Endlich bewegt sich
was. Unter dem Schlagwort „Teilhabesurvey“ ist eine Umfrage geplant, die sich
an Menschen mit kognitiv-kommunikativen Beeinträchtigungen in Wohneinrichtungen
der Behindertenhilfe richten wird – bundesweit. Erfasst werden soll die
Lebenslage dieser Menschen, damit eine Chancengleichheit hergestellt wird.
Doch
es geht auch um Steuerung, weil man mit den so gewonnenen Daten Bedarfe und
Hilfen besser abgestimmt bekommt. Wann das aber passieren wird, ist fraglich. Zum
einen ist der Fragebogen sehr ausführlich, zum anderen sollen insgesamt 27.000
Menschen befragt werden – man wird wohl vier Jahre warten müssen, bis etwas
Handfestes dabei herauskommt.
Es mangelt an Zahlen und damit an einer Grundlage für
Entscheidungen der Politik in Sachen Eingliederungshilfe – und das schon seit
Jahren. Man hatte z.B. im Jahr 2010 in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe erstmals
Vorschläge und Eckpunkte erarbeitet zum Thema Datengrundlage zur strukturellen
Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Doch erst in
2012 wurde diese in einem Grundlagenpapier konkretisiert. Bei der Erarbeitung
zeigte sich dann, dass die amtliche Statistik nicht die notwendige
„Detailtiefe“ aufwies, ja sogar in manchen Teilbereichen noch nicht einmal
Daten erfasst wurden. Wie eine Verbesserung stattfinden kann, fand sich in
einem Forschungsbericht aus dem Jahr 2014. Doch zuerst einmal wurde
festgestellt, dass eine Abweichung bei den Bruttoausgaben zur
Eingliederungshilfe von 1.350 Mio. Euro zwischen der SGB XII-Bundesstatistik
(15.129 Mio. Euro) und der eigenen Hochrechnung (16.479 Mio. Euro) für das Jahr
2012 bestand. Das alles klingt sehr nach „Blindflug“.
Wenn man also schon jetzt mit 9 % höheren Ausgaben
rechnen muss, wie sieht es dann mit dem zielführenden Einsatz der Gelder aus?
Was ist denn „zielführend“ überhaupt?
Bevor man also daran gehen kann, eine Ausgabensteuerung
vorzunehmen, muss also jetzt einmal eine Datengrundlage hergestellt werden, in
der die tatsächlichen Bedarfe enthalten sind. Dabei darf man nicht diejenigen fragen,
die bisher irgendwelche Leistungen erbracht haben – es sind die Menschen selbst
zu befragen, die etwas brauchen bzw. die Auskunft darüber geben könnten, was ihnen
fehlt (um teilzuhaben). Wahrscheinlich wird es dann langfristig eine Bedarfsdeckung geben, bis
man schließlich wieder herausfindet, dass sich die Bedarfe geändert haben. Doch
das führt zur nächsten und wesentlichsten Frage: Was sind denn die Bedarfe?
Im zweiten Teilhabebericht der Bundesregierung aus dem
Jahr 2016 über die Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen zeigte sich,
dass die Teilhabe „in vielerlei Hinsicht noch immer eingeschränkt ist“ und die
Chancen auf Teilhabe geringer sind, je „schwerer die Beeinträchtigungen“. An
einer barrierefreien Version wird übrigens zur Stunde noch gearbeitet – hier
aber schon einmal der Link: http://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a125-16-teilhabebericht.html
Somit scheint es schon Vorstellungen darüber zu geben,
nur ob diese valide sind, wäre jetzt zu prüfen. Wissenschaftlicher haben vor
einigen Jahren damit begonnen, einen Fragebogen zu entwerfen, mit dem man die
richtigen Fragen stellen kann an die Zielgruppe Menschen mit Behinderungen. Es
gibt also bereits etwas, mit dem man Interviews führen könnte, in dem sehr
viele Daten abgefragt werden.
Man fängt an bei den Behinderungsmerkmalen (z.B.
Rollstuhl, Hörbeeinträchtigung), es geht über zu Angaben in der Biographie des
Befragten, bis hin zu Fragen, in welchen Lebensbereichen eine
Teilhabeeinschränkung empfunden wird. Doch es gibt auch andere Fragen, die sich
auf Migrationshintergrund, Ausbildung / Schule, Arbeit / Beschäftigung,
Finanzen und Gesundheit beziehen, wobei immer wieder nach sogenannten
„Diskrepanzen“ gefragt wird – also was ist der Wunsch und wie sieht es in der
Realität aus. Ein sehr guter Ansatz, meines Erachtens, weil solche Fragen genau
nach dem Wunsch- und Wahlrecht aus § 9 SGB IX fragt.
In weiteren Modulen des Fragebogens erkundigt man sich
nach der Nutzung von Diensten und Leistungen für behinderte Menschen. Man will
dabei in Erfahrung bringen, ob Unterstützungsmängel / Versorgungslücken
entstanden sind oder derzeit noch bestehen. Genau diese Punkte wären für die
Leistungserbringer und Leistungsträger außerordentlich interessant, denn
schließlich wird viel Geld für eine Leistung bezahlt, die „zielführend“
erbracht werden soll.
Es geht darüber hinaus auch um Familie, Paarbeziehung,
Sexualität und das soziale Netz. Nicht nur die Beziehung innerhalb der eigenen
Familie, sozusagen als Kind zu den Eltern und Verwandten, sondern auch die
zwischenmenschliche Beziehung wird hier untersucht, d.h. das Bedürfnis eines
behinderten Menschen mit einem anderen als Paar leben zu wollen und zu können.
Man erkundigt sich dann nach dem Erleben von Gewalt und Diskriminierung, wobei
hier die tatsächlich selbst-erlebte Gewalt, sei es körperlich, sexuell und /
oder psychisch, wie auch die gesellschaftliche Benachteiligung erfragt werden. Weiter
hinten stellt man Fragen zur Selbstbestimmung und den Persönlichkeitsrechten.
Also kann ein behinderter Mensch über sich selbst bestimmen oder wird er
fremdbestimmt durch andere? Es werden Anhaltspunkte gesucht, ob die Intimsphäre
womöglich verletzt wird; und sofort erinnert man sich an die Szenen aus dem
Report des Teams „Wallraff“.
Weiter geht es zu anderen Fragenkomplexen, die sich nun
eher um die sogenannten Sozialräume drehen. Es geht um Barrierefreiheit,
Gesellschaftliche Teilhabe in Sachen Kultur und Freizeit sowie Politische
Teilhabe. Doch auch ein Bereich zur Informierung über Rechte von behinderten
Menschen ist vorhanden. Es wird nicht nur gefragt, ob eine juristische Beratung
gewünscht wird, sondern ob eine Rechtsberatung und die Durchsetzung von Rechten
benötigt werden.
Also – es wird jetzt wohl losgehen mit einem sehr
umfassenden Fragekatalog, der wirklich versucht viele Daten zu gewinnen, damit
dann endlich ein besseres Bild über die Lage der behinderten Menschen bundesweit
gewonnen werden kann. Soweit, so gut.
Doch – inwieweit können viele Menschen wirklich daran teilhaben?
Es sind über 98 Seiten mit Fragen. Selbst wenn man sehr viele Seiten
überspringen kann, es braucht dennoch Zeit, weil gerade die
kognitiv-kommunikativ eingeschränkten Menschen langsam sind in ihrer
Verständigung. Überhaupt erscheint es sehr ambitioniert, wenn verlangsamte
Menschen hieran teilnehmen sollen, es aber im erforderlichen Umfang nicht
könnten.
Befragt werden sollen lt. BMAS:
16.000 Menschen mit Behinderungen in Privathaushalten,
5.000 Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen
leben,
1.000 Menschen mit speziellen
Kommunikationserfordernissen und
5.000 Menschen ohne Behinderung als Kontrollgruppe.
Diese Befragung ist notwendig, damit sich ein wenig mehr
Kenntnis und Verständnis für die Bedarfe dieser Menschengruppe bei den
„Bestimmern“ entwickeln kann. Es wird derzeit allerdings damit gerechnet, dass
die Auswertung der erhobenen Daten bis in das Jahr 2021 reichen wird – heißt
also, dass man erst in 2022 die Ergebnisse umsetzen kann?
Es erscheint mir sinnvoll, wenn dieser Fragebogen Einzug hält
in die Arbeit der Fachkräfte in der Behindertenhilfe. Man gelangt vielleicht so
zu einer eigenen Erkenntnis über die möglichen Bedarfe und kann etwas
verändern, bewirken und verbessern – und zwar jetzt und nicht erst in vier
Jahren.
CGS
Quelle:
(letzter Seitenaufruf am 4.5.2017)
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