Sonntag, 7. Juni 2020

Nach der Krise ist nach der Krise

… vielleicht auch nicht. Vielleicht wird es mit der Krise weitergehen.

Immer weniger beherrschen die Corona-Viren die Schlagzeilen, und doch gibt es hin und wieder Meldungen, die uns an die Gefährlichkeit erinnern sollten, wie jetzt zuletzt bei Familienfeiern. Und wie es nach den Groß-Demonstrationen, die in vielen Hauptstädten und Metropolen stattfanden, nun weitergehen wird, zeigt sich – hoffentlich nicht. Ansonsten haben wir Ende der Woche wieder ein weitreichendes Kontaktverbot.

Dazu stehen in Konkurrenz sozusagen die Themen Wirtschaftshilfen und Arbeitslosigkeit. Natürlich haben die unmittelbar mit der Corona-Krise zu tun, allerdings tut sich nebenbei die Erkenntnis auf, dass bei manchen Geld und eigenes Wohlbefinden näher liegen als Unterstützung und Verständnis für Menschen mit Hilfebedarfen und das Gemeinwohl. Eine solche Krise schärft die Profile, wischt das Seichte hinfort und zeigt vieles ohne Maske. Das hat schon was Erschreckendes; aber es hat auch sein Gutes, weil man Prioritäten neu setzen muss, weil man sich dem Versuch der Fremdbestimmung bewusst macht, weil man sich den eigenen Werten stellt.


Der Sommer soll mundschutzfrei kommen

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) erklärte, ab dem 6. Juni 2020 soll es mundschutzfrei zugehen. Er vertraue auf die Einsicht der Bevölkerung. Darauf reagierten viele andere Politiker in Bund und Ländern mit Erschrecken und Entsetzen – was natürlich verständlich ist, weil es ja in verschiedenen Landkreisen viele Neu-Infizierungen gab. Die auf Bundesebene vereinbarte 50er-Grenze wird immer wieder beeindruckend gerissen.

Die 50er-Grenze verlangt eine Umrechnung auf 100.000 Einwohner. Im thüringischen Landkreis Sonneberg beispielsweise gibt es rd. 57/58.000 Einwohner. Zum 7.6.2020 hatte man an das RKI eine Zahl an Betroffenen von 38 gemeldet. Damit ergeben sich „68“ pro 100.000 Einwohner in 7 Tagen – die Grenze wurde überschritten. Der Landkreis steht nicht zum ersten Mal an erster Stelle. Vielmehr zeigen sich schon seit Wochen „Grenzübertritte“ (z.B. 28 Personen am 27.5.2020), so dass man von einem andauernden Problem ausgehen muss.

Es gibt daneben aber auch andere Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland, die aus einer Top-10-Liste nicht wegzudenken sind. Göttingen ist es, dank der Familienfeiern, nunmehr auch, der Landkreis Coburg (Bayern) und Bremerhaven / Bremen dagegen etwas länger. Das Problem mit dem Problem ist nun mal, dass die Erkrankung nicht sofort erkannt wird und deswegen aufgrund der ungehemmten Kontakte eine Ausbreitung unbemerkt stattfindet. In diesen Regionen müsste es ein intensives Testen geben. Das bietet zwar keine absolute Sicherheit, immerhin könnten einige Unentdeckbare und asymptomatisch Erkrankte gefunden und in Quarantäne geschickt werden. Der Ausbreitung muss jetzt konsequent begegnet werden, damit die gefährdeten Menschen (vulnerable Personen) geschützt sind.

Gefährdet heißt hier, dass es sich um Leute handelt, deren Gesundheit sehr zerbrechlich ist oder die aufgrund einer Vor- oder Grunderkrankung schnell in ein Krankenhaus müssen. Die stationäre Aufnahme wäre an sich wohl kein Problem. Die Masse der aufzunehmenden Menschen wäre es. Wie schnell es geht mit einer Erkrankungswelle, und wie schnell ein gesamtes Versorgungssystem zusammen bricht, hat man unter anderem in Italien gesehen. Wenn man zudem erleben muss, dass von allen Betroffenen in einem funktionierendem System noch immer 5 % der Menschen sterben, oder anders gesagt: Jeder 20. Patient wird nicht überleben, bezogen auf den Landkreis Sonneberg wären es von den 38 Neu-Infizierten der letzten sieben Tage schon mal zwei, in Bremerhaven dann schon 3, und in Göttingen ganze 6 Personen.


Das Spiel mit den Zahlen

Man kann zu Recht kritisieren, dass das nur ein Spiel mit Zahlen ist. Wie es wirklich geschehen wird, kann man nicht sagen an dieser Stelle. Die Wissenschaft hat in den letzten Wochen sehr viele neue Erkenntnisse gewonnen, es gibt sogar medizinische Strategien, um den Betroffenen besser helfen zu können. Dennoch kann man an den Daten ablesen, dass sich die Quote der verstorbenen Menschen nach wie vor verschlechtert – nicht verbessert!

Auch wenn wir jetzt besser verstehen und das Risiko nicht mehr so präsent ist, die Mortalität ist nicht gerade niedrig. Möchte man hier etwas vergleichen, um es anschaulicher zu machen, könnte man herausfinden, dass doppelt so viele Menschen in 2018 durch einen Sturz ums Leben kamen oder weniger als die Hälfte zu den Verkehrstoten zählten in 2019 (vgl. destatis u.a. zum Thema: Todesursachen).

Das Spiel wird allerdings auch anders betrieben. Es geht sogar so weit, dass man auf verschiedenen Seiten der kommunalen Gesundheitsbehörden Sachstände von 12 Uhr mittags liest, die sich ganz deutlich von denen des RKI abheben. Das RKI meldet einen Sachstand von 0 Uhr. Weiß man das nicht, geht das Vertrauen in das „gründliche System“ schnell verloren. Was wohl ebenso ein Manko darstellt, ist die technische Vernetzung der unteren Behörden und Meldenden. Nach wie vor müssen Meldungen von einem System in das andere (häufig per Fax) übertragen werden, was sehr nach „stiller Post“ aussieht. Ist es dann noch ein Wunder, wenn Tage später Korrekturen oder Nachmeldungspakete eingearbeitet werden müssen vom RKI?

Das Meldewesen muss jedenfalls besser geführt werden, um verlässliche Daten zu liefern, so dass eine bessere Risiko-Abschätzung und Gefahren-Wahrscheinlichkeit erarbeitet werden kann. Das, was sich bisher gezeigt hat, sind Angst-Szenarien, die bei vielen Menschen eine sinnlose Überforderung ausgelöst haben. Die zuständigen Stellen auf allen Ebenen müssen sich darüber klar sein, dass mit Zahlen gesteuert und verführt werden kann. Es braucht eine vernünftige Datenlage und Interpretation, um den Menschen die Angst zu nehmen. Immer dann, wenn die Situation der Menschen unverständlich ist und unsteuerbar scheint, verringert sich die Hemmschwelle und es werden auf einmal drastische Reaktionen und Gewalttätigkeiten rationalisiert (dazu gibt es verschiedene Fachbeiträge, die ich leider nicht präsent habe).


Die Überforderung im eigenen Heim

Kommunikation ist wichtig. Verstehen-wollen und Sinnhaftigkeit / Sinn-ergeben sind anscheinend zwei menschliche Bedürfnisse. In den letzten Monaten hatten alle Nationen namhafte Virologen zu ihren Beratern gemacht, um die Herausforderungen der Corona-Krise besser einordnen zu können. Doch auch die Bevölkerung suchte nach Antworten, so dass man in täglichen Talkshows und Polit-Runden diese Riege an Virologen und Fachexperten einberief. Die Sprache war dabei zum Glück noch einigermaßen verständlich, aber die Suche nach einer eigenen Strategie, wie man mit dem Risiko der möglichen Ansteckung umgehen sollte, verlief meistens im Sande.

Zuerst ging es noch um Fallzahlen in den Bundesländern, mittlerweile kann bis hinunter auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte differenziert werden. Das hilft, um die „nahende“ Gefahr besser einordnen zu können. Und so kann sich die Bevölkerung mehr und mehr beruhigen – und Mut fassen. Der Landkreis in einem benachbarten Bundesland ist subjektiv betrachtet viel weiter weg, als das benachbarte Bundesland selber.

Dieses Gefühl der Erleichterung gab es eine lange Zeit nicht. Die schnellen Schließungen führten zu einem Notstand an Betreuung bei Menschen mit Behinderung und Pflegebedarfen. Die Versorgung dieser Menschen erfolgte entweder in den Wohnstätten (mit Ausgangs- und Besuchsverboten), eigenen Wohnungen oder bei ihren Angehörigen (z.B. den Eltern, und dazu noch im alten Kinderzimmer). Die Versorger waren Personen, die das gelernt hatten und jetzt vor dem gleichen Problem standen, oder Angehörige, die keine professionelle Distanz und Fachlichkeit aufweisen konnten, und dazu auch noch mit eigenen Existenzprobleme zu kämpfen hatten. In so einem Umfeld kann man nicht entschleunigt und behütet miteinander leben – es gibt Auseinandersetzungen.

Viele der Menschen mit Behinderung verstanden nicht, warum sie ausgegrenzt und abgeschottet leben sollten. Für manche, so hört man, war dieses Ausgegrenztsein kein unbekanntes Gefühl. Einige fühlten sich dagegen pudelwohl und genossen diese „Corona-Ferien“. Doch in den meisten Fällen vermissten sie die Freunde von der Arbeit oder der Lebensgemeinschaft. Die soziale Distanzierung traf an dieser Stelle die Menschen sehr, weil sie auf einmal wieder mal fremdbestimmt wurden – das ganze Inklusionsgehabe mit dem hohen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben löste sich auf.

Viele Angehörige hatten mit Existenz-Sorgen zu kämpfen, und gleichzeitig mussten die Kinder bespaßt werden. Dort, wo es genügend Raum gab und Ausweichmöglichkeiten, schien dies kein großes Problem gewesen zu sein. In beengten Lebensräumen ist dies jedoch nicht der Fall.  


Einige Hilfen

Die Krise war so eindringlich, dass man in kürzester Zeit neue Wege gehen musste. Was man an Lösungen erfand, ist bemerkenswert. Diese Ideen werden sehr wahrscheinlich bleiben und das weitere Handeln mitbestimmen.

-          Mit Symbolen aus der METACOM-Reihe die Nies-Etikette und das richtige Händewaschen beibringen.
-          In Leichter Sprache über die Landesverfügungen und die Abstandsregeln informieren.
-          Per YouTube und Video-Chat-Systemen die Eingesperrten mit den Freunden verbinden.
-          Mit Anrufen, Postkarten und kleinen Nachrichten für einen ständigen Kontakt sorgen.
-          Schulbegleitungen, die sich mit ihren Schulkindern zum Fahrradausflug trafen.

Doch es fanden sich leider ebenso viele Grenzen und technische Hürden. Schulkinder sollten per PC an einem E-Learning teilnehmen, hatten aber nicht die entsprechende Ausstattung oder Zugänge dafür. Das Lernmaterial gab es teilweise überhaupt nicht.

Wie viele Ideen können wir uns bewahren und für die Zukunft verwenden? Was wird übrig bleiben, und was können wir noch besser machen?

Nach der Krise, ist nach der Krise. Es kommt alles zum Ende und wird vielleicht wieder ein paar Jahre brauchen, bis es wieder zu einer Pandemie kommt, werden viele sagen (gerade da denke ich an eine Meinungsmachende Klientel). Vielleicht kommt es aber ganz anders und wir werden mit einer neuen Normalität konfrontiert, in der wir uns einfinden müssen. Schaut man sich zum Beispiel Krankheiten wie Diphterie an, gibt es trotz Impfstoff ein Fortsetzen der Krankheit, die nicht enden will. Und nun müssen wir uns vor Augen führen, dass an einem Impfstoff gegen das SARS-2-Virus gearbeitet wird, den es jedoch nicht gibt – es wird dauern, und es kann nach wie vor eine zweite Welle geben.

CGS




Das hier ist keine Rechtsberatung oder Aufforderung zur Vornahme eines Rechtsgeschäftes. Der Beitrag stellt nur meine Sicht auf die Dinge dar. Brauchen Sie rechtliche Unterstützung, wenden Sie sich an die zuständigen Behörden, Sozial- und Betroffenenverbände oder rechtskundige Dritte. Lesen Sie bitte ebenfalls die Hinweise zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss sowie die Datenschutzerklärung.

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