Freitag, 3. April 2020

Der Schutzschirm für die Behindertenhilfe

Alles spricht von „Schutzschirmen“. Gemeint sind staatliche Hilfen für Wirtschaftsunternehmen, die in Not geraten aufgrund der Einschränkungen in dieser Pandemie. Da wird von Zuschüssen an Klein-Unternehmen gesprochen und Kredite der staatlichen Kreditanstalt an die Großen. Dahinter verbirgt sich einerseits der Solidaritäts-Gedanke, andererseits verlangt man von den Unternehmern, dass sie ihre Rücklagen dazu angehen.

Sozialen Unternehmen gelingt das nicht. Gerade weil ihre Entgelte nach dem Selbstkostenprinzip ausgehandelt wurden, denn nach wie vor fehlt es an einem Wagniszuschlag, sind freie Rücklagen mal eben so und in ausreichendem Maße nicht vorhanden (mit Ausnahmen).

Mit anderen Worten: Einrichtungen müssen angesichts der Krise erhalten bleiben.

Und wie das gelingen soll, zeigt sich nachfolgend am Beispiel von Hamburg.


Der Bund schafft die gesetzliche Grundlage

Die Erbringung „fürsorgerischer und sozialer Dienste“ wurde mit einem Gesetz-Entwurf, dass man für die Absicherung sozialer Dienstleister ins Auge gefasst hat, am 24.3.2020 ins Parlament gebracht und sehr schnell verabschiedet (vgl. dazu BT-Drucksache 19/18107 zum Gesetz für den erleichterten Zugang zur sozialen Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Corona-Virus SARS-CoV-2 – sogenanntes Sozialschutz-Paket bzw. Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, SodEG). Im Entwurfstext heißt es zum Beispiel, dass die „pandemiebedingten Einschränkungen“ die Leistungserbringung beeinträchtigen und sogar den „Bestand der sozialen Dienste und Einrichtungen in diesem Zeitraum“ gefährden (S. 1).

Ebenfalls festgestellt wurde, dass es „derzeit keine gesetzliche Grundlage“ gibt, „die es den Leistungsträgern ermöglicht, ihre Zahlungen … fortzusetzen“. Und in der Tat ist es ja so, dass gem. dem Erforderlichkeitsprinzip nur die Leistungen zu bezahlen sind, die am leistungsberechtigten Menschen erbracht werden. Weil es aber Allgemeinverfügungen in Hamburg gab (woanders wären es Landeserlasse), die die Schließung verschiedener Standorte zur Folge hatte (z.B. Werkstätten für behinderte Menschen, Beschäftigungsprojekte und Tagesförderstätten), wäre jetzt eine unerträgliche Verlustsituation eingetreten für die Träger dieser Einrichtungen (Leistungserbringer).

Folgerichtig wurde im Entwurf des Gesetzes herausgestellt, dass „besonders schwer“ die freien Wohlfahrtsverbände betroffen sind, weil sie „als gemeinnützige Träger – anders als kommerzielle Anbieter – kaum Risikorücklagen bilden und … oftmals keine Kredite aufnehmen“ können (S. 2). Kredite wären zwar eine Möglichkeit, um die Strukturen und Angebote zu erhalten. Doch die Zinszahlungen und Tilgungen müssten aus den Einnahmen bezahlt werden, in denen für solche Sachen keine Wagnis- oder Risikozuschläge (Unternehmergewinne) einkalkuliert wären. Würde man jetzt dafür keine Lösung finden, spätestens bei den nächsten Verhandlungen zu einer auskömmlichen Vergütung würde man seitens der Leistungserbringer sehr hart eine Entschädigung verlangen.

Konsequenterweise erkannte die Bundesregierung somit an, dass diese Organisationen „nicht die für die Wirtschaft vom BMF geplanten finanziellen Hilfen in Anspruch nehmen können. Ziel ist, dass die Leistungsträger im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit den Bestand der sozialen Dienstleister in diesem Zeitraum sicherstellen“ (S. 2; Fettdruck von mir). Und das zielt auf das Strukturbildungsgebot im SGB IX ab.


Die Lösung des Bundes und die Umsetzung bei den Ländern

Als Lösung findet sich somit: „Die Leistungsträger sollen dafür ab sofort den Bestand der sozialen Dienstleister sicherstellen“. (Leistungsträger sind in der Regel die in § 12 SGB I i.V.m. §§ 18 bis 29 SGB I aufgeführten Institutionen, für die Eingliederungshilfe bestimmt dies § 28a SGB I; soziale Dienstleister wären dann die vertraglichen Kontrahenten der jeweiligen Sozial-Leistungsbereiche)

Doch das Ganze erfolgt nicht bedingungslos. Die zu schützenden Leistungserbringer sollen sich erklären und „alle ihnen nach den Umständen zumutbaren und rechtlich zulässigen Möglichkeiten [ausschöpfen], um zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie beizutragen“ (S. 3). Und dazu gehört zum Beispiel die Übernahme von Personal aus Bereichen, die geschlossen werden mussten aufgrund der aktuellen Ansteckungsgefahren. Die zuständigen Leistungsträger können zu einer Erklärung auffordern über die konkreten Beiträge zur Krisenbewältigung. Und diese Beiträge sollen dem sozialhilferechtlichen Erforderlichkeitsprinzip entsprechen: Geeignetheit, Zumutbarkeit und rechtliche Zulässigkeit.

Es gibt also Grenzen, die man als Leistungserbringer beachten kann / sollte. Nicht in jedem Unternehmen kann mal eben so das Personal in andere Bereiche versetzt werden – dazu aber später etwas mehr.

Ergibt sich also der Wille beim Leistungserbringer, Hilfen / Unterstützungsleistungen zur Bewältigung der Krise beisteuern zu wollen (z.B. weil die Tagesförderstätte geschlossen wurde und damit Raum und Personal verfügbar wären, gleichzeitig aber eine Verlustsituation eintritt), entsteht ein Sicherstellungsauftrag. Erst dann werden die Leistungsträger in die Lage versetzt, „sachlich subsidiäre und zeitlich begrenzte monatliche Zuschüsse“ an die Leistungserbringer zu leisten.

Weitere Punkte betreffen das Arbeitszeitgesetz, dass per Verordnung in außergewöhnlichen Notfällen ausgesetzt wird, sowie die Möglichkeit auf Weiterarbeit oder Wiederaufnahme einer Beschäftigung nach Renteneintritt. Man kann dann auf Ehemalige zugehen, um wertvolles Fachwissen und auch geübte Einsatzbereitschaft wiederzugewinnen. Um aber auch kurzarbeitendes, jedoch fachfremdes Personal zu erhalten, soll als Anreiz die Anrechnung auf das Kurzarbeitergeld für diesen Personenkreis bei einer befristeten Beschäftigung in einem systemrelevanten Bereich verzichtet werden. Man kann also sagen, dass die Bundesregierung den gesetzlichen Rahmen stark erweitert für die Beschaffung von Ressourcen und für die dauerhafte Sicherung der sozialen Strukturen – letzteres ganz im Sinne des bekannten Strukturbildungsgebots.


Die Umsetzung der gesetzlichen Grundlage in Hamburg

Hamburgs Sozialbehörde informierte am 30.3.2020 über das neue Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) und fügte eine Sonder-Vereinbarung nach § 3 S. 6 SodEG an (dazu gleich mehr).

Gemäß § 5 S. 1 zweiter Halbsatz SodEG besteht die Möglichkeit nämlich, die Höchstgrenze für die Zuschusshöhe höher festzulegen. Dieser Zuschuss ergibt sich aus § 3 und beträgt „höchstens 75 %“ von 1/12 der geleisteten Zahlungen in einem Jahreszeitraum vor dem Zeitpunkt der Krankheitsbekämpfung (gem. BMAS wird aktuell der 16.3.2020 dafür bestimmt). Oder anders gesagt, was im Jahr vorher tatsächlich gezahlt worden ist von der Behörde, soll zu einem Monatsdurchschnitt gerechnet werden. Wäre der Zeitraum kürzer, würde die Berechnung anteilig erfolgen. Diese Leistungen wären zahlbar nach Antragstellung durch einen Verwaltungsakt oder, wie jetzt in Hamburg geschehen, auf der Grundlage eines „öffentlich-rechtlichen Vertrages“.

Befristet ist das Ganze zum 30.9.2020, es sei denn, es findet eine Verlängerung bis zum 31.12.2020 statt.

Die „Hamburger SodEG-Vereinbarung“ bietet einen Zuschuss von 100 % der „durchschnittlich im Jahr 2019“ erbrachten Leistungen an. Damit bezieht man sich im Grunde genommen auf das alte, mit dem BTHG abgelöste, Vergütungssystem. Voraussetzung dafür ist aber eine Vereinbarung nach § 123 SGB IX, was wiederum als eine formale Grundlage verstanden werden kann. Effektiv geht es um die alten Gelder. Und weil die Tagesförderstätten und ambulante Dienste Fachleistungen bezahlt bekamen, spielt diese Besonderheit keine große Rolle.

Erster wichtiger Punkt daran ist nun allerdings, dass die Leistungserbringer, die eine solche Hilfe erlangen wollen, sich zuerst einmal verpflichten, ihr Personal und andere Sachmittel im Zusammenhang mit der nicht vergüteten Leistung an anderer Stelle einzusetzen. Personal soll gem. § 1 SodEG im Rahmen der arbeitsrechtlichen Regelungen für den Einsatz woanders zur Verfügung gestellt werden. Die arbeitsrechtlichen Regelungen sind, wie man erinnert, nunmehr erweitert worden – es braucht allerdings noch die Freiwilligkeit der jeweiligen Arbeitnehmer. Vermittler dieser nicht benötigten Ressourcen und möglicher angemeldeter Bedarfe soll eine Fremdpersonal-Zeitarbeits-GmbH bzw. ein „Personalpool“ sein.

Zweiter wichtiger Punkt ist der, dass der Erstattungsanspruch in Höhe des unabweisbaren Verlustes begrenzt ist. Ein Leistungserbringer muss sich zuerst darum kümmern, „vorrangige Mittel“ geltend zu machen, um die eigene Krise bewältigen zu können. Die Vorrangigkeit ergibt sich zum Beispiel daraus, dass eine Leistungserbringung „weiterhin möglich“ ist und demzufolge auch entgeltlich abgerechnet werden kann trotz der hoheitlichen Anordnung der Schließung. Im Prinzip geht es lediglich darum, dass die Entschädigung keine doppelte Einnahme sein darf (§ 4 S. 1 Nr. 1 SodEG). Und demzufolge müssen auch Entschädigungen nach dem Infektionsschutzgesetz berücksichtigt werden (Nr. 2) wie auch Zuschüsse des Bundes und der Länder aufgrund anderer gesetzlicher Regelungen (Nr. 4). Wird zudem Kurzarbeit angemeldet, wären die Leistungen bzw. Einsparungen dann auch anzurechnen (Nr. 3).


Die Entscheidung daran teilzunehmen

Man kann das wie einen Tausch ansehen. Was an Personal und Sachmitteln (auch Räume) nicht gebraucht wird, soll dem Leistungsträger zur Verfügung gestellt werden. Dafür erhält der Leistungserbringer einen Monatsdurchschnitt als Bezahlung (wird aber als Zuschuss deklariert). Dieser Betrag wäre zu erstatten, wenn der Leistungserbringer von anderer Stelle her entsprechende Vergütungen erhalten würde.

In den Bedingungen dieser Sondervereinbarung findet sich genau dafür eine Verpflichtung (Ziffern 3 und 4 zu § 6 der Sonder-Vereinbarung). Das bedeutet wohl, dass man Entschädigungsleistungen nach anderen Regelungen beantragen soll, was verständlich ist. Doch soll man sich gezwungen sehen, Kurzarbeit anzumelden?

Strukturhilfen erhält man jedenfalls dann, wenn die eigenen Ressourcen nicht anderweitig eingesetzt werden können. Bei Kurzarbeit würde man diese Ressourcen aufgeben und bräuchte dann eigentlich keinen Entschädigungsanspruch. Die Schwelle dafür ist ja nun auf 10 % des Personals abgesenkt worden. Doch mit den ersten Überlegungen in dieser Richtung begannen auf Seiten der Tarifparteien entsprechende Verhandlungen, die zum Ziel hatten, einen ganz eigenen Tarifvertrag herzustellen. Im TV-L zum Beispiel käme Kurzarbeit überhaupt nicht in Frage. Und damit wäre ein guter Grund für eine Entschädigung gegeben, selbst wenn das eigene Personal nicht woanders eingesetzt werden kann (doch dann bleiben ja noch immer die Räumlichkeiten und Sachmittel).

Dieser Einsatz in anderen Bereichen oder sogar bei ganz anderen Unternehmen wäre im Öffentlichen Dienst keine Versetzung, sondern eine Abordnung. Wenn beispielsweise die Tagesförderstätte geschlossen wurde, kann der Arbeitgeber ohne weiteres vom Arbeitnehmer die Tätigkeit in einer Besonderen Wohnform / stationären Einrichtung verlangen. Eine Abordnung ist nämlich eine zeitlich befristete Tätigkeit in einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb (auch eines anderen Arbeitgebers). Das Arbeitsverhältnis wird fortgesetzt, die Bezüge verändern sich nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers (mit Ausnahme der besonderen Zuschläge). Die Tätigkeit wäre die gleiche.

Die Glaubhaftmachung der Bereitstellung wäre ausreichend, um die Entschädigungsleistungen zu verlangen. Monatlich wäre ein Bericht anzufertigen.

CGS




Quellen:

BMAS
Einsatz und Absicherung sozialer Dienstleister
Soziale Dienstleister und Einrichtungen sind infolge der Coronavirus-Pandemie von schwerwiegenden finanziellen Einbußen bis hin zur Insolvenz bedroht. Die Beschäftigten, die sonst diese wichtige Arbeit leisten, können jetzt in der Krise mithelfen.


weitergeleitet über die Lebenshilfe: 

(letzter Aufruf für alle Links am 3.4.2020)



Notizen:

1.
In früheren Jahren gab es ein sogenanntes Strukturbildungsgebot (vgl. § 75 Abs. 2 S. 1 SGB XII-alt), in dem folgendes stand: „Zur Erfüllung der Aufgaben der Sozialhilfe [als die Eingliederungshilfe noch Bestandteil der Sozialhilfe nach dem SGB XII war, eig. Anmerkung] sollen die Träger der Sozialhilfe eigene Einrichtungen nicht neu schaffen, soweit geeignete Einrichtungen anderer Träger vorhanden sind, ausgebaut oder geschaffen werden können.“

Nun heißt es in § 36 Abs. 1 S. 1 SGB IX: „Die Rehabilitationsträger [das sind i.d.R. die öffentlichen Leistungsträger] wirken gemeinsam unter Beteiligung der Bundesregierung und der Landesregierungen darauf hin, dass die fachlich und regional erforderlichen Rehabilitationsdienste und -einrichtungen in ausreichender Anzahl und Qualität zur Verfügung stehen.“ (Fettdruck von mir)

Siehe auch dazu meinen Beitrag vom 6.3.2016:
Das Strukturbildungsgebot abgeleitet für die Eingliederungshilfe

2.
Die Deutsche Rentenversicherung hat ebenfalls ein „bürokratiearmes“ Verfahren beschlossen, um ihrem Sicherstellungsauftrag unter anderem in Bezug auf Bildungseinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) nachzukommen. Dazu gibt es ein Schreiben vom 1.4.2020 von der Abteilung Versicherung, Rente und Rehabilitation – Service und Steuerung aus Düsseldorf.

3.
In Schleswig-Holstein scheint es Beratungen für die Eingliederungshilfe zu geben, die zur Stunde noch nicht abgeschlossen sind.




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