Samstag, 24. September 2016

Was ist eine angemessene Schulbildung für einen Menschen mit Behinderung?

Viele Eltern misstrauen der öffentlichen Schule und sehen das Wohl ihres Kindes in einer privaten Schule – dies gilt auch für Eltern „behinderter“ Kinder. Es wird den öffentlichen Schulen nicht nur Kompetenz und Fachlichkeit abgesprochen, sondern auch Leistungsabbau und mangelnde Motivation unterstellt. Ob Kinder mit besonderen Unterstützungsbedürfnissen in einer privaten Schule tatsächlich besser aufgehoben sind, soll in diesem Beitrag nicht untersucht werden. Es kommt letztlich immer auf den Eindruck an, den die Eltern und das Kind von dem jeweiligen Beschulungsangebot vor Ort haben. Doch es gibt Aspekte, die Eltern von behinderten Kindern nicht automatisch voraussetzen sollten, wenn sie sich für den Besuch einer privaten Schule entschieden haben und diesen Wunsch dem Sozialhilfeträger vortragen.

Vor mehreren Jahren entschied das Bundessozialgericht, dass eine Übernahme des Schulgeldes durch die Eingliederungshilfe nicht erfolgen kann (BSG-Urteil vom 15.11.2012, Az. B 8 SO 10/11 R). In dieser Sache gab es zuvor das Einverständnis des Schulamtes, dass das Kind mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf eine Privatschule besuchen konnte. Die Privatschule arbeite nach den Grundsätzen der anthroposophischen Heilpädagogik und Waldorfpädagogik. Die Kosten für die Aufnahme und das Schulgeld für den Besuch übernahm das Schulamt dagegen nicht, weil der Besuch einer öffentlichen Schule dagegen möglich gewesen wäre. Die Eltern sahen nun das Recht des Kindes auf eine angemessene Schulbildung gefährdet und klagten (vgl. auch § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII).

Zwar umfassen die Leistungen der Eingliederungshilfe auch „Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu…“, doch was dabei zu beachten ist, sind die weiterhin bestehenden Bestimmungen über die allgemeine Schulpflicht. Das bedeutet, dass zwar das Wunsch- und Wahlrecht unangetastet bleibt, aber wenn staatlicherseits zumutbare Ressourcen vorhanden sind, dann müssen keine zusätzlichen Ressourcen staatlicherseits geschaffen werden.

Dieser Grundsatz ist wichtig.

Wenn Eltern mit dem Besuch einer öffentlichen Schule nicht einverstanden sind, müssen sie objektive Gründe anführen, warum der Besuch unzumutbar ist. Ein Beispiel hierfür wäre die „Rampe für den Rollstuhlfahrer“. Würde eine solche bei der öffentlichen Schule fehlen, aber die private Schule wäre zugänglich für einen derart behinderten Menschen, müsste entweder ein barrierefreier Zugang geschaffen werden an der öffentlichen Schule oder jemand anderes müsste das Schulgeld der privaten Schule übernehmen.

Wer also?

Wenn die Beschulung eines behinderten Kindes auf einer öffentlichen Schule „gescheitert“ und somit keine weitere öffentliche Schule „zumutbar“ möglich ist, müsste eine Kostenübernahme durch das Schulamt erfolgen. Doch wenn das Schulamt keine weiteren Ressourcen schaffen oder diese Kosten partout nicht übernehmen will, wer dann?

Von dem VG Freiburg wurde einst beschlossen, dass das Schulgeld in dem dort zu entscheidenden Fall nicht der Finanzierung des Unterrichts diente, sondern als Teil der unterstützenden Betreuung. Von daher musste der Sozialhilfeträger das Schulgeld übernehmen (VG Freiburg Beschluss vom 21.3.2013, Az. 4 K 392/13).

In einem anderen Verfahren hatten die Eltern ihr Kind auf einer privaten Schule angemeldet – einer anerkannten Tagesbildungsstätte mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Seitens des Schulamtes bestanden keine Einwände, doch der Sozialhilfeträger verweigerte die Kostenübernahme. In der ersten Instanz konnten sich die Eltern noch durchsetzen, doch in der zweiten Instanz scheiterten sie (SG Detmold Urteil vom 26.6.2008, Az. S 6 SO 188/07; LSG NRW Urteil vom 15.5.2013, Az. L 20 SO 67/08). Das LSG bestätigte, dass der Nachranggrundsatz aus § 2 Abs. 1 SGB XII anwendbar sei, aber nun geprüft werden muss, ob tatsächlich eine angemessene Schulbildung möglich ist; es könnte nämlich durchaus sein, dass eine Kostenübernahme für eine „anderweitige Beschulung durch den Eingliederungshilfeträger“ in Betracht kommen würde (vgl. S. 185, Rechtsdienst der Lebenshilfe, RD 4/2013). Im vorliegenden Einzelfall sollte von daher zuerst einmal bestimmt werden, welches Bildungsziel erreichbar ist. Und dann wäre zu prüfen, ob dieses Ziel mit den Mitteln des öffentlichen Schulträgers in zumutbarer Weise erreichbar ist.

Im Verfahren vor dem LSG NRW wurde schließlich geklärt, dass in beiden Schulen der Hauptschulabschluss erreichbar wäre, der Schulweg zu beiden in etwa gleichlang ist und der Erfolg der Schulbildung nicht infrage gestellt werden könnte. Demnach konnte nicht weiter bestimmt werden, dass der Besuch der privaten Schule „angemessen“ sei. Von den Sachverständigen nicht problematisiert wurden dagegen die möglichen Folgen einer Umschulung und die Auswirkungen auf das Kind (S. 185, a.a.O.).

Die Bestimmung des Bildungsziels ist meiner Ansicht nach höchst problematisch. Bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wird in der Regel unterstellt, dass ein Hauptschulabschluss nicht erreicht werden kann. Von daher ist anzunehmen, dass Eltern von Kindern mit diesem Förderschwerpunkt erhöhte Schwierigkeiten haben, ihr Kind auf eine andere, nicht-staatliche Schule zu bringen und dafür das Schulgeld refinanziert zu bekommen. Damit dies aber doch gelingt, müssten Gründe herausgearbeitet werden, die eine Angemessenheit bzw. die Zumutbarkeit der privaten Schule einerseits und die Unzumutbarkeit und subjektiven Beeinträchtigung an der öffentlichen Schule andererseits belegen.

Zum Kernbereich der Schule bzw. der pädagogischen Arbeit gehören nach Ansicht des Bundessozialgerichts alle Maßnahmen, welche helfen, die staatlichen Lernziele zu erreichen. Dies wäre in erster Linie die Finanzierung des unentgeltlichen Unterrichts. Diese Kosten muss das Bildungsministerium bzw. das Schulamt übernehmen. Die Kosten der unterstützenden Betreuung, die behinderungsbedingt nötig sind und die Teilhabe am Schulunterricht zu ermöglichen, also einen Nachteil für das Kind abzustellen, übernimmt die Sozialhilfe oder Jugendhilfe.

Der Sozialhilfe- oder Jugendhilfeträger muss dagegen erst dann auch das Schulgeld übernehmen, wenn eine angemessene Schulbildung unter Berücksichtigung objektiver und subjektiver (also personenbezogene) Gründe nicht möglich ist.


CGS




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