Montag, 12. Oktober 2020

Das Persönliche Budget im Sinne eines „Wer sich nicht wehrt…“ (Teil 3)

Recht haben und Recht bekommen sind nach gängigem Wissen zwei verschiedene Dinge. Aber selbst wenn sie deckungsgleich sind, die mit dem langen Atem können in ihrem Rechtsirrtum verharren und die anderen mit einem bürokratischen Hürdenlauf aus der Puste (und zur Aufgabe?) bringen.

Vor zwei Jahren (Schuljahresbeginn 2018) wünschte sich eine Sorgeberechtigte eine bestimmte Person als Schulbegleitung. Jugendamt und der Magistrat der Stadt Bremen wollte das nicht, weil man angeblich die Eignung dieser Person nicht erwiesen sah. Man bestand von Seiten der Stadt auf einem Mitspracherecht, obwohl das Vertrauensverhältnis zwischen dem zu begleitenden Kind und seiner Schulassistenz über allem stehen sollte. Überhaupt hatte man so seine Zweifel an dem Erfordernis der Beschulung an der Regelschule (was von der Schule in ihrer ersten Stellungnahme anders gesehen wurde), wenn es doch eine spezielle Tagesschule für solche Kinder geben würde. Die schlechten Erfahrungen, die die Sorgeberechtigten mit den professionellen Diensten hatten, wurden nicht ernst genommen. In dieser Zeit fand keine Beschulung statt, es wurde keine Schulassistenz gewährt. Einen Hilfeplan und eine Zielvereinbarung, die als Voraussetzung für ein Persönliches Budget anzusehen ist, gab es nicht.

Den Rechtsweg zu bestreiten, ist in solchen Fällen das letzte Mittel. Wie sich ein solcher Weg der Wehrhaftigkeit gestalten kann, macht im vorliegenden Fall einfach sprachlos. Ein untergeordnetes Gericht sieht bei der Jugendhilfe kein Fehlverhalten, und unterstellt damit den Eltern ein Vereiteln und Verzögern. Das übergeordnete Gericht bestätigt dagegen das rechtsirrige Verhalten der Jugendhilfe und entscheidet zugunsten des Leistungsanspruchs auf eine Schulassistenz im Wege des Persönlichen Budgets.

Was dann?

 

Nicht die Leistungsträgerin vereitelt und verzögert

Mit Beginn des zweiten Schuljahres, das Kind war jetzt 7 Jahre alt, gab es erneut einen Anlauf der Sorgeberechtigten in Form eines gerichtlichen Antrags auf Verpflichtung zur Gewährung eines Persönlichen Budgets. Die Jugendhilfe als Leistungsträger zeigte sich im Verfahren zwar „höchst interessiert“, aber erklärte, dass die Hilfeplanung bislang daran scheiterte, weil die Ausführung nur in der Ausführungsform eines Persönlichen Budgets geschehen sollte (vermutlich eine sehr verkürzte Darstellung des Gesagten). Das zuständige Verwaltungsgericht befand jedenfalls nach über einem halben Jahr, dass die Sorgeberechtigten jeglichen Versuch eines Hilfeplangesprächs ablehnten und somit eine notwendige Zielvereinbarung nicht zustande gebracht werden konnte (I. achter Absatz in den Gründen, a.a.O.). 

„Es sei nicht die [Leistungsträgerin], die die Vornahme dieser Schritte [zur Bedarfsfeststellung] vereitele und verzögere.“ (Einfügungen zum besseren Verständnis und Lesbarkeit sowie Fettdruck von mir)

Eine Behörde muss nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob und in welchem Umfang Beweismittel herangezogen werden müssen. Aufgrund der Kenntnisnahme einer bestehenden Notlage besteht jedenfalls eine Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts (§ 20 SGB X), und das Verfahren endet schließlich mit der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (§ 37 SGB X). Die Mitwirkung der Person, die die Leistung begehrt, ist natürlich wesentliche Basis, aber nicht zwingend und auch nicht immer möglich; die Verletzung einer Mitwirkungspflicht führt nicht zwangsläufig zur Ablehnung der Leistung (vgl. §§ 60 ff SGB I). In einem solchen Fall entsteht eine Ermessensentscheidung, die in einem Hilfeplan-Dokument begründet werden muss. Wenn also der Bedarf erkennbar ist, muss eine Leistung (hier war es die Schulassistenz, nicht zu verwechseln mit dem Persönlichen Budget), wenigstens zum Teil, bewilligt werden.

Es läuft also alles auf eine Entscheidung der Behörde hinaus. Wenn sich aber nichts tut, sollten die Leistungsberechtigten im Eilverfahren den einstweiligen Rechtsschutz verlangen. Man kann nicht warten, bis nach verschiedenen Widerspruchsrunden endlich eine Entscheidung steht. Zu unterscheiden ist an der Stelle zwischen dem belastenden Verwaltungsakt (belastend für den Betroffenen), der abgewehrt werden soll, und dem begünstigenden Verwaltungsakt, im Hinblick auf eine benötigte / begehrte Leistung. Bei ersterem spricht man auch von einem Antrag auf Rechtsschutz mit dem Ziel der aufschiebenden Wirkung und der Verhinderung der sofortigen Vollziehung. Bei dem zweitem spricht man von einem Rechtsschutz mit dem Ziel der einstweiligen Anordnung. Zu bedenken ist jedoch dabei, dass mit der Entscheidung das eigentliche Verfahren in der Hauptsache nicht ersetzt wird.

Ein solches Rechtsschutzverlangen (vor dem Sozialgericht allerdings) wird üblicherweise dann gestellt, wenn das weitere Zuwarten auf eine endgültige Entscheidung der Behörde zu lange dauert. Allgemein wird ein solches Rechtsschutzverlangen als viel effektiver empfunden, als die Untätigkeitsklage. Was es zusätzlich braucht, ist ein Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund. Ist der Rechtsanspruch nachgewiesen bzw. könnte dieser vor einem entscheidenden Gericht überzeugend glaubhaft gemacht werden, wäre der Anordnungsanspruch im Prinzip erfüllt (auch hier gibt es einen Ermessensspielraum, der eingeschränkt werden muss vom Leistungsberechtigten). Der Anordnungsgrund wiederum zeigt sich in der existenziellen Notlage, die in diesem Moment besteht und beseitigt werden muss mittels der Entscheidung. Doch auch hier müssen Beweise vorgebracht werden können (Abwägung des Gerichts).


Die Leistungsträgerin ist ihrer Pflicht bisher nicht nachgekommen

Im vorliegenden Fall war der Leistungsbedarf nach einer Schulassistenz unstrittig. Die von den Sorgeberechtigten gewünschte Ausführungsform war das Persönliche Budget (nach § 29 SGB IX n.F. ein gebundener Rechtsanspruch). Das nun entscheidende Oberverwaltungsgericht befand:

„Die [Leistungsträgerin] ist ihrer Pflicht, mit [der antragstellenden Person] eine Zielvereinbarung nach § 29 Abs. 4 SGB IX [neue Fassung 2020] abzuschließen, bisher nicht nachgekommen.“ (Einfügungen zum besseren Verständnis und Lesbarkeit sowie Fettdruck von mir)

Und:

„Entsprechendes gilt für die Hilfeplanung nach § 36 Abs. 2 SGB VIII. Diese ist von der [Leistungsträgerin] bisher gerade nicht unter der Prämisse durchgeführt worden, dass [der leistungsberechtigten Person] ein gebundener Rechtsanspruch auf die Ausführung der Leistungen in Form eines persönlichen Budgets zusteht, obwohl … [aus dem Hilfeplan früheren Datums] … hervorgeht, dass [die leistungsberechtigte Person bzw. seine Sorgeberechtigten] diese Ausführungsform auch im Hilfeplangespräch weiterhin gewünscht haben.“ (Einfügungen zum besseren Verständnis und Lesbarkeit sowie Fettdruck von mir)

Im Weiteren sprach das OVG davon, dass der Träger der Jugendhilfe hier „rechtsirrig“ den Anspruch bestreitet hatte. Und es wurde sogar betont, dass eine „Rechtsverletzung droht“, im Hinblick auf die effektive Abwendung einer Notlage, wenn die benötigten Leistungen (für eine Schulassistenz zur Teilhabe am Leben in der schulischen Gemeinschaft und als Hilfe zur Bildung) nicht aus eigenen Mitteln finanziert werden können. Von daher braucht es die Möglichkeit zur einstweiligen Anordnung, damit bis zur endgültigen Klärung im Hauptsacheverfahren eine Hilfeleistung geschieht.

Das OVG setzte dem Ganzen aber noch einen drauf, indem es auf die möglichen Nachteile der Leistungsträgerin einging. Die seien nämlich „weniger gravierend“, weil der entscheidende Senat eine Begrenzung der Kosten zuließ und sich nach dem orientierte, was die Leistungsträgerin lt. Hilfeplan ohnehin bereit war an einen professionellen Dienst zu leisten. Dieses nun zugesprochene Budget wäre zweckgebunden einzusetzen und könnte in einem „Vollstreckungsverfahren“ mit entsprechenden Nachweisen belegt werden; eine zweckfremde Mittelverwendung wäre somit ziemlich unwahrscheinlich, kann man sagen. Und überdies, so das Gericht, hätte die Leistungsträgerin es selbst in der Hand, von der einstweiligen Anordnung wegzukommen, indem nun „unverzüglich … mit [der leistungsberechtigten Person bzw. der Sorgeberechtigten] über den Abschluss einer Zielvereinbarung und eine Hilfeplanung auf Basis eines persönlichen Budgets zu sprechen…“.

Das Oberverwaltungsgericht erkannte das Bedürfnis nach Sozialleistungen an und bewerte es höher, als die bürokratischen Hürden. Der Meinungswechsel der Schule wäre meiner Ansicht nach zu rügen gewesen, ebenso die Verweigerung von Hilfen durch die Jugendhilfe einem Kind gegenüber, obwohl es Aufgabe dieser beiden Institutionen ist, das Wohlergehen des Kindes zu schützen.


Den Leistungsanspruch durchsetzen können

Das letzte Gericht bestätigte den Leistungsanspruch, aber es passierte nichts. Wie soll ein mittelloser Mensch seinen Rechtsanspruch verwirklicht bekommen?

Bei einer kürzlich erfolgten Rückfrage zeigte es sich, dass das Kind nach wie vor nicht zur Schule gehen kann und die zuständige Leistungsträgerin kein Geld für eine Schulassistenz bezahlt. Die Verweigerungshaltung geht also weiter.

Das Ganze geht jetzt in eine Runde, die als sehr befremdlich anzusehen ist – befremdlich meiner Ansicht nach ganz besonders, weil schon in den bisherigen, bekannten Gerichtsbeschlüssen nachvollziehbare Gründe für das „rechtsirrige“ Verhalten der Behörde nicht enthalten waren.

Die Leistungsverweigerung erfolgt durch einen Behördenvertreter und wäre somit ein gutes Beispiel für eine Amtshaftung (§ 839 BGB). Doch weil dazu die geschädigte Person durch den Gebrauch eines Rechtsmittels eine Schadensabwendung versuchen muss (Abs. 3), wird die persönliche Heranziehung des Schädigers erheblich erschwert.

Materiell geschädigt wäre die leistungsberechtigte Person, weil sie noch keine Schulassistenz zu entlohnen hatte, nicht wirklich. Von daher kann der Leistungsanspruch nur im ideellen Bereich vermutet werden; eventuell könnte man eine Verletzung der Person unterstellen (§ 840 BGB), was aber auch sehr krude zu argumentieren wäre.

Weil es um ein Grundrecht geht, wäre meiner Ansicht nach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prädestiniert dafür. Und dazu erklärt unsere Bundesregierung:

„Seit 1998 können Einzelpersonen direkt eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof der EU in Luxemburg) einreichen. Das Verfahren vom Eingang der Beschwerde bis zur Verkündigung des Urteils wird vom Gerichtshof durchgeführt.“

Warum also nicht, wenn das der einzige Weg zu sein scheint?

CGS

 

 

 

Quellen:

Die Beschlüsse der o.g. Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte liegen mir nicht alle vor. Zitiert wird lediglich aus den beiden Unterlagen, die mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden. Die Aktenzeichen können nach begründeter Bitte vorgebracht werden.


Das hier ist keine Rechtsberatung oder Aufforderung zur Vornahme eines Rechtsgeschäftes. Der Beitrag stellt nur meine Sicht auf die Dinge dar. Und eine solche Sicht kann sich immer noch ändern. Brauchen Sie rechtliche Unterstützung, wenden Sie sich an die zuständigen Behörden, Sozial- und Betroffenenverbände oder rechtskundige Dritte. Lesen Sie bitte ebenfalls die Hinweise zum Rechtsstatus der Webseite, Urheberrechtsbestimmungen und Haftungsausschluss sowie die Datenschutzerklärung.

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