Dienstag, 27. Juni 2023

Wer noch und überraschend ohne Inflationsausgleich auskommen soll

Das mit dem Inflationsausgleich ist wohl doch kein Gewinn. Am 8.5.2023 schrieb die Gewerkschaft VERDI an das Bundesfinanzministerium, am 22.3.2023 hatte sogar der GKV-Spitzenverband speziell zur Pflegevergütungsfähigkeit dieses Geldes das Bundesgesundheitsministerium kontaktiert. In Summe kam dabei nichts heraus. Nur das Problem deutete sich an, dass es mit der Refinanzierung dieser Personalkosten schwierig wird. 

Die Sichtweise der Leistungsträger erscheint erst einmal plausibel und begründet. Man wird sich auf die gesetzlichen Regelungen besinnen und einen Nachweis fordern. Doch ob es wirklich eines Nachweises braucht, ist eigentlich sehr fraglich. Erst wenn die geforderten Vergütungen im oberen Zwei-Drittel der Vergleichsgruppe liegen würden, wäre eine Überprüfung erforderlich. 

Leistungsträger und Leistungserbringer machen es sich jedenfalls sehr schwer momentan. Und das wird damit zu einer Belastung bei den Beschäftigten führen. 


Kurze Rückschau

Arbeitgeber-Dachverband VKA und die Gewerkschaften folgten nach einem gehörigen Hin-und-Her dem Schlichterspruch und erklärten, dass die Tabellenentgelte erst 2024 gesteigert werden. Für 2023 (korrekt: bis einschl. Februar 2024) sollte eine Sonderzahlung zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise gem. § 3 Nr. 11 c EStG geleistet werden. Das Besondere an diesem Geld sind Steuer- und SV-Beitragsfreiheit. 

Die Tarifeinigung vom 22.4.2023 wurde in einen eigenen Tarifvertrag übernommen: dem TV Inflationsausgleich. Am 17.5.2023 erklärte die Bundestarifkommission der Gewerkschaft VERDI, dass man diesem Beschluss nicht widersprechen würde, so dass der Tarifvertrag am 18.5.2023 in Kraft trat. Die Zahlung sollte mit dem Juni-Gehalt starten – wie immer auch vorbehaltlich der Annahme durch die Mitglieder in den Arbeitgeberverbänden, was später ein wichtiger Punkt sein wird. 

Die Gewerkschaften hatten jedenfalls diese Tarifeinigung nicht favorisiert, mussten sich aber anscheinend „geschlagen“ geben. Die Wirtschaftsexperten und Berater der Bundesregierung warnten immerzu, dass mit einer Lohnerhöhung ein sogenannter Sekundäreffekt ausgelöst werden würde. Die primäre Inflations-Teuerung würde sekundär eine Lohnerhöhung zur Folge haben. Lohnerhöhungen wiederum wären von Natur aus dauerhaft, denn eine Rücknahme gibt es schließlich nicht, so dass die allgemeine Teuerung einen weiteren Anschub erhält. Die Teuerungsspirale dreht sich weiter. 

Ziel wäre stattdessen, Lohnerhöhungen bis auf weiteres zu vermeiden, um die schon hohen Preisniveaus nicht mehr anzuheben. 


Die Sicht der Leistungsträger

In Schleswig-Holstein kam es kürzlich zu einer vorübergehenden Haushaltssperre. Das Entsetzen war groß, der Widerstand schwoll kräftig an, die Landesregierung ruderte aber wieder zurück (siehe unten in der Quellen-Übersicht). Das Problem ist jedoch groß: die Teuerung trifft die öffentlichen Haushalte ebenso, und die können nicht mal schnell so ihre Einnahmen verbessern. 

Die Lösung dazu lautet, es bei den anstehenden Vergütungsverhandlungen ein wenig genauer zu nehmen. Im Leistungsrecht finden sich an vielerlei Stellen wichtige Bestimmungen zur Hinnahme von Personalkosten auf Grundlage von tariflichen Vereinbarungen und anderen. Zum Beispiel heißt es in § 38 SGB IX zu den Verträgen mit Leistungserbringern (Rehabilitationsdienste und –einrichtungen, Kap. 7 im Teil 1), dass die „Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsregelungen … [bei Verträgen auf Grundlage dieses Gesetzes, eig. Anmerkung] … nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden [kann]“ (Abs. 2). Für Leistungserbringer in der Eingliederungshilfe (Kap. 8 im Teil 2) gibt es dagegen die kleine Einschränkung, dass die „Bezahlung [wie zuvor in § 38, eig. Anmerkung] … dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden [kann], soweit die Vergütung aus diesem Grunde oberhalb des unteren Drittels liegt“ (§ 124 Abs. 1); damit will man die Sache mit dem externen Vergleich ein wenig berücksichtigt haben – das zwar nur am Rande, doch später wieder ein wichtiger Punkt. 

Es gibt viele weitere Stellen, die prinzipiell festlegen, dass tarifliche Vergütungen beim Personal nicht unwirtschaftlich sind. Auf diese Weise folgt man einem Grundsatzurteil des BSG vom 29.1.2009 zur Frage der Wirtschaftlichkeit einer Vergütung im Bereich der Pflegeversicherung. Mit der gesetzlichen Regelung wird dies von daher auch auf die Eingliederungshilfe übertragen, weil die Interessenlage als gleichwertig anzusehen ist (vgl. u.a. auch BT-Drucksache 18/10523, 61). 


Das Problem der Analog-Anwender

Für die Leistungserbringer bedeutet dies zuerst einmal, dass sie ihre Geeignetheit darlegen müssen. Nach dem Gesetz ist ein Leistungserbringer dann geeignet, wenn entsprechend der Grundsätze in § 104 SGB IX (Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalls; Eingliederungshilfe) die Leistungen „wirtschaftlich und sparsam“ erbracht werden. Im Vorwege sollte es dazu bereits einen Austausch oder eine Abstimmung mit den Leistungsträgern (vor Ort) gegeben haben, damit ein Leistungsberechtigter sich etwas aussuchen kann (gem. Individualisierungsgrundsatz) und ein Leistungsträger auf die Leistungen eines externen Dritten zurückgreifen kann (vgl. § 124 Abs. 1 S. 1). Neben dem Konzept müsste es dementsprechend einen Nachweis geben zur Tarifanwendung. 

Im Strukturbogen für die Verhandlungen über eine Vergütung (Vergütungsvereinbarung) werden zumindest entsprechende Angaben gemacht. Ein Leistungsträger würde also prüfen müssen, ob es eine Tarifzugehörigkeit gibt (mindestens per Selbsterklärung, wenn nicht sogar durch Vorlage eines Mitgliedsnachweises in der Tarifgemeinschaft oder klare Nennung im Tarifvertrag z.B. in einer tariflichen Sonderregelung). Beim TV Inflationsausgleich mussten Arbeitgeber entweder schriftlich widersprechen oder konnten die Annahme per Stillschweigen übernehmen (die Gewerkschaft VERDI unterschrieb). Arbeitgeber in einer Tarifgemeinschaft werden vom Verband vertreten, der wiederum Mitglied ist im Dachverband – das kann man alles nachlesen. Jedenfalls folgt daraus, dass ein Mitglied in der Tarifgemeinschaft alle im Zusammenhang stehenden Tarifverträge beachten muss. 

Die sogenannten Analog-Anwender, also solche Arbeitgeber, die zwar nicht Mitglied in der Tarifgemeinschaft sind, aber die Abschlüsse „analog = entsprechend“ umsetzen wollen, sind rechtlich da ganz anders gestellt. Es gibt augenscheinlich keine rechtliche Verpflichtung zur Anwendung. Das bedeutet wiederum, dass sie etwas wie eine Selbstverpflichtung benötigen, oder die Sache wie eine betriebliche Übung deutet, oder vielleicht sogar eine betriebliche Vereinbarung zur Annahme dieser Tarifeinigungen vorlegt. Jedenfalls würde es einer Freiwilligkeit entsprechen, der somit die zwingende Erforderlichkeit aus dem Leistungsrecht fehlt. Keine Freiwilligkeit würde es sein, wenn die einzelnen Arbeitsverträge den Einbezug des Tarifvertrags beinhalten. 


Die Bezahlung tariflicher Vergütungen ist wirtschaftlich

Zu prüfen wäre, ob die durch den Leistungserbringer geforderte Vergütung, wenn denn diese mit dem Inflationsausgleich kalkuliert wurde, wirtschaftlich angemessen ist (vgl. § 124 Abs. 1 S. 3). Wirtschaftlich angemessen ist eine Vergütung in jedem Fall, wenn sie im „unteren Drittel“ im Rahmen eines „externen Vergleichs“ liegen würde. Und dann wäre Schluss mit den Verhandlungen. 

„Liegt die geforderte Vergütung oberhalb des unteren Drittels, kann sie wirtschaftlich angemessen sein, sofern sie nachvollziehbar auf einem höheren Aufwand des Leistungserbringers beruht und wirtschaftlicher Betriebsführung entspricht.“ (S. 4). 

Wirtschaftlich angemessen ist die Bezahlung „tariflich vereinbarter Vergütungen“ (S. 6). 

Das klingt ein wenig wie „Kreisverkehr“, bedeutet meiner Ansicht nach jedoch nur, dass Leistungserbringer, obwohl nicht Mitglied in der Tarifgemeinschaft, wenn sie dennoch in eindeutiger Anlehnung an den Tarif bezahlen, damit einen „höheren Aufwand“ begründen können. Man muss nach dem Gesetz nicht Mitglied einer Tarifgemeinschaft sein. Sobald sich die Bezahlung der Vergütungen auf einen Tarif stützt, kalkulieren die Leistungserbringer wirtschaftlich. Das Problem wäre dann aber, dass man als Leistungserbringer dieses Handeln beweisen muss. 

Vor kurzem machte die Runde eine Schiedsstellenentscheidung zur Wirtschaftlichkeit von sogenannten AT-Gehältern von Geschäftsführenden. Die Seite der Leistungsträger soll (ich habe es noch nicht genau nachgelesen!) die externen Vergleichsdaten nicht beigebracht haben. Das wiederum zeigt, dass man das mit dem Externen Vergleich ernst nehmen muss. Will man behaupten, dass eine geforderte Vergütung in den oberen zwei Dritteln von der Vergleichsgruppe liegt bzw. die Vergütung aufgrund des TV Inflationsausgleichs womöglich unwirtschaftlich ist, müssen die Vergleichsdaten offengelegt werden. Das ist nicht mal eben so möglich.

Stellt sich damit die Frage, was nun passiert in diesem Juni?! – Es macht die Runde, dass ein erster Leistungserbringer, welcher nicht Mitglied der Tarifgemeinschaft ist, aber angeblich schon immer den TVÖD angewendet hat (also ein Analog-Anwender), diese Sonderzahlung nicht ausschütten wird an die Beschäftigten, einfach aus der Angst heraus, dieses Geld mit der Vergütung nicht refinanziert zu bekommen – das wäre bitter für alle. 

CGS




Quelle:

Paritätischer Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein

Veröffentlicht am 17.5.2023

Breites Bündnis fordert angesichts der Haushaltssperre: Keine Kürzungen - Soziale Daseinsfürsorge absichern und stärken!

„Als Verbände und Gewerkschaften nehmen wir den Schritt der Haushaltssperre mit großer Sorge auf. Schon 2009, als das letzte Mal eine Landesregierung zu diesem drastischen Mittel greifen musste, waren die Einschnitte und Kürzungen nur schwer zu überstehen. Anders als vor 14 Jahren trifft dieser Schritt nun zusätzlich auf komplett veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen. … Die unterzeichnenden Organisationen fordern daher die Landesregierung eindringlich auf, von Einsparungen im Bereich der sozialen Daseinsfürsorge – von Beratungsangeboten, Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, der Ehrenamtsunterstützung, über Migrations- und Integrationsprojekten bis hin zur Unterstützung des sozialen Wohnungsbaus – Abstand zu nehmen. Gleichzeitig müssen die Verbände intensiv in die Überlegungen der Landesregierung einbezogen werden – und zwar bevor es zu Entscheidungen kommt, bei deren Folgenbeseitigung man nur zu gern auf die Unterstützung der Verbände zurückgreift. …“

(letzter Aufruf am 27.6.2023)



Das hier ist keine Rechtsberatung oder Aufforderung zur Vornahme eines Rechtsgeschäftes. Der Beitrag stellt nur meine Sicht auf die Dinge dar. Und eine solche Sicht kann sich immer noch ändern. Brauchen Sie rechtliche Unterstützung, wenden Sie sich an die zuständigen Behörden, Sozial- und Betroffenenverbände oder rechtskundige Dritte. Lesen Sie bitte ebenfalls die Hinweise zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss sowie die Datenschutzerklärung.

Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Empfehlen Sie ein//gegliedert weiter oder klicken Sie gleich reihum auf die übrigen Seiten dieses Blogs – ersetzt das Applaudieren und ist ein guter Motivator für mich.

Möchten Sie was sagen? 

Schreiben Sie mir eine E-Mail – Ihre Meinung hilft mir, meine Sichtweise neu zu überdenken. Meine E-Mail-Adresse finden Sie auf der Seite Über mich.


Wer noch und überraschend ohne Inflationsausgleich auskommen soll