Samstag, 11. Dezember 2021

Was in der Landesverordnung von Schleswig-Holstein zu finden ist

„Die Proteste nehmen Fahrt auf.“ – hieß es noch vor einiger Zeit. Aber nachdem die Verbände ihre Stellungnahmen abgaben, kehrte Ruhe ein. Oder es trat das Thema „Transformationsprozess“ ein wenig mehr in den Vordergrund.

Wie weit das Sozialministerium gehen wird in Bezug auf die Gesetzgebung mit der Landesverordnung, muss sich zeigen. Eine erste Einschätzung lautet, dass man Ernst machen will damit. Zur selben Zeit denken andere darüber nach, Verfassungsbeschwerde einzulegen. Das Problem dabei ist jedoch, dass eigentlich nur unmittelbar Betroffene das tun können; zum Beispiel im Fall des Versagens von Leistungsansprüchen, aber die wird es mit der Landesverordnung nicht geben.

Die Interessenvertretungen der behinderten Menschen könnten was unternehmen, so richtige Unruhe ist an der Stelle jedoch nicht hochgekocht. Die Verbände der Leistungserbringer würden mit der grundgesetzlich geschützten Berufsfreiheit argumentieren. Die wird allerdings mit der Verordnung nicht eingeschränkt. Und ob sich die Städte und Gemeinden dagegen stellen, ist sehr undenkbar (vgl. Art. 52 Verfassung-SH).

Also was genau ist so untragbar an dieser Landesverordnung zu § 131 Abs. 4 SGB IX?

 

Den Landesrahmenvertrag aus dem Jahr 2019 ergänzen und teil-ersetzen

Leistungsträger und Leistungserbringer sollen unter Mitwirkung der Interessenvertretungen der behinderten Menschen einen Rahmenvertrag über die Inhalte nach Teil 2 Kapitel 8 SGB IX zu den Leistungen der Eingliederungshilfe vereinbaren (§ 131 SGB IX; ganz im Sinne eines „Nicht ohne uns über uns“). Vertragsparteien sind nicht einzelne Kommunen oder soziale Unternehmen, sondern es sind Gremien und Verbände. Dieser Rahmenvertrag stellt die Grundlage dar für die Vereinbarungen mit den einzelnen sozialen Unternehmen als Leistungserbringer (§ 125 SGB IX). Er enthält Regelungen, auf die sich die Individual-Vereinbarungen in der Folge beziehen werden. Damit das Rad zudem nicht immer „neu erfunden“ wird, vereinbart man darüber hinaus Muster-Vereinbarungen, die später individuell angepasst werden (vgl. dazu ebenfalls die früheren Beiträge zu einer solchen Muster-Vereinbarung in Hamburg).

Im § 131 SGB IX sind sieben Punkte aufgeführt, die vertraglich geregelt werden müssen. Der Landesrahmenvertrag von Schleswig-Holstein (kurz LRV-SH) benennt dagegen nur sechs Punkte. Schaut man die weiteren Verweise an, findet man im Prinzip gänzliche Übereinstimmung zu den bundesgesetzlichen Anforderungen – nur in Nr. 1 hat man sich etwas erspart, was dennoch an anderer Stelle so vorhanden ist. Es fehlt also nichts, was die Landesverordnung nachträglich zu bestimmen hat.

Es fehlt vielleicht an detaillierten Regelungen. Und gerade weil es mit dem BTHG einen Aufbruch gab bei der Komplexleistung Eingliederungshilfe in die Teilbereiche Wohnen und Versorgt-werden (Sozialhilfe, SGB XII) sowie Fachleistung (Rehabilitation und Teilhabe, SGB IX), braucht es weitergehende Bestimmungen und Verfahren. Die Landesverordnung will also lediglich die Inhalte des Rahmenvertrags in Ordnung bringen, „… soweit die Vertragsparteien der Regelung der Inhalte nach § 131 Abs. 1 S. 2 SGB IX bislang nicht oder nicht vollständig nachgekommen sind“ (§ 1 Entwurf-Land-VO) – kritisieren kann man das durchaus, siehe dazu den vorherigen Beitrag. Nur was genau ist nach Meinung des Sozialministeriums nicht oder nicht vollständig im Rahmenvertrag bestimmt worden?

 

Die Regelungslücken: Wohnkosten

Diese Sache mit der Gleichstellung im Sozialhilferecht sollte nicht dazu führen, dass das Wohnen in den bisherigen Wohnstätten abgeschafft wird. Man erdachte sich einen Bestandsschutz, indem man die „besonderen Wohnformen“ erfand. Die Flächen der Wohnstätten wurden aufgeteilt in Fachleistungsflächen (mit technischen Bereichen), Mischflächen sowie Wohn- und Nutzflächen. Die darauf zu verteilenden Mietkosten sind zwar unproblematisch für den gesamten Bereich der Flächen für die Fachleistung Eingliederungshilfe, wenn allerdings die Mietkosten bei den Wohn- und Nutzflächen für die behinderten Menschen rechnerisch die ortsübliche Vergleichsmiete übersteigen, braucht es eine Toleranz (bis 125 %) und eine Art Auffanglösung (§ 42a Abs. 6 SGB XII mit Verweis auf § 113 Abs. 5 SGB IX).

Bislang gab es die Allgemeinen Verfahrensvereinbarungen (AVV-SH), in denen die einzelnen Kostenarten und ihre Abgrenzbarkeit bestimmt wurden. Damals ging es also rein um die Natur der Kostenarten. Mit dem BTHG gab es einen Bruch, so dass man jetzt differenzieren muss zwischen den Investitionen in der alten Zeit und denen in der neuen BTHG-Zeit. Wartungskosten, die sich auf diese verschiedenen Investitionen beziehen, wären somit ebenfalls zu trennen, auch bei einem Wechsel der Verträge.

Ein zusätzliches Erfordernis entsteht durch die Neubewertung des Anteils der Warmmiete, den die Eingliederungshilfe zu übernehmen hat bei Überschreiten der ortsüblichen Miete. Ändert sich letztere, hat dies Auswirkungen auf Vergütung und – zusätzlich – das Mietverlangen gegen den Leistungsberechtigten; zu kritisieren ist an dieser Stelle, dass die Land-VO auf den letzten Punkt nicht eingeht, und somit die Interessen der Leistungsberechtigten und der gesetzlich bestellten Betreuer völlig ausblendet (§ 2).

Was man stattdessen erreichen will, ist ein Absenken der Inventarpauschale. Bisher gab es eine Pauschale von beispielsweise 4.500 Euro pro Wohnplatz, die man für Inventar ausgeben konnte. Von diesem Geld sollte man als Leistungserbringer mindestens 85 % eingesetzt haben, um diesen Wert für die Vergütungskalkulationen verwenden zu können (geprüft wurde dies m.W. aber fast nie). Diese Inventarpauschale soll nunmehr auf die Wohn- und Fachleistungsflächen verteilt werden. Wenn die Leistungserbringer in ihren Mietverträgen darüber keine Bestimmung enthalten haben, wenn somit keine Abschreibungsanteile oder Eigenkapitalzinsen kalkuliert hatten, wird es einen Fehlbetrag geben (vgl. § 2 Abs. 6 Entwurf-Land-VO).

 

Die Regelungslücken: Verbindliche Beschlüsse

Nicht immer trifft man auf Regelungslücken. Wesentlicher Bestandteil eines Rahmenvertrags ist die Vertragskommission, in der über die Ergebnisse aus verschiedenen Arbeitsgruppen zu besonderen Themen und Fragestellungen beschlossen wird. Die Beschlüsse der Vertragskommission (früher einmal VK-SGB XII, jetzt VK-SGB IX oder ähnlich) sind bindend für alle Vertragspartner; ja sie wirken sich sogar aus auf die Ebenen unterhalb des Rahmenvertrags.

In § 12 LRV-SH hatten die Vertragsparteien erklärt, dass die „Entwicklung von einheitlichen Maßstäben für die Wirksamkeit von Leistungen“ weiter zu untersuchen ist (S. 1). Man stellte gemeinsam heraus, was die Aufgabe der Eingliederungshilfe überhaupt sein sollte (individuelle Lebensführung entsprechend der Würde des Menschen) und man unterstellte die Auslegung des Rahmenvertrags genau diesen Grundsätzen und Interessen der Leistungsberechtigten. Mit der Land-VO sollt es nun eine Ergänzung geben, wobei es darüber allerdings schon VK-Beschlüsse gegeben haben soll (liegen mir an dieser Stelle nicht vor).

Aktuell muss man hinterfragen, was mit Wirksamkeit in Wirklichkeit gemeint ist. Man kann sie als ein Ergebnis betrachten (Ergebnisqualität), man kann sie ebenso als einen Prozess verstehen, der zu einem Ergebnis führen wird (Prozessqualität). Wenn also ein einmal festgestellter Leistungsbedarf, natürlich unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts des behinderten Menschen, im Ergebnis gedeckt worden ist, egal wie aufwändig dies gewesen ist, kann die Wirksamkeit des Mitteleinsatzes bestätigt werden – von Effizienz keine Spur, weil darauf es nicht ankommt. Wenn man das Ganze als einen „kausalen und prozesshaften Zusammenhang zwischen eingesetzten Mitteln und vereinbarten Zielen im Interesse einer Bedarfsdeckung“ sieht, kommt es nicht mehr auf die tatsächliche Bedarfsdeckung an (ganz im Sinne eines „der Weg ist das Ziel“).

Aus Sicht der Leistungsträger und Leistungserbringer ist das alles nachvollziehbar. Die Interessen der Leistungsberechtigten werden damit jedoch nicht bedient – in keiner Weise.

Man wird sich dieser Deckelung nicht entziehen können, denn der Mitteleinsatz findet dank des Ressourcenvorbehalts nicht unbegrenzt statt (sollte, ist aber so). Genau mit diesem Problem werden allerdings die Leistungserbringer konfrontiert sein, denn sie müssen im Vorwege in ihrer Kalkulation über die Strukturqualität eine Verpflichtung treffen und anschließend mit der Abweichung zum Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten leben müssen. Es sollen Gespräche mit den Leistungsberechtigten stattfinden, in denen es eine Auseinandersetzung und Überprüfung der vereinbarten Ziele (aus den Gesamtplänen) geben soll. Es könnten anonymisierte Befragungen stattfinden in der Zielgruppe, bei den Angehörigen und den Mitarbeitenden (nicht zu vergleichen mit einer Befragung zur psychischen Belastungsanalyse). Und man soll sich im Anschluss daran mit dem Leistungsträger austauschen, wobei eine Bewertung der Ziele aus dem Gesamtplan selber nicht bedient werden sollen (vgl. § 3 Entwurf-Land-VO).

Es gibt aber verbindliche Beschlüsse der Vertragspartner, die koexistieren sollen mit den Regelungen der Landesverordnung. So etwas irritiert.

 

Die Regelungslücken: Personalschlüssel und sonstige Gelder

Schon zuletzt gab es Personal- bzw. Stellenschlüssel. In den Wohnstätten hatte man zum Beispiel für Leitung eine Größe von 1:50 festgelegt; also eine Vollzeitkraft zu 50 Bewohnern oder Wohnplätzen. Für Leistungen nach § 78 SGB IX (Assistenzleistungen als Teil der Leistungen zur Sozialen Teilhabe) ist nunmehr ein Personalschlüssel von 1:52,5 einseitig bestimmt worden (vgl. § 10 Abs. 2 Nr. 1 a) Entwurf-Land-VO).

Der Verwaltungsschlüssel wurde dagegen auf 1:51 festgelegt, und der für Wirtschafts- und Versorgungspersonal soll dem aus den Vorzeiten entsprechen (vgl. b) und c); früher lag der P-Schlüssel für die Verwaltungskräfte bei 1:47).

Diese Absenkung erscheint relativ erheblich (4,8 % und 7,8 %). Interessant ist nun, um wie viel diese Absenkung zu einem „Fehlbetrag“ bei der Vergütung der EGH-Fachleistung führt und wie hoch die Kompensation aus der Vermietungsleistung ausfallen wird. Pro Wohnplatz vermindert sich der Ansatz für die Personalkosten um 187 Euro im Jahr (das Jahres-Brutto beinhaltet neben dem 12-fachen Monats-Brutto auch noch die Jahressonderzahlung und ein Leistungsentgelt, die für die Vergütung maßgeblichen Personalkosten enthalten zusätzlich noch den Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitgebers in Höhe von 20 % und dem Arbeitgeberbeitrag zur Altersversorgung um 6,45 %).

Zum Vergleich: Vergütet werden gem. § 26 Abs. 2 II. BV zwar 230 Euro, diese wären hochzurechnen auf den aktuellen Verbraucherpreisindex (Abs. 4). Und das bedeutet, dass trotz dieser Absenkung am Ende ein Mehrbetrag von knapp 100 Euro herauskommt.

 

Ein abschließendes Fazit

Es wird auf jeden Fall komplizierter. Der neue Entwurf zum Formularsatz kann in der Tat erschrecken. Die Leistungserbringer, die in Einzelverhandlungen ihre benötigten Steigerungsraten beschließen wollen, haben dann schon sehr viel zu tun. Die andere Seite hat viele Eintragungsfehler zu klären und muss die Angaben hinterfragen.

Das geht natürlich alles, und man kann auch glauben, dass der Formularsatz „richtig“ rechnet – schön wäre ein Einverständnis der Vertragsparteien über Format und Formeln. Und schön wäre die Offenlegung der vielen Kontrollen aus Gründen der Transparenz.

Weil sowieso keine Zeit mehr ist für Verhandlungen, werden vermutlich alle Leistungserbringer diesen Transformationsprozess in Anspruch nehmen und die Verhandlungen verschieben auf das neue Jahr („Aufgrund der zeitlichen Enge…“).

Bei diesem Transformationsprozess handelt es sich um eine Übereinkunft der Vertragskommission nach dem Rahmenvertrag von Schleswig-Holstein. Eigentlich wollte man schon jetzt landesweit Vereinbarungen nach dem neuen Vertragsrecht in Kapitel 8 SGB IX hergestellt haben. Das ist aber bekanntermaßen nicht gelungen, so dass die Bestrebungen nun vertagt werden müssen. Somit werden alle Beteiligten den Vertragszustand inklusive der Vergütungen in das neue Jahr 2022 übernehmen, gleichzeitig sichert das Land zu, die Vergütungen rückwirkend zum 1.1.2022 zu erhöhen, wenn die trägerindividuelle Transformationsvereinbarung bis zum 30.6.2022 unterzeichnet worden ist.

Kommt es trotz der Frist nicht zu einer Vereinbarung, geht es gleich weiter in eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach neuem Recht und mit den dann schon geeinten Inhalten. Die Entgelte steigen dann etwas anders.

CGS

 

 

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