Samstag, 26. Mai 2018

Inklusion mit oder ohne Förderschule?

„Vor etwa 50 Jahren wurden eine ganze Reihe von Förderschulen gegründet. Dann kam die Inklusion – und viele der Schulen wurden wieder geschlossen. Doch das passt nicht allen.“ (Quelle: „Inklusion oder Förderschule – alle unter einem Dach?“ von Anabela Brandao, veröffentlicht am 9.7.2017 unter  https://www.shz.de/17256881, letzter Aufruf am 25.5.2018)

Das Thema Bildung ist schwierig zu handhaben für Eltern, die schließlich nur das Beste für ihre Kinder wollen. Eltern von Kindern mit Besonderheiten müssen zudem die Besonderheiten, die mit der Behinderung der Kinder zusammenhängen, meistern. Eine große Herausforderung. Die Diskussionen, und wie z.B. der Artikel aus der SHZ von oben, zeigen, dass man sich sehr unsicher ist über die Beschulung auf einer sogenannten Regelschule. Die Förderschule wird als Alternative gesehen. Doch ist sie das wirklich?

Es gibt da viele Berichte von Kindern, die mit ihren Besonderheiten in der Regelschule einfach nicht bestehen können und verlieren. Eltern würden gerne den Empfehlungen der Schulleitungen folgen und die Kinder in die Schutzzone der Förderschule stecken. Doch das Schulamt sperrt sich – aus haushaltspolitischen Überlegungen? Es geht doch immerhin um „behinderte“ Kinder, denen vielleicht nie wirklich geholfen werden kann, warum also noch so viel Aufhebens machen – fragen sich da viele.

Wenn man aber Behinderung anders verstehen könnte, würde man vielleicht eine andere Sichtweise einnehmen können, die sehr viel langfristiger ausgerichtet wird. Das eigentliche Ziel ist nämlich die Förderung der Selbstbestimmung, damit eine eigenbestimmte (nicht fremdbestimmte) Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gelingt. Oder führen solche Überlegungen in eine Sackgasse?


Verlieren mit der Inklusion

Weil Förderschulen (Förderzentren) abgeschafft werden, stehen viele Beteiligte, insbesondere Eltern und Lehrkräfte, dem Inklusions-Prozess insgesamt sehr skeptisch gegenüber. Wie soll das gut gehen, fragen sie, wenn Kinder mit Unterstützungsbedarf sich alleine und ohne Hilfe in einer Grundschul-Klasse mit „35 Mitschülern“ zurechtfinden müssen. Sie verlieren.

Im diesem Beispiel wurde auch noch berichtet, dass sich eindeutig Anzeichen einer Überforderung zusammen mit Selbstverletzungen zeigten. Die Mutter musste immer wieder beim Schulamt den Wechsel auf eine Förderschule verlangen. Selbst die Schulleitung hatte die Mutter bei diesem Wunsch unterstützt, doch das Schulamt sah das zuerst ganz anders. *)

In der Zeit des Aufenthalts in der Kindertagesstätte, war vielleicht die Behinderung kein Thema. Doch mit dem Eintritt in die Grundschule wird die Behinderung zum alles entscheidenden Thema gemacht. Und die Eltern müssen jetzt eine Entscheidung treffen, wo ihr Kind bald zur Schule gehen soll: Regelschule oder Förderschule.

Was muss man denken, wenn man sieht, dass die Inklusion Förderschulen abschafft? Auch wenn sich das Entscheidungs-Problem der Eltern in Luft auflöst, die öffentlichen Kassen sparen sehr viel Geld, weil nun die Regelschulen die Arbeit übernehmen müssen. Die frei gewordenen Sonderpädagogen sollen dagegen nur herumreisen und beraten, aber wirklich etwas leisten können sie nicht. Es ist eher so, dass die Schulleitungen und Lehrkräfte jetzt völlig überfordert sind und sich nicht zu helfen wissen. Die Kinder mit ihren Besonderheiten werden konfrontiert mit einem Leistungsdruck und einer Erwartungshaltung, mit der sie nicht zurechtkommen können. Sie versagen.

Es ist somit kein Wunder, dass man dieser Sache mit der Inklusion mit Abwehr gegenübersteht.


Inklusion „richtig“ verstehen

Man tut sich schwer mit diesem Begriff: Inklusion. Im Artikel aus der SHZ heißt es auch, dass es kein einheitliches Verständnis darüber gibt, „was genau Inklusion eigentlich bedeutet.“ Zwar geht es bei dieser UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) um sowas wie Förderung und Teilhabe, aber ganz besonders geht es doch um den Punkt der „Selbstbestimmung“. Wenn Förderschulen abgeschafft werden, so die sich daraus ergebende Schlussfolgerung, gibt es für Kinder mit Einschränkungen keine Alternativen und demzufolge kann ein selbstbestimmtes Lernen nicht stattfinden. Das heißt also, sie sind dem Regel-System ausgeliefert.

Und noch ein Punkt wird aufgetan: Behinderte Menschen werden mit nicht-behinderten Menschen konfrontiert. Sie fühlen sich dann erst recht ausgegrenzt, weil sie nicht mitkommen, so wie die anderen. Sie müssen sich dementsprechend zwangsläufig als „wertlos“ empfinden. Mit der Inklusion kann man also nur verlieren. Und von daher werden Förderschulen gebraucht.

Hat man damit die wahre Bedeutung von gesellschaftlicher Inklusion verstanden? Oder sind es nicht doch Ängste, die mit solchen Argumenten bedient werden?


Was ist schon Behinderung

Diese vielen Beschwerden müssen einen schon nachdenklich machen. Dieses ständige Hinterfragen, was nun das Beste für das Kind ist, erschwert die Entscheidung und belastet die Eltern – keine Frage.

Es wäre schon aus dem Grund ganz nützlich, wenn es diese Wahl oder nur eine Alternative geben würde. Früher wurde mal eben bestimmt, dass ein behindertes Kind in die Anstalt kommen muss – die Förderschule ist natürlich keine Anstalt, aber sie ist schon ein Sammelplatz für Kinder mit einer Bandbreite an Besonderheiten und Einschränkungen. Sie ist eben nicht die regelhafte Grundschule.

Stellt man sich nun die Frage, was Behinderung denn eigentlich ist, begegnet man schnell der weit verbreiteten Ansicht, Behinderung ist eine Krankheit. Auch jetzt, bei der Diskussion um ein System der Bedarfsbemessung im Wege einer Klassifizierung von behinderten Menschen nach der ICF-Norm, offenbart sich ein eher medizinisches Herangehen an die wirklichen Bedürfnisse auf Teilhabe bei diesen Menschen. Man unterstellt ein krankhaftes Abweichen von der Norm, was zu heilen ist.

Da bei behinderten Menschen keine große Aussicht auf Heilung besteht (es sei denn, es geschieht eine „Reinigung“ – vgl. Markus 1, Vers 40-45, Luther-Bibel), brauchen Ressourcen nicht zum Einsatz kommen. Wohin das dann führt, sollte man sich aber mal vorstellen – oder in Geschichtsbüchern nachlesen. Menschen, die sich einem System unterwerfen müssen, weil sie einem Verständnis nach Leistungsfähigkeit nicht entsprechen, würden von da an ein Leben ohne Freiheit, Rechte und – letztendlich auch – Würde führen. Für mich ein krasser Verstoß gegen unsere Verfassung (Art. 1 GG).


Behinderung muss anders verstanden werden

Dieses Verständnis nach Leistungsfähigkeit kann sehr schnell zu unerreichbaren, überfordernden Zielen führen. Das sollte nicht sein.

Eine ganz andere Sicht auf die Dinge kann sich aber dann erschließen, wenn man Behinderung als eine Einschränkung sieht, die sich aus Umweltfaktoren ergibt. Ein Beispiel, um das besser zu veranschaulichen, ist der Rollstuhlfahrer, der die steile Treppe vor dem Schulgebäude überwinden muss. Ist der Mensch damit unreif für die Schule? Muss die Person auf Bildung verzichten, nur weil eine von anderen gemachte Barriere den Zugang verwehrt?

Auch geistig behinderte Menschen haben ein Recht auf Bildung; ja es findet sich sogar ein Bedürfnis nach Bildung. Vielleicht sind es nicht die Themen, die man „normalerweise“ als eine Schulbildung versteht, doch ein Wissensdurst ist immer vorhanden. Und mit dem kann man arbeiten und dem Menschen mit Einschränkungen eine Förderung zugutekommen lassen. Da gibt es Menschen mit besonderen Begabungen (Stichwort: Inselbegabungen), die zwar in vielen anderen Lebensbereichen im Wettbewerb mit den Leistungsmenschen versagen, aber an eben einer Stelle erstaunen sie die selbsternannten Eliten.

Was diese Themen anbelangt, damit sind jetzt nicht diese „lebenspraktischen Kenntnisse“ gemeint. Auch Nicht-Behinderte sollten in solchen Fertigkeiten trainiert werden, weil „da draußen“ schwer verständlich und unüberschaubare Handy-Tarife und Kredit-Verträge auf Kundenfang warten. Mit vielen bunten Bildern und lauter Musik wird geworben, nur das, worauf es beim Abschluss eines Vertrages ankommt, hat kein junger Mensch gelernt. Auch sie, diese „normalen“ Menschen müssen im Wettbewerb mit den anderen sich durchsetzen und es schaffen, sonst gehen sie unter und werden zu „Kanonenfutter, Stimmvieh und Kulis“.


Wettbewerb als Leitkultur

Unser Wirtschaftssystem und das Leben in der Gemeinschaft basieren auf dem Wettbewerbs-Gedanken; auch wenn Kinder nicht gegeneinander antreten müssen, sie sind mit einem Lehrplan konfrontiert. Und dieser Lehrplan wird zum absoluten Maß aller Dinge erhoben; ja er muss in einer bestimmten Zeit erfüllt werden. Kann ein solches Ziel nicht erreicht werden, wäre eine weitere Schulbildung auch nicht mehr angemessen oder notwendig.

Beim zieldifferenten Lernen fehlt es dagegen an der Möglichkeit zum Vergleich. Wenn jedes Kind sein eigenes Lern-Tempo ausleben kann, dürfen sich auch verlangsamte Kinder mehr Zeit nehmen für die Bildung. Das Lernen folgt einem eigenen Tempo – statt hinterher zu laufen und das Ziel trotzdem nicht zu erreichen, sollte gelten: Der Weg ist das Ziel – Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst.

Wettbewerb als Leitkultur stellt für Kinder mit Einschränkungen ein System der Benachteiligung dar, könnte man sagen. Doch es findet sich dank dieses Wettbewerbs eine ganz neue Perspektive, die man nutzen kann. Behinderte Kinder erleben natürlich eine Benachteiligung gegenüber anderen, weil sie sich ihrer Einschränkung hin und wieder bewusst sind. Aber eine solche Einschränkung ist nicht Teil ihrer ständigen Selbstwahrnehmung. Vielmehr erleben sie, wie die anderen Kinder etwas tun können, haben oder machen. Und sie wollen es ebenso!

Damit kann man arbeiten und etwas fördern, was Entwicklung darstellt hin zu einem Leben in Selbstbestimmung.


Förderschulen erhaltenswert?

Könnten das nur Förderschulen leisten?

Der Artikel aus der SHZ jedenfalls erwähnt eine Studie in Nordrhein-Westfalen, in der „fast 90 Prozent aller Eltern, die ein Kind mit besonderem Förderungsbedarf haben, für den Erhalt der Sonderschulen“ sind. Solche Zitate muss man schon hinterfragen, weil häufig sinnverkürzende Aussagen gemacht werden. Was aber Förderschulen wirklich wert sind, lässt sich (zum Glück oder Unglück) pauschal nicht beurteilen. Sie stellen schon eine Alternative dar, ohne die es in einem System des Wettbewerbs und der Eliten nicht gehen würde. Man könnte sie als Schutzzonen betrachten, in denen sich manche Menschen einfach sicherer und gut aufgehoben fühlen können. Von daher kann man diese Daseinsberechtigung ihnen nicht absprechen.

Doch wie sich schon in dem Überblick der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigte (vgl. Beitrag vom 20.4.2018), liegt der bundesdeutsche Durchschnitt der Abgänger von Förderschulen „ohne mindestens einen Hauptschulabschluss“ bei 71,2 %. Die Bandbreite umfasst dabei Werte von 56,6 % (Saarland) bis 95,1 % (Schleswig-Holstein). Man muss zwar eine sogenannte Exklusionsquote hierzu berücksichtigen, um diese Zahlen besser zu verstehen, doch im Kern lässt sich dennoch daraus ableiten, dass die Zukunft der Kinder, die eine Förderschule besuchen sollen, recht vorhersagbar wird. Ohne irgendeinen Schulabschluss wird der Grad der persönlichen Abhängigkeit für diese Kinder sehr hoch bleiben. Und damit bringt man eine sehr langfristige Perspektive ein, die es schwer macht, das jetzt vorhandene, vorübergehende Bedürfnis nach einer Schutzzone höher zu bewerten.

Ein Schulsystem, welches ein verlangsamtes Lernen erlaubt, wäre vielleicht nicht verkehrt (z.B. das Kurssystem an amerikanischen High-Schools und Colleges). Wenn das vorhandene Schulsystem viel durchlässiger wäre und den Wechsel jederzeit unterstützen würde, bräuchte es Förderschulen wahrscheinlich nicht. Schaut man sich zudem die aktuelle Nachrichtenlage rund um den „Deutschen Schulpreis 2018“ an, zeigt sich erneut, dass Inklusiver Schulunterricht keine Sackgasse ist. Es wird gefördert durch gutes Fordern.

Sofern Inklusion tatsächlich stattfinden soll, müssen sich die Ressourcen natürlich neu verteilen bzw. sich danach orientieren, wo es Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf gibt. Vielleicht müssen Förderschulen Bestandteil einer Regelschule werden, damit an diesen Orten nun auch Schutzzonen entstehen können. Der Weg hin zu wirklicher Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist jedenfalls „holprig“ und lang – es ist halt keine (Daten-) Autobahn.

Aber dieser Weg führt nicht in eine Sackgasse, sondern in ein selbstbestimmtes Leben.

CGS



*) =

Dieses Beispiel ist jetzt nicht belegt, sondern entstammt aus dem „Hören-Sagen“. Aber es gibt eine ähnliche Erfahrung im eigenen Umfeld, so dass diese Geschichte als plausibel erachtet werden darf. 

Doch in einem anderen Fall an einer GGS in Schleswig-Holstein (kommunaler Träger) befinden sich 20 Schüler in einer sogenannten „I-Klasse“ der Sekundarstufe 1, davon mehrere mit verschiedenen Förderbedarfen. Das Lernverhalten ist sehr gut, es gibt keine Berichte über Störungen. Eine besonders gute Ressourcenausstattung liegt allerdings nicht vor – auch hier wird um bessere Ausstattung und mehr Zeit eines Sonderpädagogen „gerungen“.

Im gleichen Bezirk hatte das zuständige Schulamt einen Antrag auf Verschiebung der Einschulung um ein Jahr abgewiesen mit einer Begründung, die sich nicht auf den Antrag bezog.

In Schleswig-Holstein gibt es einen Ressourcenvorbehalt beim Besuch einer Regelschule. Die Schulaufsichtsbehörde kann nach Anhördung und Beratung der Eltern über eine Zuweisung zu einem geeigneten Förderzentrum (Förderschule) entscheiden (§ 21 Abs. 2 SchulG-SH).



Weitere Quelle:

Deutscher Schulpreis 2018

(letzter Aufruf am 20.5.2018)

Zitate von der Webseite:

„Jede Schülerin und jeder Schüler verlässt die Martinschule mit einem Abschluss – für Jugendliche mit Handicap, die an anderen Schulen häufig kein Zeugnis erhalten, gibt es einen schulinternen ‚Abschluss‘“

„Inklusion ist anstrengend, aber sie lohnt sich“, sagt Professor Michael Schratz, Erziehungswissenschaftler von der Universität Innsbruck und Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises. „Während manche die Inklusion für gescheitert erklären, beweist die Martinschule mit ihrem außergewöhnlichen Inklusionsmodell das Gegenteil: Hier lernen alle Kinder und Jugendlichen erfolgreich unter einem Dach – ganz gleich ob mit oder ohne Handicap, Förderbedarf oder besonderer Begabung. Dabei nimmt sich die Martinschule auch der schwierigen Fälle an, bei denen es durchaus körperlich zugehen kann. Wir brauchen solche Schulen, die davor nicht zurückschrecken und dieser Herausforderung mit guten Konzepten begegnen.“


Eigene Beiträge zum Überblick der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 20.4. und 21.4.2018




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