Dienstag, 21. November 2023

Eltern organisieren sich zum Wohnprojekt

Wenn aus den Kindern endlich Erwachsene werden, werden sie flügge und ziehen aus. Kinder mit Behinderung möchten das vielleicht auch ganz gerne, aber das Wie stellt sich als eine sehr hohe Hürde dar – nicht nur für die Kinder selbst, die Eltern haben ebenfalls so ihre Bedenken.  

Klar, da gibt es zum einen die Eltern, die einfach nur klammern und nicht loslassen können. Sie sehen in den Kindern noch die kleinen hilflosen Wesen, manche von ihnen haben ja immerhin mit diversen Einschränkungen zu kämpfen, so dass sie stets als „hilflos“ gelten. Und dann wieder sind unter diesen Hilflosen sogar richtig „Wilde“, die es kaum erwarten können, ihr Leben endlich selbstbestimmt anzupacken ohne die nervigen Eltern.

Wie geht man also vor? – Seit geraumer Zeit machen Wohnprojekte die Runde. Eltern und Zugehörige der Herangewachsenen mit Einschränkungen organisieren sich und „ein Leben nach dem Elternhaus“.

Und darum geht es im folgenden Beitrag.

 

Die ersten Überlegungen

Das fing eigentlich en passant an (frz. im Vorbeigehen), hört man. Eltern saßen zusammen und besprachen vielleicht die ständigen Probleme in Schule oder beim Sport. Da fragt eine, wie das denn so sein wird mit dem Auszug aus dem (lieben) Elternhaus. In einem Wohnheim natürlich, oder so, kam es dann zurück. Das mit dem Wohnheim ist so eine Sache, muss man allerdings erwidern (zur Geschichte am besten einmal unter Wikipedia nachlesen). Seit der Reform der Eingliederungshilfe gibt es formal diese stationären Einrichtungen nicht mehr, sondern man spricht nun von einer besonderen Wohnform; besonders deswegen, weil es sich nicht um eine eigene Wohnung handelt, sondern um Räumlichkeiten, die für diesen Personenkreis „zur Erbringung von Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches [Eingliederungshilfe] allein oder zu zweit ein persönlicher Wohnraum und zusätzliche Räumlichkeiten zur gemeinschaftlichen Nutzung nach Satz 3 [in § 42a Abs. 2 SGB XII] zu Wohnzwecken überlassen werden“ (§ 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB XII).

Ein konkretes Beispiel für so eine besondere Wohnform ist eine stationäre Wohneinrichtung, in der eine Gruppe aus sieben oder zwei Gruppen mit insgesamt zwölf behinderten Menschen leben und ein Unternehmen der Behindertenhilfe ihre Betreuungsleistungen erbringt. Man spricht dabei von einer Fachleistung der Eingliederungshilfe und einem Leistungserbringer einerseits sowie Leistungen zum Wohnen und dem Versorgt-Werden auf der Grundlage der Sozialhilfe andererseits. Das mag zwar sehr kompliziert klingen, gerade auch da verschiedene gesetzliche Grundlagen zu beachten sind, doch im Prinzip geht es um die Begleitung von Menschen mit besonderen Hilfebedarfen.

Eine solche Begleitung kann schon beim Aufstehen und Fertigwerden beginnen, die Einnahme des Frühstücks und das Anziehen für die anstehende Fahrt zur Tagesförderstätte, Werkstatt für behinderte Menschen oder in einem Beschäftigungsprojekt. Die Rückkehr von der Beschäftigung, die pflegerische Versorgung (in Abgrenzung zur Pflege nach dem SGB XI) sowie das Anbieten einer Tagesstruktur in Zeiten ohne Betätigung gehören ebenfalls dazu. Und ebenso die Begleitung in der Nacht, wenn es ganz besondere Herausforderungen zu meistern gibt. Besondere Wohnformen können allerdings nicht alles, aber sie sind eine Alternative zu ganz vielen anderen Wohnformen.

 

Weitere Wohnformen

Aus den ersten Überlegungen entsteht eine Gruppe an interessierten Eltern, die sich darüber den Kopf zerbrechen, wo die Kinder hinziehen sollen. Neben der besonderen Wohnform gibt es noch zwei weitere:

Die eigene Wohnung haben. In Kooperation mit einer Wohnungsbaugenossenschaft errichteten zwei Leistungserbringer mit unterschiedlicher Klientel einen Apartmenthauskomplex. Die Vermietung erfolgte mit Unterstützung der kommunalen Fachdienststellen an den jeweiligen, besonderen Personenkreis. Alle Apartments waren in diesen Fällen für ein- oder zwei-Personen-Haushalte konzipiert (sog. Pärchen-Wohnen auch für geistig behinderte Menschen sollte möglich sein). In einer anderen Konstellation hatte ein Leistungserbringer sogar mehrere Apartments selbst angemietet, um sie an Menschen mit Hilfebedarf / Leistungsbedarfen zu untervermieten. Ein solches Vorgehen ist zwar mit wirtschaftlichen Risiken verbunden, aber im Zusammenspiel mit den Fachdienststellen konnte eine tragfähigere (nicht frei von Risiken) Lösung gefunden werden. Ebenfalls das Wohnen in Kleinst-Apartments in Studenten-Wohnheimen mit Betreuung an bestimmten Tagen durch den Dienst der Behindertenhilfe (Ambulante Begleitung) gibt es.

In einer Wohngemeinschaft leben. Für die Betreuung sollten in einem Fall Studenten sorgen, in einem anderen waren es sozialpädagogisch Ausgebildete. Die Betreuungskräfte bekamen nicht nur Wohnraum im heiß umkämpften Wohnungsmarkt zu günstigen Mieten, sie wurden sogar für ihren Arbeitseinsatz bezahlt. Wie bei jeder Wohngemeinschaft muss man sich eine Wohn/Hausordnung und Regeln für das gemeinsame Zusammenleben geben, man hat gemeinsame Flächen (z.B. Wohnzimmer und Küche) sowie eigene, private Zimmer (Rückzugsmöglichkeiten).

Die Umsetzung erfordert viel Phantasie und die Mitwirkung aller Beteiligten – zu den Beteiligten zählen ganz besonders die Menschen, die dort wohnen werden.

 

Die Findungsphase

Das wird sich finden, sagte mir ein Vater. Wichtig ist, dass die Eltern zusammenkommen und einfach mal die Gedanken kreisen lassen. Da könnten weitere hinzukommen, so ein anderer Vater, weil man schließlich nicht alles selber machen kann. Folgende Kreise kann das ganze Projekt jedenfalls sozusagen in seinen Bann ziehen:

Die Kinder, die da ausziehen werden. Sie muss man hören und mit ihnen das Kommende besprechen. Übergeordnetes Ziel ist schließlich die Erlangung des Rechts zur „unabhängigen Lebensführung“ (Art. 19 UN-BRK).

Selbst wenn die weiteren Schritte nicht ganz klar sind, man kann es sichtbar machen. Ein Instrument, was in jüngster Zeit immer mehr an Beliebtheit gewonnen hat, ist die persönliche Zukunftsplanung (PZP); abgehalten in Form eines Seminars bei einem Verband ergeben sich da ganz neue Einsichten. Mit der PZP die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder manchmal im wahrsten Sinne des Wortes aufdecken; und Bildlich dargestellt, entsteht auf diese Weise das erste Schriftstück in der Findungsphase.

Die Eltern der Kinder, die da ausziehen. Sie treffen zusammen und wollen alles bereden, aber im Weiteren treten sowas wie die Aktiven hervor. Sie stellen später die Kerngruppe dar, die etwas organisiert und vorrangig entscheidet. Die Nicht-so-Aktiven unterstützen und helfen an mancher Stelle mit: sie agieren vorwiegend im Hintergrund.

Wichtig ist, die Zielvorstellungen und mögliche Differenzen zu besprechen. Hilfreich wäre ein Konzept, um eine gemeinsame Grundlage zu schaffen für beide Parteien. Braucht man ein Haus, muss man jemanden haben, der es kauft. Müssen Verträge mit Dritten geschlossen werden, bestimmt man am besten eine Stellvertretung. Mit diesem zweiten Schriftstück erreichen jedenfalls die Eltern daher nun den Höhepunkt in der Findungsphase.

Die Betreuer, die die Kinder begleiten sollen. Eine erste Kontaktaufnahme wäre schon mal ganz nützlich zu so einer Gruppe, einem Dienst oder größeren, regionalen Anbieter derartiger Leistungen. Gemeint sind also die Fachleistungen, und nicht so sehr die Wohnleistungen, auch wenn beides irgendwie miteinander verbunden sein wird.

Die Betreuer tun das nicht für umsonst. Mit der Anbahnung werden weitere Eckpfeiler gesetzt und die rechtlichen Rahmenbedingungen herausgestellt. Um dabei mehr Planungssicherheit zu erlangen, braucht es eine Absichtserklärung, die gegebenenfalls an weitere Stellen (Stakeholder) gehen muss. Was sich damit ergibt, ist das dritte und wahrscheinlich letzte Schriftstück in der Findungsphase.

 

Der nächste Schritt bzw. die ersten Gehversuche

Im Prinzip wird man wahrscheinlich mit den drei Wohnformen außerhalb des Elternhauses beginnen: die besondere Wohnform, die Wohngemeinschaft oder das eigene Apartment. Und dann bilden sich so langsam die Akteure heraus, die da irgendwie mitreden werden. Auf jeden Fall offenbart sich ein Skript, oder Drehbuch, ein Pfad mit Entscheidungspunkten, die abzuarbeiten sind.

·        Was will das Kind? – Persönliche Zukunftsplanung als erster Wegbereiter.

·        Wo und Wie wird das Kind leben wollen und können? – Den passenden Wohnort und das geeignete (barrierefreie) Wohngebäude finden (Miete oder Finanzierung).

·        Wer soll was machen? – Die Eltern klären das mit dem Wohnen und lernen die Betreuungsmöglichkeiten vor Ort kennen (Anbahnungen zur Kommune, einem speziellen Dienst oder Fach-Leistende).

Alles gleichzeitig anzugehen, ist ziemlicher Raubbau an der eigenen Gesundheit. Sich die Aufgaben einzuteilen und zu verteilen, erfordert ein gemeinsames Wiedersehen und Besprechen. Dies übernimmt zuerst einmal die Kerngruppe. Sie wird vermutlich personell klein sein und aus ganz wenigen „Machern“ und „Bestimmern“ bestehen. Die weiteren Detail-Fragen, die es nach den ersten Gehversuchen zu klären gibt, haben es jedoch teilweise schon in sich.

·        Wenn man nicht mietet sondern kauft, wem soll das Gebäude gehören? – den Eltern, den Kindern, den investierenden Dritten?

·        Wenn es einem gehört, wie soll das Gebäude betriebsbereit gehalten werden? – Betriebskosten, Wärme, Strom, Instandhaltung? Wer kümmert sich (verwaltet das Gebäude)?

·        Wenn es irgendwie Probleme gibt, wer soll entscheiden dürfen? – Und wie kommt man aus allem wieder raus?

·        Wenn man hier nun organisiert ist, welche Rechtsform sollten sich die Beteiligten geben? – eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder ein Verein? Eine Stiftung oder eine Personengesellschaft mit besonderen Vertretungs- und Haftungsregelungen? Wenn wir schon von Haftung sprechen, wäre eine Kapitalgesellschaft nicht doch das Beste?

Vieles muss nicht sofort beantwortet werden, vieles darf man vertagen; wie gesagt: Es wird sich finden.

CGS

 

Weitere Quellen:

Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.

https://www.lebenshilfe.de/informieren/wohnen

WOHN:SINN - Bündnis für inklusives Wohnen e.V.

https://www.wohnsinn.org/

 

(letzter Aufruf aller Quellen und Links in diesem Beitrag am 21.11.2023)

 

Notizen:

1.

Bevor es mit dem BTHG losging, waren Heime als stationäre Einrichtungen bekannt. Erwachsene behinderte Menschen wurden dann untergebracht in Wohngruppen mit sieben, zehn oder vielleicht sogar über zwanzig anderen. In ländlichen Gebieten finden sich heute sogar noch Gebäudekomplexe mit weit über 100 Wohnplätzen (die Geschichte dazu ist ernüchtern und gehört meiner Ansicht nach in jeden Lehrplan). Das wird ganz bestimmt anders, da es nun eine ganz andere Denkrichtung mit der UN-BRK gibt.

Einige Jahre zuvor hatte sich jedenfalls die Idee mit dem „Sozialraum“ durchgesetzt und analog zur Pflege entstanden ambulante Dienste in der Behindertenhilfe. Die Betreuung im eigenen Wohnraum wurde als ein Grundpfeiler verstanden für echte Gleichberechtigung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Zudem versprach sie billiger zu sein, als wenn ein Leben lang der Sozialstaat die immer teurer werdenden Einrichtungen finanziert (Stichworte wären: Einrichtungsfinanzierung und Personenzentrierung); bis heute, kann man behaupten, ist das eher ein Trugschluss, da es lediglich eine Umverteilung der Kosten von der Sozialhilfe (SGB XII) weg und in die (neue) Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) gegeben hat.

Langfristig wird es günstiger, so die Befürwortenden, weil die Automatik, mit der behinderte Menschen in die Heime abgeschoben wurden, nicht mehr gibt. Sie werden als Teil des Sozialraums vom Sozialraum umsorgt.

2.

Beim Immobilien-Erwerb sieht es für Käufer wieder besser aus. Zwar sind die Hypotheken-Zinsen enorm gestiegen, aber mit den letzten Zinsanstiegen der Notenbanken kam es nicht erneut zu einer Verteuerung. Natürlich ist ein Zinssatz von 4 % im Vergleich zu dem von vor zwei, drei Jahren ausgesprochen teuer, doch so ein Zinsniveau gab es vor fast zwanzig Jahren. Was es auf jeden Fall braucht, ist eine gute Finanzierungsberatung mit einem Vergleich über verschiedene Anbieter hinweg.

Nach Meinung einiger Kenner der Märkte ist jetzt ein Tiefpunkt erreicht, auch wenn es nach wie vor einige Verkäufer in Erinnerung der Hochpreis-Phase utopische Preisvorstellungen durchsetzen wollen. Verhandeln wird sich immer lohnen.

Das, was da erspart gespart wurde mit dem Verhandeln, plus viel Eigenkapital wird benötigt, um ggf. das Wunschobjekt bedarfsgerecht auszustatten. Da wäre einerseits der energetische Zustand der Immobilie, den man mit einer Modernisierung bei Dämmung, Heizung oder Fenstern verbessern muss, andererseits die Erstausstattung mit funktioneller Küche und Badezimmer (vielleicht sogar ergänzt um bestimmte Hilfseinrichtungen speziell für körperbehinderte Menschen).

Und was ist, wenn das Geld nicht reicht? – schwierig, aber nicht unmöglich. Ein Finanzberater wird dazu etwas sagen können. Und dann gibt es immer noch andere mögliche Quellen: Aktion Mensch, die Kommune, Stiftungen oder sogar Investoren. Doch das würde eine andere Geschichte sein.

Aktion Mensch, Förderprogramm zu Selbstbestimmtes Wohnen

https://www.aktion-mensch.de/foerderung/foerderprogramme/lebensbereich-wohnen/selbstbestimmtes-wohnen

3.

Deutsche Bundestag

Vor 60 Jahren: Bundestag beschließt Bundessozialhilfegesetz

https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw18-kalenderblatt-bundessozialhilfegesetz-837714

4.

Alle Bilder vom BING Image Creator erzeugt.

 

 

Das hier ist keine Rechtsberatung oder Aufforderung zur Vornahme eines Rechtsgeschäftes. Der Beitrag stellt nur meine Sicht auf die Dinge dar. Und eine solche Sicht kann sich immer noch ändern. Brauchen Sie rechtliche Unterstützung, wenden Sie sich an die zuständigen Behörden, Sozial- und Betroffenenverbände oder rechtskundige Dritte. Lesen Sie bitte ebenfalls die Hinweise zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss sowie die Datenschutzerklärung.

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