Soziale Leistungen
sind eigentlich ein Leistungsversprechen des Sozialstaates an den bedürftigen
Bürger. Dem entgegen steht immer wieder die Leistungsfähigkeit des
Sozialstaates, was auch als Ressourcenvorbehalt bekannt ist. Denn was nützt es,
wenn einem bedürftigen Menschen die Hilfe zwar zuerkannt wird, aber Hilfe nicht
geleistet werden kann, weil die nötigen Versorgungsstrukturen schlichtweg
fehlen. Der Sozialstaat muss von daher gefordert sein, entsprechende Strukturen
zu schaffen, doch geht das nur über konkretes, einklagbares Recht. Somit
stellen sich zwei Fragen: Wie leitet sich der Anspruch des
leistungsberechtigten Menschen aus dem Gesetz ab? Und wo findet sich, wenn
überhaupt, ein Strukturbildungsgebot?
§ 1 SGB I gibt vor, dass das Recht auf soziale Leistungen
dazu geschaffen wurde: „ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche
Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch
für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den
Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur
Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen“ (Abs. 1). Im Folgeabsatz findet
sich aber schon ein eingetragenes Recht, wonach „die zur Erfüllung der in
Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen
rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen“ sollen (Abs. 2). Schon sehr
frühzeitig bestimmt das Gesetz Ansprüche und Pflichten – allerdings an dieser
Stelle noch nicht konkret formuliert.
In § 2 SGB I wird nunmehr Bezug genommen auf die zuvor
genannten Aufgaben und auf die „nachfolgenden sozialen Rechte“ verwiesen (Abs.
1 S. 1). Überhaupt liest sich dieser Absatz, wie eine Einschränkung der
Ansprüche aus § 1; denn wenn die im Sozialgesetz genannten weiteren Rechte
keine entsprechenden Vorgaben liefern, können keine Ansprüche verwirklicht
werden. Auch wenn diejenigen Stellen, welche verantwortlich sind für die
Feststellung des individuellen Leistungsbedarfs (Leistungsträger, § 12 SGB I),
bei ihrer Ermessensausübung dazu angehalten sind, „die sozialen Rechte
möglichst weitgehend“ zu verwirklichen, so sind Ressourcen, wenn sie nicht
vorhanden sind, nicht notwendigerweise zu erschaffen.
Für die Schaffung der Ressourcen sind die Leistungsträger
zuständig, die gem. § 12 in den §§ 18 bis 29 SGB I genannt sind. Ob es
allerdings ein Gebot bzw. eine gesetzliche Verpflichtung für diese gibt,
entsprechende Versorgungsstrukturen zu schaffen, muss sich aus den einzelnen
Vorschriften ergeben. Zum Beispiel ist in den Regelungen für behinderte und
von Behinderung bedrohte Menschen, das Schwerbehindertenrecht, besondere Rechtsstellung
dieser Leistungsberechtigten im Sozialgesetzbuch Neunten (SGB IX)
tatsächlich eine solche Verpflichtung enthalten. So heißt es in § 19 Abs. 1 S.
1 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe): „Die Rehabilitationsträger wirken gemeinsam
unter Beteiligung der Bundesregierung und der Landesregierungen darauf hin,
dass die fachlich und regional erforderlichen Rehabilitationsdienste und
-einrichtungen in ausreichender Zahl und
Qualität zur Verfügung stehen.“ (Fettdruck von mir).
Rehabilitationsträger sind im Einzelnen in § 6 SGB IX
aufgeführt und übernehmen die in § 5 SGB IX definierte Leistungsgruppen.
§ 6 SGB IX
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§ 5 Ziff. 1 SGB IX
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§ 5 Ziff. 2 SGB IX
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§ 5 Ziff. 3 SGB IX
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§ 5 Ziff. 4 SGB IX
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Rehabilitationsträger
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Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
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Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
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Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen
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Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
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1.
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gesetzlichen Krankenkassen
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Ja
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--
|
Ja
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--
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2.
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Bundesagentur für Arbeit
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--
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Ja
|
Ja
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--
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3.
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gesetzlichen Unfallversicherung
|
Ja
|
--
|
--
|
Ja
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4.
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gesetzlichen Rentenversicherung und Alterssicherung
der Landwirte
|
Ja
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--
|
Ja
|
--
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5.
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Träger der Kriegsopferversorgung und die Träger der
Kriegsopferfürsorge im Rahmen des Rechts der sozialen Entschädigung bei
Gesundheitsschäden
|
Ja
|
--
|
--
|
Ja
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6.
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Träger der öffentlichen Jugendhilfe
|
Ja
|
Ja
|
--
|
Ja
|
7.
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Träger der Sozialhilfe
|
Ja
|
Ja
|
--
|
Ja
|
Sozialhilfe wird von den überörtlichen und örtlichen
Trägern gem. § 3 SGB XII geleistet. Zu den örtlichen Trägern zählen die Kreise
und kreisfreien Städte, soweit durch Landesrecht nichts anderes bestimmt worden
ist. Demzufolge würde die Pflicht zur Schaffung von ausreichenden
Versorgungsstrukturen auf die Bundesländer übergehen.
Eingliederungshilfe ist eine spezielle Form der
Sozialhilfe. § 8 Ziff. 4 SGB XII verweist auf die entsprechenden Regelungen im
6. Kapitel bzw. auf die §§ 53 bis 60 SGB XII. Diese bestimmen die Ansprüche auf
Leistungen für Menschen, „die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1
Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft
teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung
bedroht sind“ (§ 53 Abs. 1 SGB XII).
Aus § 13 SGB XII kann leider nun keine Pflicht zur
Schaffung von Versorgungsstrukturen herausgelesen werden. Die Vorschrift
bezieht sich zwar auf „Leistungen für Einrichtungen“, doch damit ist eher
gemeint, wie die Prioritäten gesetzt werden müssen in der Abfolge der
Leistungsbewilligungen. Der Gesetzgeber schreibt vor, dass in der
Bewilligungspraxis die ambulanten Leistungen den stationären vorgehen. Es
besteht die Annahme, dass die Kosten für ambulante Leistungen niedriger
ausfallen, weil nur noch die Fachleistungen benötigt werden für die
Bedarfsdeckung; strukturell bedingte Kosten, wie z.B. die einer Einrichtung, entfallen
(Grundsatz „Ambulant vor Stationär“).
Dagegen finden sich im 10. Kapitel, in den §§ 75 bis 81
SGB XII, genau die Vorschriften, die man hinsichtlich der Frage nach dem
Strukturbildungsgebot verorten würde. Während in § 75 Abs. 1 SGB XII ein Rückverweis
auf den vorgenannten § 13 SGB XII zu finden ist, werden im selben Absatz zugleich
Dienste in die Vorschriften mit einbezogen. In Abs. 2 S. 1 heißt es: „Zur
Erfüllung der Aufgaben der Sozialhilfe
sollen die Träger der Sozialhilfe eigene Einrichtungen nicht neu schaffen,
soweit geeignete Einrichtungen anderer Träger vorhanden sind, ausgebaut
oder geschaffen werden können“ (Fettdruck von mir).
Anders ausgedrückt: Wenn Einrichtungen vorhanden sind,
sollen diese genutzt werden. Und wenn Einrichtungen nicht vorhanden sind,
sollen die Träger der Sozialhilfe (siehe oben zu § 3 SGB XII) diese neu
schaffen.
Dies alles ist meine Interpretation, und sie erfolgt
abseits der Lehr- und Praxis-Kommentare. Es gibt aber auch andere, die
ebenfalls ein (noch vorhandenes) Strukturbildungsgebot (manchmal auch als
Strukturbildungsprinzip benannt) erkennen wollen. Da wird zum einen von einem
„Sicherstellungsauftrag“ des Sozialstaates gesprochen, zum anderen leitet man
aus Artikel 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) eine Verpflichtung
gegenüber Menschen mit Behinderungen ab. Dem allen entgegen steht aber der
sogenannte Ressourcenvorbehalt, der seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht
formuliert wurde und bereits mehrere Male von mir kritisiert wurde – allerdings
in einem anderen Zusammenhang. Sofern Landesrecht diesen Ressourcenvorbehalt
weiter vorsieht (z.B. im Schulrecht des Landes Schleswig-Holstein), könnte es hier
einen Konflikt geben, der nur zugunsten des höheren Rechts (Bundesrecht bricht
Landesrecht) aufgelöst werden kann. Weil aber mit der Reform des
Bundessozialhilfegesetzes (§ 93 BSHG) marktwirtschaftlicher Wettbewerb
eingeführt wurde, werden viele Gegner des Strukturbildungsgebots den
staatlichen Auftrag zur Verfügungsstellung „geeigneter Einrichtungen“, so wie
es in der 1961-Fassung des BSHG stand, verneinen.
Wie immer man dazu stehen will, letztlich stellt sich die
Frage, was man mit diesem Wissen in Entgeltverhandlungen bewirken kann. Sind
Leistungsträger dazu angehalten, die bestehenden Strukturen nicht zu gefährden?
Wie viel Leistungsfähigkeit muss vorgehalten werden?
CGS
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