Freitag, 8. Dezember 2017

Überstundenzuschläge als Risiko für Leistungserbringer - Überlegungen zum BAG-Urteil vom 23.3.2017

Am 23.3.2017 gab es ein Urteil des 6. Senats beim Bundesarbeitsgericht in Bezug auf die Zahlung von Zuschlägen für Überstunden. Der Kläger war als Teilzeitkraft in Wechselschicht (Schichtarbeit) beschäftigt bei einem Arbeitgeber, der den TVöD anwendet. Man stritt um Zuschläge für Überstunden, die nach dem Tarif dann zu zahlen sind, wenn ein zeitlicher Ausgleich für diese Mehrarbeit nicht stattgefunden hat.

Das Besondere an diesem Urteil ist aber, dass es zu einer Verteuerung der Leistungserbringung führt, die wiederum so von den Verhandlungspartnern bzw. Leistungsträgern nicht übernommen wird. Es geht dabei auch nicht um ein paar kleine Beträge, sondern es kann hier zu einem dauerhaften Verlustrisiko führen, was die Handlungsfähigkeiten der leistungserbringenden Arbeitgeber schmälert.


Was ist Mehrarbeit? Und was sind Überstunden?

Im Tarif wird zuerst einmal die Mehrarbeit definiert. Dies sind Arbeitsstunden, die über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit von Teilzeitkräften bis hinaus zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit eines Vollbeschäftigten gehen. Wenn eine Teilzeitkraft im Arbeitsvertrag eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 29,25 Stunden stehen hat, ein Vollbeschäftigter dagegen 39 Wochenstunden zu arbeiten hätte, zählen alle geleisteten Arbeitsstunden in einer Woche ab 29,25 und bis 39,00 Stunden zur Mehrarbeit (vgl. § 7 Abs. 6 TVöD-K; nachfolgend wird auf den allgemein bekannten TVöD-VKA verwiesen).

Die eben genannten 39 Wochenstunden können sich in bestimmten Fällen ändern (vgl. hierzu § 6 Abs. 1 S. 1).

Das Besondere am TVöD ist allerdings, dass die Mehrarbeitsstunden einer Teilzeitkraft erst dann zu Überstunden werden, wenn die „regelmäßige Arbeitszeit von Vollbeschäftigten … für die Woche …“ überschritten wird (vgl. § 7 Abs. 7 S. 1). Die Anordnung an sich führt somit noch nicht zu einer Anerkennung als Überstunde – und damit werden auch keine besonderen Zuschläge ausgelöst. Der Freizeitausgleich oder eine reguläre Stundenvergütung für solche Mehrarbeit bleibt aber bestehen.

Zweites Kriterium ist, dass wenn eine solche Überschreitung „nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen“ wird (vgl. § 7 Abs. 7 S. 1, zweiter Halbsatz), diese Mehrarbeitsstunden als wie Überstunden anzusehen sind. Das bedeutet, dass in dem Moment ein Überstundenzuschlag fällig wird, wenn diese Zeit vergangen ist. Der Zuschlag selbst beläuft sich auf 15 oder 30 % des Tabellenentgelts je Stunde; und selbst wenn später noch ein Freizeitausgleich stattfindet, wird er gezahlt (vgl. § 8 Abs. 1 Buchst. a).

Mehrarbeit ist jede Zeit bis zum Erreichen einer Vollbeschäftigung, die auch ein festgelegter Arbeitszeitkorridor oder eine Rahmenzeit sein kann. Überstunden müssen entweder angeordnet sein und über die Wochenstunden eines Vollbeschäftigten hinausgehen (Abs. 7) oder über die vereinbarte Obergrenze eines Arbeitszeitkorridors (Abs. 8 Buchst. a), außerhalb einer Rahmenzeit (Abs. 8 Buchst. b) oder im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit über die im Schichtplan festgelegte tägliche Arbeitszeit anfallen und im wöchentlichen Schichtplanturnus nicht ausgeglichen wurden (Abs. 8 Buchst. c). Das heißt: Selbst wenn die im Schichtplan eingetragene Arbeitszeit überschritten wird, handelt es sich so lange um einfache Mehrarbeit, bis die regelmäßige Wochenarbeitszeit eines vollbeschäftigten Mitarbeiters erreicht ist.

So etwas findet sich auch im TV-L.


Worüber hatte das Bundesarbeitsgericht zu entscheiden und was wurde festgestellt?

Die Parteien stritten nicht über die Stunden selbst. Sie wurden per Freizeitausgleich wieder entgolten. Doch weil es sich nach Meinung des Arbeitgebers nur um Mehrarbeitsstunden im Sinne des § 7 Abs. 6 handelte und nicht um Überstunden (sie wären sonst nicht fristgemäß ausgeglichen worden), war der verlangte Überstunden-Zuschlag nicht berechtigt (Streitwert 414,10 Euro zzgl. Zinsen).

Das Gericht missbilligte die sprachliche Verständlichkeit der Norm und nahm eine eigene Lesart vor (Rn. 14 und 16). Es könnte also sein, dass hier noch einmal von den Tarifparteien verhandelt werden muss, um mehr Klarheit zu gewinnen.

Festgestellt wurde allerdings, dass mit der sogenannten Wechsel-/Schichtzulage ein Ausgleich vorgenommen wird für das besondere Erschwernis durch die Störung des gleichmäßigen Tagesrhythmus (vgl. BAG 25. April 2013 - 6 AZR 800/11 - Rn. 35; und hier Rn. 32). Wenn nun auch noch eine arbeitgeberseitige Anordnung erfolgt, den im Dienstplan vereinbarten Schichtdienst „ungeplant“ zu verlängern, muss dies zusätzlich entgolten werden (Rn. 33).

Das Gericht unterschied dabei zwischen einer „geplanten“ Überschreitung der regelmäßigen Wochenarbeitszeit im Schichtplan und einer „ungeplante“ Überschreitung der täglichen Arbeitszeit. Im ersten Fall kann unterstellt werden, dass ein späterer Freizeitausgleich berücksichtigt ist und somit darauf hin gearbeitet wird. Doch im zweiten Fall hat es eine unvorhergesehene Änderung gegeben, die nun den guten Willen des Arbeitnehmers fordert.

Damit ergibt sich ein Anspruch für Arbeitnehmer auf einen Zuschlag für geleistete „ungeplante“ Überstunden, und zwar für jede Arbeitszeit, die „über die im Schichtplan festgesetzte tägliche Arbeitszeit hinaus geleistet“ wird (Rn. 11, Fettdruck von mir). Ob ein Freizeitausgleich stattgefunden hat oder nicht, spielt keine Rolle.

Und dann soll mit dem Überstundenzuschlag „allein der Umstand belohnt werden, dass der Arbeitnehmer ohne Freizeitausgleich mehr als vertraglich vereinbart arbeitet und dadurch planwidrig die Möglichkeit einbüßt, über seine Zeit frei zu verfügen“ (Rn. 59, Fettdruck von mir).

Auch wenn Verspätungen passieren, gerade bei Übergaben, so sei dies darauf zurückzuführen, dass  die Übergabezeiten „zu kurz“ bemessen sind und Arbeitgeber dem „ggf. mit ausgleichsfähigen eingeplanten Überstunden“ begegnen könnten (Rn. 40).

Das Gericht sieht zudem eine Ungleichbehandlung zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten. Während Vollbeschäftigte sofort bei jeder Form der Mehrarbeit einen Überstundenzuschlag erhalten, müssen Teilzeitbeschäftigte zuerst einmal an die Stunden eines Vollbeschäftigten kommen. Die „individuelle Belastungsgrenze“ ist höher, weil die „Grenze der Entstehung [eines] Anspruchs nicht proportional zu [der] Arbeitszeit“ verläuft (Rn. 51).


Um wie viel könnte sich nun die Leistungserbringung verteuern?

Müssen nun alle Überschreitungen der täglichen Arbeitszeit bei Mitarbeitern in Wechselschicht- und Schichtarbeit jetzt mit dem Überstundenzuschlag zusätzlich entgolten werden?

Solche Mehrarbeitsstunden können schnell passieren. Gerade wenn die Personaldecke sehr dünn ist und keine zweite Kraft im Gruppendienst eingesetzt wird, kann jede Verspätung eine Verteuerung verursachen. Man kann der jeweiligen Betriebsführung und ihrer Arbeitsorganisation durchaus „die“ Schuld zuweisen, weil z.B. der Umgang mit den Mitarbeitern überhaupt nicht wertschätzend erfolgte (Stichworte: „präsidialer“ Herrschaftsanspruch, Selbstvergegenständlichung, Führen durch Unruhe-Stiften), aber es gibt auch den Fall, dass mit den Vertragspartnern, d.h. Krankenkassen, Verbände und sogar Landesbehörden, eine zu geringe Personalbesetzung vereinbart wurde. Der Bedarf der leistungsbedürftigen Menschen verändert sich, dagegen beruhen vereinbarte Personalschlüssel auf Festschreibungen, die uralt sind.

Eine erste Hochrechnung könnte durchaus 4 Mehrarbeitsstunden pro Woche ergeben, die dann, bei einem Stunden-Entgelt von brutto 19,69 Euro (verwendet wird jetzt als Beispiel ein Stundenentgelt aus der allgemeinen Tabelle, E8) etwa 102,40 Euro zzgl. SV-AG-Beiträge pro Monat ausmachen könnten. Das klingt erst mal nicht viel.


Wie sehr kann sich nun die Leistungserbringung dank des BAG verteuern?

Doch es gibt noch ein weiteres Problem, was sich sicherlich einerseits aus dem vom BAG kritisierten Text im Tarif ergibt, andererseits wiederum vom BAG selbst verursacht wurde. Am Text der Tarifnorm des TVöD wird der Arbeitgeberverband VKA sicherlich ab kommenden Februar arbeiten wollen. Vermutlich reicht eine Neuformulierung, um das Risiko für Arbeitnehmer-Ansprüche auf Zahlung einer Überstundenzulage kleinzukriegen. Für Anwender des TV-L in der Tarifgemeinschaft der Länder wird es dagegen noch dauern. Das nun geschaffene Problem findet sich in der fehlenden Definition darüber, was denn nun mit „angeordnet“ wirklich gemeint ist. Was ist mit Diensten, die kurzfristig getauscht wurden, also ein Tausch, der zwischen den jeweiligen Mitarbeitern besprochen und dann mit der Leitung vereinbart wurde? Oder ein Mitarbeiter springt bei krankheitsbedingter Abwesenheit eines anderen kurzfristig ein und übernimmt an seinem freien Tag?

Wenn ein Freizeitausgleich nicht mehr anerkannt wird und jede Änderung bei den Diensten einen Anspruch begründen kann, dann muss man mit einer Verdreifachung der Kosten rechnen oder die Arbeitszeit erheblich fixieren. Wenn bisher ein Dienst-Tausch pro Woche stattfand, ergeben sich bei 8 Stunden pro Dienst x 4,345 = 34,76 Mehrarbeitsstunden im Monat – und somit zusätzliche 205,33 Euro zzgl. SV-AG-Beiträge.

Und was ist wenn Mitarbeiter zum Zeitpunkt der Dienstplanerstellung noch gar nicht eingestellt waren, sind dann diese Stunden allesamt Überstunden? Bei einer neu eingestellten Teilzeitkraft mit z.B. 75 % einer Vollzeitbeschäftigung (39 Wochenstunden) könnten so 127 Mehrarbeitsstunden zusammenkommen, was wiederum 750,73 Euro zzgl. SV-AG-Beiträge ausmachen kann.

Rechnet man alles zusammen, ergeben sich in „normalen“ Monaten zusätzliche Kosten von 369,59 Euro, in Monaten mit neu eingestellten Mitarbeitern dagegen schon 1.270,47 Euro (inkl. SV-AG-Beiträge). Passiert letzteres auch nur einmal im Jahr, ergeben sich Personalkostensteigerungen bei kleinen Gruppen von vielleicht sieben Mitarbeitern und einem Stellenumfang von 5,0 Vollzeitstellen Steigerungen bei den Aufwendungen von durchaus 2,2 %.


Natürlich kommt es immer auf den Stellenmix an. Doch wesentlicher Punkt hier ist, dass diese Kosten seitens der Verhandlungspartner bzw. der Leistungsträger nicht übernommen werden, weil sie ihren Ursprung in der mangelhaften Arbeitsorganisation haben sollen – man vergleiche hierzu noch einmal die Urteilsbegründung. Wenn aber die Anordnung einer Überstunde ihren Grund in der Arbeit mit den leistungsbedürftigen Menschen hat, sollte hier eine Kostenübernahme vereinbart werden, und sei es über eine Anhebung des Stellenschlüssels. Alles andere wäre nur wieder Kostenpolitik.


Was wird weiter passieren?

Empfohlen wird seitens der VKA, Bund und kommunalen Arbeitgeber-Verbände, geltend gemachte Ansprüche nicht abzulehnen. Doch man soll darauf verweisen, dass höchstens nur das Stunden-Tabellenentgelt  angesetzt wird, welches gem. der Protokollerklärung zu § 8 Abs. 1 S. 1 TVöD-VKA (oder ähnlich) vereinbart ist – nämlich der Stufe 4. Empfohlen wird auch, dass eine Anerkennung nur für Überstunden aus der Arbeit in Schichtplänen von Teilzeitkräften möglich ist.

Die Verbände der Leistungserbringer haben sich in dieser Sache noch nicht positioniert. Doch es wird auch hier etwas geschehen, wenn in den folgenden Monaten die ersten Ansprüche geltend gemacht werden. Gewerkschaften beginnen jetzt schon mal, ihre Mitglieder und Betriebsräte zu informieren. Vermutlich wird man jegliche Bemühung hinsichtlich eines neuen Freizeitausgleichs abwehren.

Am 26.4.2017 urteilte der 10. Senat des BAG, dass die Praxis eines finanziellen Ausgleichs für Überstunden von Teilzeitbeschäftigten erst nach Überschreiten der Arbeitszeit eines Vollbeschäftigten nicht gegen höherrangiges Recht verstößt (Az. 10 AZR 589/15). Damit scheint sich hier ein Widerspruch aufzutun, den der Große Senat beim BAG lösen muss. Dieser wäre zuständig, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweicht. Doch dafür müsste Handlungsdruck aufgebaut werden von den Verbänden der Arbeitgeber.

Alles in allem kann scheint die Sache ihre Kreise zu ziehen.

CGS




Notizen zu § 8 TVöD-BT-V-VKA:

Nach dem Willen der Tarifparteien sollen Überstunden grundsätzlich durch entsprechende Freizeit ausgeglichen werden (vgl. Protokollerklärung zu Abs. 1 S. 2 lit. d). Dies soll geschehen „bis zum Ende des dritten Kalendermonats – möglichst aber schon bis zum Ende des nächsten Kalendermonats – nach deren Entstehen…“ (Abs. 1.1 S. 2). Der Freizeitausgleich soll im Dienstplan besonders ausgewiesen und bezeichnet werden. Falls aber kein Freizeitausgleich gewährt wird, wird das Stunden-Tabellenentgelt (höchstens Stufe 4) zzgl. Überstundenzuschlags und eines möglichen weiteren Feiertagsbedingten Zuschlags, aber maximal 235 % (des Stunden-Tabellenentgelts), gezahlt.

Bei Mehrarbeitsstunden, die keine Überstunden sein sollen, weil sie innerhalb der regelmäßigen Wochen-Arbeitszeit eines Vollbeschäftigten anfallen, werden dagegen höchstens 100 % des Stunden-Tabellenentgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe (!) zur Auszahlung kommen (Abs. 2). Dies betrifft aber nur die Zeiten, die nicht mit Freizeit abgegolten wurden – also Überhangs-Zeiten.

Der Zeitraum für den Freizeitausgleich bei Mehrarbeitsstunden soll sich nach den folgenden Vorgaben richten:

Für die Berechnung des Durchschnitts der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ist ein Zeitraum von bis zu einem Jahr zugrunde zu legen (§ 6 Abs. 2 S. 1 TVöD-VKA).

Abweichend von Satz 1 kann bei Beschäftigten, die ständig Wechselschicht- oder Schichtarbeit zu leisten haben, ein längerer Zeitraum zugrunde gelegt werden (§ 6 Abs. 2 S. 2 TVöD-VKA).


Quelle:

BAG-Urteil vom 23.3.2017, Az. 6 AZR 161/16

(letzter Aufruf am 27.11.2017)




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