu tun. Die andere Seite hat viele Eintragungsfehler zu
klären und muss die Angaben hinterfragen.
Das geht natürlich alles, und man kann auch glauben,
dass der Formularsatz „richtig“ rechnet – schön wäre ein Einverständnis der
Vertragsparteien über Format und Formeln. Und schön wäre die Offenlegung der
vielen Kontrollen aus Gründen der Transparenz.
Weil sowieso keine Zeit mehr ist für Verhandlungen,
werden vermutlich alle Leistungserbringer diesen Transformationsprozess in
Anspruch nehmen und die Verhandlungen verschieben auf das neue Jahr („Aufgrund
der zeitlichen Enge…“).
Bei diesem Transformationsprozess handelt es sich um
eine Übereinkunft der Vertragskommission nach dem Rahmenvertrag von
Schleswig-Holstein. Eigentlich wollte man schon jetzt landesweit Vereinbarungen
nach dem neuen Vertragsrecht in Kapitel 8 SGB IX hergestellt haben. Das ist
aber bekanntermaßen nicht gelungen, so dass die Bestrebungen nun vertagt werden
müssen. Somit werden alle Beteiligten den Vertragszustand inklusive der
Vergütungen in das neue Jahr 2022 übernehmen, gleichzeitig sichert das Land zu,
die Vergütungen rückwirkend zum 1.1.2022 zu erhöhen, wenn die
trägerindividuelle Transformationsvereinbarung bis zum 30.6.2022 unterzeichnet
worden ist.
Kommt es trotz der Frist nicht zu einer Vereinbarung,
geht es gleich weiter in eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach neuem
Recht und mit den dann schon geeinten Inhalten. Die Entgelte steigen dann etwas
anders.
CGS
Das hier ist keine Rechtsberatung oder Aufforderung zur
Vornahme eines Rechtsgeschäftes. Der Beitrag stellt nur meine Sicht auf die
Dinge dar. Und eine solche Sicht kann sich immer noch ändern. Brauchen Sie
rechtliche Unterstützung, wenden Sie sich an die zuständigen Behörden, Sozial-
und Betroffenenverbände oder rechtskundige Dritte. Lesen Sie bitte ebenfalls die
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Was in der Landesverordnung von Schleswig-Holstein zu finden ist