Sonntag, 6. März 2016

Das Strukturbildungsgebot abgeleitet für die Eingliederungshilfe

Soziale Leistungen sind eigentlich ein Leistungsversprechen des Sozialstaates an den bedürftigen Bürger. Dem entgegen steht immer wieder die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates, was auch als Ressourcenvorbehalt bekannt ist. Denn was nützt es, wenn einem bedürftigen Menschen die Hilfe zwar zuerkannt wird, aber Hilfe nicht geleistet werden kann, weil die nötigen Versorgungsstrukturen schlichtweg fehlen. Der Sozialstaat muss von daher gefordert sein, entsprechende Strukturen zu schaffen, doch geht das nur über konkretes, einklagbares Recht. Somit stellen sich zwei Fragen: Wie leitet sich der Anspruch des leistungsberechtigten Menschen aus dem Gesetz ab? Und wo findet sich, wenn überhaupt, ein Strukturbildungsgebot?

§ 1 SGB I gibt vor, dass das Recht auf soziale Leistungen dazu geschaffen wurde: „ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen“ (Abs. 1). Im Folgeabsatz findet sich aber schon ein eingetragenes Recht, wonach „die zur Erfüllung der in Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen“ sollen (Abs. 2). Schon sehr frühzeitig bestimmt das Gesetz Ansprüche und Pflichten – allerdings an dieser Stelle noch nicht konkret formuliert.

In § 2 SGB I wird nunmehr Bezug genommen auf die zuvor genannten Aufgaben und auf die „nachfolgenden sozialen Rechte“ verwiesen (Abs. 1 S. 1). Überhaupt liest sich dieser Absatz, wie eine Einschränkung der Ansprüche aus § 1; denn wenn die im Sozialgesetz genannten weiteren Rechte keine entsprechenden Vorgaben liefern, können keine Ansprüche verwirklicht werden. Auch wenn diejenigen Stellen, welche verantwortlich sind für die Feststellung des individuellen Leistungsbedarfs (Leistungsträger, § 12 SGB I), bei ihrer Ermessensausübung dazu angehalten sind, „die sozialen Rechte möglichst weitgehend“ zu verwirklichen, so sind Ressourcen, wenn sie nicht vorhanden sind, nicht notwendigerweise zu erschaffen.

Für die Schaffung der Ressourcen sind die Leistungsträger zuständig, die gem. § 12 in den §§ 18 bis 29 SGB I genannt sind. Ob es allerdings ein Gebot bzw. eine gesetzliche Verpflichtung für diese gibt, entsprechende Versorgungsstrukturen zu schaffen, muss sich aus den einzelnen Vorschriften ergeben. Zum Beispiel ist in den Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen, das Schwerbehindertenrecht, besondere Rechtsstellung dieser Leistungsberechtigten im Sozialgesetzbuch Neunten (SGB IX) tatsächlich eine solche Verpflichtung enthalten. So heißt es in § 19 Abs. 1 S. 1 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe): „Die Rehabilitationsträger wirken gemeinsam unter Beteiligung der Bundesregierung und der Landesregierungen darauf hin, dass die fachlich und regional erforderlichen Rehabilitationsdienste und -einrichtungen in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stehen.“ (Fettdruck von mir).

Rehabilitationsträger sind im Einzelnen in § 6 SGB IX aufgeführt und übernehmen die in § 5 SGB IX definierte Leistungsgruppen.


§ 6 SGB IX
§ 5 Ziff. 1 SGB IX
§ 5 Ziff. 2 SGB IX
§ 5 Ziff. 3 SGB IX
§ 5 Ziff. 4 SGB IX

Rehabilitationsträger
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
1.
gesetzlichen Krankenkassen
Ja
--
Ja
--
2.
Bundesagentur für Arbeit
--
Ja
Ja
--
3.
gesetzlichen Unfallversicherung
Ja
--
--
Ja
4.
gesetzlichen Rentenversicherung und Alterssicherung der Landwirte
Ja
--
Ja
--
5.
Träger der Kriegsopferversorgung und die Träger der Kriegsopferfürsorge im Rahmen des Rechts der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden
Ja
--
--
Ja
6.
Träger der öffentlichen Jugendhilfe
Ja
Ja
--
Ja
7.
Träger der Sozialhilfe
Ja
Ja
--
Ja

Sozialhilfe wird von den überörtlichen und örtlichen Trägern gem. § 3 SGB XII geleistet. Zu den örtlichen Trägern zählen die Kreise und kreisfreien Städte, soweit durch Landesrecht nichts anderes bestimmt worden ist. Demzufolge würde die Pflicht zur Schaffung von ausreichenden Versorgungsstrukturen auf die Bundesländer übergehen.

Eingliederungshilfe ist eine spezielle Form der Sozialhilfe. § 8 Ziff. 4 SGB XII verweist auf die entsprechenden Regelungen im 6. Kapitel bzw. auf die §§ 53 bis 60 SGB XII. Diese bestimmen die Ansprüche auf Leistungen für Menschen, „die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind“ (§ 53 Abs. 1 SGB XII).

Aus § 13 SGB XII kann leider nun keine Pflicht zur Schaffung von Versorgungsstrukturen herausgelesen werden. Die Vorschrift bezieht sich zwar auf „Leistungen für Einrichtungen“, doch damit ist eher gemeint, wie die Prioritäten gesetzt werden müssen in der Abfolge der Leistungsbewilligungen. Der Gesetzgeber schreibt vor, dass in der Bewilligungspraxis die ambulanten Leistungen den stationären vorgehen. Es besteht die Annahme, dass die Kosten für ambulante Leistungen niedriger ausfallen, weil nur noch die Fachleistungen benötigt werden für die Bedarfsdeckung; strukturell bedingte Kosten, wie z.B. die einer Einrichtung, entfallen (Grundsatz  „Ambulant vor Stationär“).   

Dagegen finden sich im 10. Kapitel, in den §§ 75 bis 81 SGB XII, genau die Vorschriften, die man hinsichtlich der Frage nach dem Strukturbildungsgebot verorten würde. Während in § 75 Abs. 1 SGB XII ein Rückverweis auf den vorgenannten § 13 SGB XII zu finden ist, werden im selben Absatz zugleich Dienste in die Vorschriften mit einbezogen. In Abs. 2 S. 1 heißt es: „Zur Erfüllung der Aufgaben der Sozialhilfe sollen die Träger der Sozialhilfe eigene Einrichtungen nicht neu schaffen, soweit geeignete Einrichtungen anderer Träger vorhanden sind, ausgebaut oder geschaffen werden können“ (Fettdruck von mir).

Anders ausgedrückt: Wenn Einrichtungen vorhanden sind, sollen diese genutzt werden. Und wenn Einrichtungen nicht vorhanden sind, sollen die Träger der Sozialhilfe (siehe oben zu § 3 SGB XII) diese neu schaffen.

Dies alles ist meine Interpretation, und sie erfolgt abseits der Lehr- und Praxis-Kommentare. Es gibt aber auch andere, die ebenfalls ein (noch vorhandenes) Strukturbildungsgebot (manchmal auch als Strukturbildungsprinzip benannt) erkennen wollen. Da wird zum einen von einem „Sicherstellungsauftrag“ des Sozialstaates gesprochen, zum anderen leitet man aus Artikel 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) eine Verpflichtung gegenüber Menschen mit Behinderungen ab. Dem allen entgegen steht aber der sogenannte Ressourcenvorbehalt, der seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht formuliert wurde und bereits mehrere Male von mir kritisiert wurde – allerdings in einem anderen Zusammenhang. Sofern Landesrecht diesen Ressourcenvorbehalt weiter vorsieht (z.B. im Schulrecht des Landes Schleswig-Holstein), könnte es hier einen Konflikt geben, der nur zugunsten des höheren Rechts (Bundesrecht bricht Landesrecht) aufgelöst werden kann. Weil aber mit der Reform des Bundessozialhilfegesetzes (§ 93 BSHG) marktwirtschaftlicher Wettbewerb eingeführt wurde, werden viele Gegner des Strukturbildungsgebots den staatlichen Auftrag zur Verfügungsstellung „geeigneter Einrichtungen“, so wie es in der 1961-Fassung des BSHG stand, verneinen.

Wie immer man dazu stehen will, letztlich stellt sich die Frage, was man mit diesem Wissen in Entgeltverhandlungen bewirken kann. Sind Leistungsträger dazu angehalten, die bestehenden Strukturen nicht zu gefährden? Wie viel Leistungsfähigkeit muss vorgehalten werden?

CGS



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