Diese Sache mit den
angemessenen Vorkehrungen ist nicht neu. Und es gibt Leute, die sprechen
darüber, als ob es ein Konzept ist. Es klingt auch so, weil es hier in den
Fokus gerückt wird. Also was ist es?
+++ Nachtrag vom
22.11.2018 +++
Die
Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat jetzt ein Rechtsgutachten
veröffentlicht, in dem klar herausgestellt und begründet wird die Notwendigkeit
zur Schaffung eines gesetzlich verankerten Rechtsanspruches für „mehr
Barrierefreiheit am Arbeitsplatz und bei Alltagsgeschäften“. Dieses Recht soll
dann auch gegen private Arbeitgeber und Dienstleister zur Anwendung kommen
können, damit die UN-BRK wirksam umgesetzt werden kann (Quellenverweis
siehe unten).
+++
Das Konzept, wie es im Buche
steht
Drei Dinge kann man vorab schon kritisieren. Zuerst
einmal bleiben alle anderen Wirtschaftsbereiche unberührt. Statt also alles einzubeziehen
in das große Projekt Barrierefreiheit, beschränkt man sich auf den
Gesundheitssektor. Dann geht es nur um ein Prüfen, bestenfalls um ein Beurteilen.
Weitere Konsequenzen sind nicht vorgesehen. Und schließlich geht es um die
Privaten, die Öffentlichen bleiben außen vor, wie sie „angemessenen
Vorkehrungen“ umsetzen.
Genau weil man sich im Koalitionsvertrag darauf bezieht,
muss man denken, dass es um ein Konzept geht. Und wenn man von einem Konzept
spricht, muss man vermuten, dass die Privaten es kennen sollten.
Diese Formulierung entstammt der
UN-Behindertenrechtskonvention und wird als feststehender Rechtsbegriff
verstanden (siehe dazu Positionspapier Nr. 5 des Deutschen Instituts für
Menschenrechte, Quelle unten). In Art. 2 der UN-BRK wird diese Formulierung wie
folgt definiert:
„Im Sinne dieses Übereinkommens [UN-BRK] … bedeutet
„angemessene Vorkehrungen“ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen,
die keine unverhältnismäßige oder
unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen
werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt
mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben
können;…“ (Unterabsatz 4, Fettdruck von mir).
Die Versagung von angemessenen Vorkehrungen wird darüber
hinaus als Diskriminierung verstanden (Unterabsatz 3; aber auch § 7 Abs. 2 BGG).
In Art. 5 Abs. 3 UN-BRK wird verlangt:
„Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung
von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte,
um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten.“
Und in den Art. 14 Abs. 2, Art. 24 Abs. 2 lit. c), Art. 24 Abs. 5 und Art. 27 Abs. 1 lit. i) der
UN-BRK finden sich gleich lautende Bestimmungen, allerdings in Bezug auf
verschiedene Spezial-Bereiche wie z.B. Bildung.
Das Ziel
verstehen
Barrieren werden als ein Wechselspiel verstanden zwischen
dem Mensch mit Behinderung einerseits und Einstellungen (bei anderen) und
Umwelt-Faktoren andererseits. Diese Barrieren, sei es baulicher Natur oder im
Denken der Menschen, müssen abgeschafft werden, weil sie eine effektive
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verhindern. Barrierefreiheit in der
gesamten Gesellschaft wäre somit das oberste Ziel (vgl. dazu Art. 1 UN-BRK).
Diese Sache mit den angemessenen Vorkehrungen bezieht
sich aber nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den Einzelnen. Auch wenn es
hier ebenfalls um eine Abschaffung von Barrieren geht, gemeint sind an dieser
Stelle Maßnahmen zur Herstellung von Gleichberechtigung im „Einzelfall“. Das Individuum, was in seiner Ausübung der
Menschenrechte gehindert ist, soll in die Lage versetzt werden,
gleichberechtigt teilzuhaben am Leben in der Gesellschaft.
Benachteiligungen sollen nicht bestehen bleiben.
Bekannte
Prinzipien, die sich dahinter verbergen
„Vorkehrungen sind Maßnahmen, die im Einzelfall geeignet und erforderlich sind, um zu
gewährleisten, dass ein Mensch mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen
alle Rechte genießen und ausüben kann, und sie die Träger öffentlicher Gewalt nicht unverhältnismäßig oder unbillig
belasten.“ (§ 7 Abs. 2 BGG; Fettdruck von mir)
Damit Gleichberechtigung passiert, müssen die notwendigen
Maßnahmen, die also geeignet und erforderlich sind, so lange erbracht werden,
bis die individuelle Benachteiligung nicht mehr relevant ist und in den
Hintergrund tritt. Genau dies kennt man aus dem Bereich des Sozialhilferechts,
wo sich die zu gewährenden (gewünschten) Leistungen nach den Besonderheiten des
Einzelfalls richten (vgl. § 9 SGB XII; Stichwort: Erforderlichkeitsprinzip).
Im Verständnis des Sozialhilferechts spricht man dabei
von der Überwindung einer Notlage. Wenn die bewilligten Leistungen zur
Überwindung beitragen, ist ein Nachteilsausgleich erfolgreich eingetreten. Man
kann dann ebenso sagen, dass diese Fülle an Maßnahmen angemessen war und sich
am Bedarf des Einzelfalls ausreichend orientiert hat und das Maß des
Notwendigen nicht überschritten ist.
Würden die Maßnahmen den Bedarf überschreiten, wäre eine
Angemessenheit nicht mehr gegeben. Wenn die Leistungen die Notlage abgedeckt
haben, müssen sie eingestellt werden, weil dann die Grundlage für die
Sozialhilfe nicht mehr gegeben wäre. Dies könnte man auch als unverhältnismäßig
oder unbillig bezeichnen.
Kann man zwischen verschiedenen bedarfsdeckenden
Maßnahmen auswählen, ist die sparsamste und günstigste auszuwählen. Die
Bedarfsdeckung im Einzelfall steht dabei nach wie vor im Vordergrund und muss
geschehen, doch ein Leistungsträger hat, sofern eine Auswahl besteht, die
kostengünstigste und somit wirtschaftlichste auszuwählen (vgl. z.B. § 12 SGB V,
§ 75 Abs. 3 SGB XII; Stichwort: Wirtschaftlichkeitsgebot).
Der Konflikt
zwischen Wirtschaftlichkeitsgebot und Erforderlichkeitsprinzip
Gerade weil man immer wieder von einer Angemessenheit
spricht, ist der Einzelfall ausschlaggebend. Es darf nicht passieren, dass
einem in seiner Rechtsausübung verhinderten Menschen eine Leistung versagt
wird, „weil es doch sowieso nichts bringt“. Es müssen Vorkehrungen getroffen
werden, damit die Rechtsausübung gleichberechtigt geschieht. Und das verlangt
eigentlich zuerst einmal ein Beratungsgespräch (vgl. § 11 SGB XII), um die
Bedarfe kennenzulernen. Die Bedarfe wären dann gemeinsam festzustellen, damit
ein gesichertes Verständnis (und Einverständnis) entsteht und die notwendigen
Teilhabe-Leistungen bestimmt werden können (vgl. § 12 SGB XII).
Aber das alles wären keine Vorkehrungen, denn sie finden
nicht wirklich im Vorhinein statt. Im Gegenteil. Man begegnet leider immer
wieder der Situation, dass ein Sozialleistungsträger seiner Pflicht nach einer
Beratung überhaupt nicht nachkommt. Ermittlungsarbeit erschöpft sich vielfach
in der Sichtung der Akten (und dann sogar sehr selektiv). Aber noch viel
schlimmer ist die fast schon systematische Abweisung von Leistungsanträgen, um
Gelder zu sparen.
Die deutsche Übersetzung verlangt danach, dass man als
Leistungsträger voraus schaut und mögliche Nachteilsausgleiche vorbereitet. Das
englische Original dagegen verlangt es nicht. Mit dem Begriff „reasonable accommodation” ist eine „begründete
Anpassung“ gemeint. Natürlich muss zwar eine Barrierefreiheit gegeben sein,
aber für den Einzelfall muss nicht im Vorwege eine „Vorkehrung“ getroffen
werden.
Die Rechte der
behinderten Menschen stärken
In § 7 Abs. 2 BGG hat man die Vorschrift aus der UN-BRK
ganz gut übernommen. Doch leider richtet sich diese Norm an öffentliche Stellen
des Bundes bzw. eine Körperschaft oder Anstalt des Bundesrechts. Für
Sozialleistungsträger, Landesbehörden oder sonstige kommunale Stellen bzw.
Körperschaften und Verbände scheint es das nicht zu geben – zumindest nicht im
Bundesrecht. Knackpunkt ist der, dass die Rechtsdurchsetzung für
leistungsberechtigte Menschen damit erschwert wird. Es gibt zwar über den Umweg
Grundgesetz und UN-BRK im Prinzip ebenfalls eine solche Vorgabe, doch sie ist
nicht im deutschen Recht explizit bestimmt, und schon gar nicht mittels
Sanktionen durchsetzbar (vgl. auch Abs. 3).
Im AGG gibt es wiederum einige Bestimmungen, die man in
diesem Sinne verwenden kann. Was Sozialleistungen anbelangt, kommt einem nur
das Benachteiligungsverbot in § 33 c SGB I sozusagen zur Hilfe.
Behindertenverbände fordern deswegen eine weitergehende
gesetzliche Verankerung. Man möchte die Benachteiligung verboten sehen, damit
wirksam ein Anspruch auf Teilhabe entsteht. Im deutschen Recht findet sich ein
solches Benachteiligungsverbot anscheinend nur an wenigen Stellen. Von daher
wäre die Übernahme des Konzeptes zu angemessenen Vorkehrungen in das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz ein fulminanter Schritt in Richtung Gleichberechtigung,
so die Meinung vieler Betroffener.
CGS
Quellen:
Deutsches Institut für Menschenrechte
Kobinet Nachrichten
Veröffentlicht am Dienstag, 20. März 2018 von Ottmar
Miles-Paul
19. Legislaturperiode
(letzter Aufruf am 1.10.2018)
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
(letzter Aufruf am 22.11.2018)
Bitte lesen Sie die Hinweise
zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss
sowie die Datenschutzerklärung.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Empfehlen Sie ein//gegliedert
weiter oder klicken Sie gleich dreimal auf den Beitrag oder reihum die
Überschriften – ersetzt das Applaudieren.
Gibt es was zu meckern?
Schreiben Sie mir eine Email – gerne auch per Trash-Mailer, wenn Sie Anonymität bewahren
wollen. Ihre Meinung hilft mir, meine Perspektive neu zu überdenken. Meine
Email-Adresse finden Sie auf der Seite Über mich.
Das Konzept der Angemessenen Vorkehrungen –
eingegliedert.blogspot.com