Dienstag, 28. Oktober 2014

Pflegebedürftigkeit als Problem von Einrichtungsträgern

Am 17.9.2014 veröffentlichte die Bundesvereinigung Lebenshilfe das Ergebnis einer Umfrage zum Thema „Eingliederungshilfe / Pflege und Interne Tagesstruktur“ (Fußnote 1). Antworten von 149 der insgesamt 1.082 angeschriebenen ambulante und stationäre Wohneinrichtungen (darunter befanden sich auch Träger mit mehreren Einrichtungen), wie auch ambulante Pflegedienste und andere ambulante Dienste der Lebenshilfe wurden ausgewertet. Damit lag die Beteiligung bei rd. 14 %, was m.E. eine gewisse Aussagekraft bietet. Auch wenn die Befragung nur unter Einrichtungsträgern der Lebenshilfe stattgefunden hatte, Einrichtungsträger mit anderer Verbandszugehörigkeit werden höchstwahrscheinlich ähnliche Erfahrungen machen.

Das Ergebnis der Umfrage soll hier allerdings nicht zum Thema gemacht werden, sondern das Problem von Einrichtungsträgern mit der steigenden Pflegebedürftigkeit von Bewohnern. Immerhin bieten Wohneinrichtungen keine Pflegeleistungen an, sondern Leistungen der Eingliederungshilfe. Oder drastischer gesagt: Pflegeleistungen werden nicht vergütet!

„Doch!“, könnte an dieser Stelle eingeworfen werden, denn es findet sich folgende Vorschrift (Fettdruck von mir):

§ 43a SGB XI, Inhalt der Leistung

Für Pflegebedürftige in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen, in der die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft, die schulische Ausbildung oder die Erziehung behinderter Menschen im Vordergrund des Einrichtungszwecks stehen (§ 71 Abs. 4), übernimmt die Pflegekasse zur Abgeltung der in § 43 Abs. 2 genannten Aufwendungen zehn vom Hundert des nach § 75 Abs. 3 des Zwölften Buches vereinbarten Heimentgelts. Die Aufwendungen der Pflegekasse dürfen im Einzelfall je Kalendermonat 256 Euro nicht überschreiten. Wird für die Tage, an denen die pflegebedürftigen Behinderten zu Hause gepflegt und betreut werden, anteiliges Pflegegeld beansprucht, gelten die Tage der An- und Abreise als volle Tage der häuslichen Pflege.

Bei den in § 43 Abs. 2 SGB XI genannten Aufwendungen handelt es sich um sogenannte „pflegebedingte Aufwendungen, die Aufwendungen der sozialen Betreuung und die Aufwendungen für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege“ für „Pflegebedürftige in vollstationären Einrichtungen“.

Damit werden nur für solche Bewohner, die eine Pflegebedürftigkeit in Form einer Pflegestufe aufweisen können, von der Pflegekasse maximal 256 EUR pro Monat vergütet. Die Auszahlung erfolgt allerdings nicht automatisch an den Einrichtungsträger, sondern an denjenigen, der mit der Pflegekasse abrechnen kann. Einrichtungsträger erbringen zwar die Leistungen, wie man anhand der Umfrage der Bundesvereinigung Lebenshilfe erkennen kann, doch sie haben keine Leistungsvereinbarung mit den Pflegekassen. Der Hinweis auf das Heimentgelt nach § 75 Abs. 3 SGB XII hilft insofern nicht weiter. Tatsächlich nutzen Sozialhilfeträger diese Regelung, um einen Teil der an die Einrichtungsträger gezahlten Vergütungen nach § 75 Abs. 3 SGB XII refinanziert zu bekommen. Es stellt sich hier die Frage: Wieso?

Bewohner mit einer anerkannten Pflegestufe, die zusätzlich dem Personenkreis nach § 53 SGB XII angehören, haben einen zweifachen Anspruch: gegenüber der Pflegekasse und gleichzeitig gegenüber dem Sozialhilfeträger. Dieser Anspruch ist allerdings begrenzt auf die in § 43 a i.V.m. § 43 Abs. 2 SGB XI genannten Leistungen bzw. Aufwendungen. Normalerweise tritt gem. § 2 SGB XII die Sozialhilfe zurück (Nachrangprinzip), da vorranging ein Dritter zu Leistungen verpflichtet ist. Weil aber die Leistungen im Interesse des Leistungsberechtigten nicht zersplittert werden sollen, übernimmt getreu dem Motto „Hilfe aus einer Hand“ nur ein Leistungsträger, und in diesem Fall ist es generell der Sozialhilfeträger, die Bedarfsdeckung. Dass das dann so passiert, wird z.B. in einer Vereinbarung zwischen den Pflegekassen und den Sozialhilfeträgern geregelt (Fußnote 2), wobei der Sozialhilfeträger die Geltendmachung kraft Gesetzes vornimmt.

§ 95 SGB XII, Feststellung der Sozialleistungen

Der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe kann die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen. Der Ablauf der Fristen, die ohne sein Verschulden verstrichen sind, wirkt nicht gegen ihn. Satz 2 gilt nicht für die Verfahrensfristen, soweit der Träger der Sozialhilfe das Verfahren selbst betreibt.

Interessanterweise benötigen Pflegekassen sogenannte „Institutskennzeichen“ der an diesem Verfahren beteiligten abrechnenden Stellen; und dies sind dann die Sozialhilfeträger.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Leistungserbringung durch den Einrichtungsträger erfolgt, dieser aber keine andere, als die nach § 75 Abs. 3 SGB XII vereinbarte Vergütung abrechnen kann. Wenn zwischenzeitlich der Bedarf aufgrund einer erhöhten Pflegebedürftigkeit für den Einrichtungsträger gestiegenen ist, bekommt dieser deswegen keine höhere Vergütung. Erst in Neuverhandlungen mit dem Sozialhilfeträger könnte ein besserer Personalschlüssel vereinbart werden, der dann mit einer höheren Vergütung entgolten wird (die Betonung liegt hier auf „könnte“).

Aber auch der Sozialhilfeträger erzielt keinen Vorteil, da sein Refinanzierungspotential gem. § 43 a SGB XI auf 256 EUR pro Monat und Pflegebedürftigen begrenzt ist. Im Vergleich zu den üblichen Heimentgelten erscheint ein solcher Betrag eher gering. Doch wie teuer Pflegeleistungen sind, lässt sich nur mit einer Modellrechnung erahnen:

Beispiel 1: nur Waschen 20 Minuten täglich.
Bei einem Pflegebedarf von etwa 20 Minuten täglich an 30,44 Tagen im Monat, ergeben sich etwa 10,15 Zeitstunden pro Monat als Personalbedarf für Pflegehandlungen (siehe Fußnote 3). Bei einem Stundensatz von 20 bis 30 EUR hätte man Kosten von insgesamt 203 bis 304 EUR im Monat; in etwa ein ausgeglichenes Geschäft, doch kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an und die Personalkosten des Einrichtungsträgers.

Beispiel 2: Waschen 20 Min., Rasieren 10 Min. tgl. sowie 3-mal täglich Toilettengang á 7 Minuten.
Bei einem Pflegebedarf von 20 + 10 + (3 x 7) = 51 Minuten täglich an 30,44 Tagen im Monat, ergeben sich etwa 26 Zeitstunden pro Monat als Personalbedarf für Pflegehandlungen. Bei einem Stundensatz von 20 bis 30 EUR hätte man nunmehr Kosten von 517 bis 776 EUR im Monat (gerundet); kein ausgeglichenes Geschäft mehr.

In der von der Bundesvereinigung vorgelegten Umfrage gaben nur 9,5 % der Teilnehmer an, dass der Pflegebedarf in den letzten fünf Jahren „gleich geblieben“ ist. Im Umkehrschluss heißt dies, dass der Pflegebedarf durch die Bank angestiegen ist, wobei mehrere Teilnehmer aussagten, dass sich der Pflegebedarf zwar erhöht habe, aber eine „offizielle Höherstufung“ nicht stattfand (S. 2 der Umfrageergebnisse). Somit ist der reale Aufwand noch viel höher anzunehmen, als es jede einrichtungsinterne Statistik über die Bewohnerschaft nach Pflegestufen darstellt.

Als Ursache für den gestiegenen Pflegebedarf werden Erhöhtes Alter (95,6 %) und eine gestiegene Anzahl an schwerst-mehrfach behinderten Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, (62,5 %) in den Ergebnissen der Umfrage genannt (S. 4).

Der erhöhte Pflegebedarf findet sich dagegen zumeist bei der Grundpflege (97,2 %) und Behandlungspflege (68,7 %) wieder (S. 5). Inkontinenz, Nahrungsaufnahme und Körperpflege werden im Fall der Grundpflege als die Tätigkeiten identifiziert, die als Ursache für den gestiegenen Bedarf angesehen werden. Dagegen sind es im Fall der Behandlungspflege Wundversorgung und Medikamentengabe durch Injektion (S. 6 und 7).

Einrichtungsträger müssen hier reagieren und ihren Personalmix entsprechend ausrichten. Wo noch in früheren Jahren Erzieher gesucht wurden, werden es heute mehr und mehr Pflegefachkräfte und Altenpfleger sein. Dem entgegen wirkt aber der stete Fachkräftemangel, so dass soziale Unternehmen wieder gefordert sind, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen. Und das kann nur geschehen, wenn auskömmliche Vergütungen gezahlt werden, was bei chronisch knappen Haushalten gar nicht erst diskutiert werden kann.

Einrichtungsträger können aber insofern agieren, indem sie beständig Verhandlungen mit Sozialhilfeträger führen und ihr Leistungsangebot entsprechend dem Hilfebedarf ausrichten – sprich: altert die Bewohnerschaft und ändern sich die Pflegestufen, muss auch das Personal neu ausgerichtet werden und es entsteht ein erhöhter Fortbildungsaufwand. Zur Not müssen Interessenten mit hohen Einschränkungen abgewiesen bzw. stark pflegebedürftige Bewohner zum Auszug bewegt werden.

Da der Erstattungsbetrag der Pflegekassen auf die 256 EUR begrenzt ist, fehlt es den Sozialhilfeträgern am Interesse, die Pflegestufen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) kontinuierlich überprüfen zu lassen. Erst wenn die Politik die Schranke des § 43 a SGB XI fällt, wird mehr Bewegung in die Sache kommen.

CGS



Fußnote 1:
Bezug über die Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V., www.lebenshilfe.de

Fußnote 2:

Fußnote 3: