Freitag, 5. Oktober 2018

Das Konzept der Angemessenen Vorkehrungen

Im Koalitionsvertrag findet sich unter der Überschrift „Barrierefreiheit“ der Wille, Anreize zu schaffen durch Förderprogramme mit dem Ziel zur Verbesserung der Barrierefreiheit in den Kommunen (ab Zeile 4.356 im Koalitionsvertrag zur 19. Legislaturperiode). Es geht dabei aber nicht nur um die Abschaffung von Hindernissen für körperlich eingeschränkte Menschen und die Verwendung der „Leichten Sprache“, damit geistig eingeschränkte Menschen verstehen können. Man möchte daneben im Gesundheitssektor prüfen, wie Private angemessene Vorkehrungen umsetzen können.

Diese Sache mit den angemessenen Vorkehrungen ist nicht neu. Und es gibt Leute, die sprechen darüber, als ob es ein Konzept ist. Es klingt auch so, weil es hier in den Fokus gerückt wird. Also was ist es?

+++ Nachtrag vom 22.11.2018 +++

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat jetzt ein Rechtsgutachten veröffentlicht, in dem klar herausgestellt und begründet wird die Notwendigkeit zur Schaffung eines gesetzlich verankerten Rechtsanspruches für „mehr Barrierefreiheit am Arbeitsplatz und bei Alltagsgeschäften“. Dieses Recht soll dann auch gegen private Arbeitgeber und Dienstleister zur Anwendung kommen können, damit die UN-BRK wirksam umgesetzt werden kann (Quellenverweis siehe unten).

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Das Konzept, wie es im Buche steht

Drei Dinge kann man vorab schon kritisieren. Zuerst einmal bleiben alle anderen Wirtschaftsbereiche unberührt. Statt also alles einzubeziehen in das große Projekt Barrierefreiheit, beschränkt man sich auf den Gesundheitssektor. Dann geht es nur um ein Prüfen, bestenfalls um ein Beurteilen. Weitere Konsequenzen sind nicht vorgesehen. Und schließlich geht es um die Privaten, die Öffentlichen bleiben außen vor, wie sie „angemessenen Vorkehrungen“ umsetzen.

Genau weil man sich im Koalitionsvertrag darauf bezieht, muss man denken, dass es um ein Konzept geht. Und wenn man von einem Konzept spricht, muss man vermuten, dass die Privaten es kennen sollten.

Diese Formulierung entstammt der UN-Behindertenrechtskonvention und wird als feststehender Rechtsbegriff verstanden (siehe dazu Positionspapier Nr. 5 des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Quelle unten). In Art. 2 der UN-BRK wird diese Formulierung wie folgt definiert:

„Im Sinne dieses Übereinkommens [UN-BRK] … bedeutet „angemessene Vorkehrungen“ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können;…“ (Unterabsatz 4, Fettdruck von mir).

Die Versagung von angemessenen Vorkehrungen wird darüber hinaus als Diskriminierung verstanden (Unterabsatz 3; aber auch § 7 Abs. 2 BGG).

In Art. 5 Abs. 3 UN-BRK wird verlangt:

„Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten.“

Und in den Art. 14 Abs. 2, Art. 24 Abs. 2 lit. c),  Art. 24 Abs. 5 und Art. 27 Abs. 1 lit. i) der UN-BRK finden sich gleich lautende Bestimmungen, allerdings in Bezug auf verschiedene Spezial-Bereiche wie z.B. Bildung.


Das Ziel verstehen

Barrieren werden als ein Wechselspiel verstanden zwischen dem Mensch mit Behinderung einerseits und Einstellungen (bei anderen) und Umwelt-Faktoren andererseits. Diese Barrieren, sei es baulicher Natur oder im Denken der Menschen, müssen abgeschafft werden, weil sie eine effektive Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verhindern. Barrierefreiheit in der gesamten Gesellschaft wäre somit das oberste Ziel (vgl. dazu Art. 1 UN-BRK).

Diese Sache mit den angemessenen Vorkehrungen bezieht sich aber nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den Einzelnen. Auch wenn es hier ebenfalls um eine Abschaffung von Barrieren geht, gemeint sind an dieser Stelle Maßnahmen zur Herstellung von Gleichberechtigung im „Einzelfall“.  Das Individuum, was in seiner Ausübung der Menschenrechte gehindert ist, soll in die Lage versetzt werden, gleichberechtigt teilzuhaben am Leben in der Gesellschaft.

Benachteiligungen sollen nicht bestehen bleiben.


Bekannte Prinzipien, die sich dahinter verbergen

„Vorkehrungen sind Maßnahmen, die im Einzelfall geeignet und erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass ein Mensch mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen alle Rechte genießen und ausüben kann, und sie die Träger öffentlicher Gewalt nicht unverhältnismäßig oder unbillig belasten.“ (§ 7 Abs. 2 BGG; Fettdruck von mir)

Damit Gleichberechtigung passiert, müssen die notwendigen Maßnahmen, die also geeignet und erforderlich sind, so lange erbracht werden, bis die individuelle Benachteiligung nicht mehr relevant ist und in den Hintergrund tritt. Genau dies kennt man aus dem Bereich des Sozialhilferechts, wo sich die zu gewährenden (gewünschten) Leistungen nach den Besonderheiten des Einzelfalls richten (vgl. § 9 SGB XII; Stichwort: Erforderlichkeitsprinzip).

Im Verständnis des Sozialhilferechts spricht man dabei von der Überwindung einer Notlage. Wenn die bewilligten Leistungen zur Überwindung beitragen, ist ein Nachteilsausgleich erfolgreich eingetreten. Man kann dann ebenso sagen, dass diese Fülle an Maßnahmen angemessen war und sich am Bedarf des Einzelfalls ausreichend orientiert hat und das Maß des Notwendigen nicht überschritten ist.

Würden die Maßnahmen den Bedarf überschreiten, wäre eine Angemessenheit nicht mehr gegeben. Wenn die Leistungen die Notlage abgedeckt haben, müssen sie eingestellt werden, weil dann die Grundlage für die Sozialhilfe nicht mehr gegeben wäre. Dies könnte man auch als unverhältnismäßig oder unbillig bezeichnen.

Kann man zwischen verschiedenen bedarfsdeckenden Maßnahmen auswählen, ist die sparsamste und günstigste auszuwählen. Die Bedarfsdeckung im Einzelfall steht dabei nach wie vor im Vordergrund und muss geschehen, doch ein Leistungsträger hat, sofern eine Auswahl besteht, die kostengünstigste und somit wirtschaftlichste auszuwählen (vgl. z.B. § 12 SGB V, § 75 Abs. 3 SGB XII; Stichwort: Wirtschaftlichkeitsgebot).


Der Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeitsgebot und Erforderlichkeitsprinzip

Gerade weil man immer wieder von einer Angemessenheit spricht, ist der Einzelfall ausschlaggebend. Es darf nicht passieren, dass einem in seiner Rechtsausübung verhinderten Menschen eine Leistung versagt wird, „weil es doch sowieso nichts bringt“. Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, damit die Rechtsausübung gleichberechtigt geschieht. Und das verlangt eigentlich zuerst einmal ein Beratungsgespräch (vgl. § 11 SGB XII), um die Bedarfe kennenzulernen. Die Bedarfe wären dann gemeinsam festzustellen, damit ein gesichertes Verständnis (und Einverständnis) entsteht und die notwendigen Teilhabe-Leistungen bestimmt werden können (vgl. § 12 SGB XII).

Aber das alles wären keine Vorkehrungen, denn sie finden nicht wirklich im Vorhinein statt. Im Gegenteil. Man begegnet leider immer wieder der Situation, dass ein Sozialleistungsträger seiner Pflicht nach einer Beratung überhaupt nicht nachkommt. Ermittlungsarbeit erschöpft sich vielfach in der Sichtung der Akten (und dann sogar sehr selektiv). Aber noch viel schlimmer ist die fast schon systematische Abweisung von Leistungsanträgen, um Gelder zu sparen.

Die deutsche Übersetzung verlangt danach, dass man als Leistungsträger voraus schaut und mögliche Nachteilsausgleiche vorbereitet. Das englische Original dagegen verlangt es nicht. Mit dem Begriff „reasonable accommodation” ist eine „begründete Anpassung“ gemeint. Natürlich muss zwar eine Barrierefreiheit gegeben sein, aber für den Einzelfall muss nicht im Vorwege eine „Vorkehrung“ getroffen werden.


Die Rechte der behinderten Menschen stärken

In § 7 Abs. 2 BGG hat man die Vorschrift aus der UN-BRK ganz gut übernommen. Doch leider richtet sich diese Norm an öffentliche Stellen des Bundes bzw. eine Körperschaft oder Anstalt des Bundesrechts. Für Sozialleistungsträger, Landesbehörden oder sonstige kommunale Stellen bzw. Körperschaften und Verbände scheint es das nicht zu geben – zumindest nicht im Bundesrecht. Knackpunkt ist der, dass die Rechtsdurchsetzung für leistungsberechtigte Menschen damit erschwert wird. Es gibt zwar über den Umweg Grundgesetz und UN-BRK im Prinzip ebenfalls eine solche Vorgabe, doch sie ist nicht im deutschen Recht explizit bestimmt, und schon gar nicht mittels Sanktionen durchsetzbar (vgl. auch Abs. 3).

Im AGG gibt es wiederum einige Bestimmungen, die man in diesem Sinne verwenden kann. Was Sozialleistungen anbelangt, kommt einem nur das Benachteiligungsverbot in § 33 c SGB I sozusagen zur Hilfe.

Behindertenverbände fordern deswegen eine weitergehende gesetzliche Verankerung. Man möchte die Benachteiligung verboten sehen, damit wirksam ein Anspruch auf Teilhabe entsteht. Im deutschen Recht findet sich ein solches Benachteiligungsverbot anscheinend nur an wenigen Stellen. Von daher wäre die Übernahme des Konzeptes zu angemessenen Vorkehrungen in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ein fulminanter Schritt in Richtung Gleichberechtigung, so die Meinung vieler Betroffener.

CGS




Quellen:

Deutsches Institut für Menschenrechte


Kobinet Nachrichten
Veröffentlicht am Dienstag, 20. März 2018 von Ottmar Miles-Paul


19. Legislaturperiode


(letzter Aufruf am 1.10.2018)



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