Freitag, 20. April 2018

Inklusive Bildung in Deutschland – ein Überblick der Friedrich-Ebert-Stiftung


Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte kürzlich einen Überblick zum Stand der Inklusiven Bildung in Deutschland (Quellenangaben weiter unten). Entstanden ist dieser Bericht aus mehreren Länderheften zur Inklusion an Schulen und in der beruflichen Bildung im Rahmen eines Projekts „Gute Gesellschaft - Soziale Demokratie 2017plus“. Man versucht „konkrete Ideen für die Politik zu entwickeln“, so die Macher auf ihrer Webseite dazu. 

Und damit die Debatte befördert wird, schafft man mit dieser Sammlung an Erkenntnissen eine gute Fakten-Grundlage. 

Sehr lesenswert.


Die Sache mit der Inklusion gibt es schon seit sehr langer Zeit. Im Jahr 2009 gab es hierzulande eine Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, doch in Fahrt geriet die Angelegenheit erst mit den Beratungen zu einem Bundesteilhabegesetz (BTHG) ab 2014. Einen wesentlichen Baustein bildet dabei das Recht behinderter Menschen auf Bildung (Art. 24 UN-BRK). Da Gleichberechtigung hergestellt sein muss, ist auf allen Ebenen ein inklusives Bildungssystem mit der Möglichkeit zum lebenslangen Lernen zu ermöglichen.

Das bedeutet dann auch, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam z.B. eine Grundschule (Regelschule) besuchen können. Schüler *) mit sonderpädagogischen Förderbedarf sollen nicht mehr ausgegrenzt werden, sondern teilhaben (Stichwort: „inclusive education“). Schüler ohne Einschränkungen können dann auch ein gutes Verständnis vom Anderssein entwickeln (Merksatz: „Vielfalt statt Einfalt“). Doch damit Inklusion in der Bildung tatsächlich geschieht, muss auf Länderebene viel passieren.


Mit Kennzahlen verschafft man sich einen guten Überblick

Was sich auf Länderebene getan hat und in Kennzahlen ausdrücken lässt, bietet dieser Überblick der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in vier Abbildungen an: Abgänger von Förderschulen ohne mindestens einen Hauptschulabschluss (Stand 2017), Förderquoten, Exklusionsquoten und Inklusionsanteile (alle für die Jahrgänge 2008/2009, 2013/2014 und 2015/2016).

Deutschlandweit liegt z.B. der Durchschnitt der Abgänger von Förderschulen „ohne mindestens einen Hauptschulabschluss“ bei 71,2 %. Die Bandbreite umfasst dabei Werte von 56,6 % (Saarland) bis 95,1 % (Schleswig-Holstein). Um aber diese Abweichungen besser zu verstehen, muss man auch die sogenannte Exklusionsquote mitlesen.

Bei dieser Kennzahl handelt es sich um den Anteil aller Schüler, die eine Förderschule besucht haben. Sie hat im bundesweiten Durchschnitt über die Jahre leicht abgenommen und liegt für den Schuljahrgang 2015/2016 bei 4,4 %. Hier nun reicht die Bandbreite für diesen Jahrgang von 1,1 % (Bremen) bis hin zu 6,5 % (Mecklenburg-Vorpommern). Um, wie gesagt, die erste Kennzahl zu den Abgängern ohne Abschluss besser zu verstehen, muss man diese mit der Exklusionsquote in Beziehung setzen. Für das Bundesland Schleswig-Holstein würde es bedeuten, dass von den 2,2 % Förderschulbesucher nur 4,9 % einen Abschluss erwerben konnten und 95,1 % dagegen nicht; also knapp 2,1 % aller Schüler. Die gleiche Rechnung für das Saarland mit einer Exklusionsquote von 4,5 % würde dann 2,6 % ergeben. Bremen nimmt dagegen eine herausgehobene Stellung ein, denn der Anteil der Abgänger liegt bei 67,8 %, und in Bezug auf die vorgenannten 1,1 % würde dies unter 1 % Abgänger ohne Abschluss erbringen.

Bei der Förderquote handelt es sich um den Anteil aller Schüler, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen. Während der Bundesdurchschnitt in den untersuchten drei Jahrgängen von 6,0 auf 7,1 % anstieg, zeigen sich teils gravierend andere Entwicklungen in den Bundesländern. In Thüringen z.B. sank die Förderquote von 9,0 auf 6,6 % (absolut minus 2,4 Prozentpunkte), im Saarland stieg sie von 6,2 auf 8,7 % (absolut plus 2,5 Prozentpunkte). Doch bei dieser Kennzahl muss man berücksichtigen, dass nicht alle Schüler eine Förderschule besuchen (siehe vorherigen Absatz). Welcher Anteil von diesen Schülern dann die Regelschule besuchte, wird mit der Kennzahl Inklusionsanteile dargestellt.

Hier geht es nun konkret um das inklusive Bildungssystem, an dem also behinderte und nicht behinderte Schulkinder zusammen lernen können. In Deutschland entwickelte sich der Durchschnitt von niedrigen 18,4 % auf fast das Doppelte mit 37,7 %. Einige Bundesländer, wie z.B. Hamburg und Bremen, haben einen sehr großen Fortschritt vollbracht, bei vielen anderen liegt der Anteil bei weit unter einem Drittel.

Neben dem Zahlenteil stellt man ebenfalls Strategien oder Konzeptionen zur erfolgreichen Umsetzung vor. Was dazu nicht fehlen darf, ist eine Beschreibung des aktuellen Stands der Ländergesetze, also inwieweit Inklusion in der Bildung in den verschiedenen Bundesländern verfolgt wird. Es wird dabei (eher stichwortartig) berichtet über den Entstehungsprozess einer Inklusiven Bildung bzw. wie sich eine „Schulreform“ so vollzogen hatte (z.B. Bremen, S. 40). Vermutlich muss man ab jetzt weiterlesen in den dazu passenden Länderheften. Die Stadtstaaten Bremen und Hamburg sowie Schleswig-Holstein hatten jedenfalls sehr früh ein inklusives Bildungssystem zu einem „Hauptanliegen bildungspolitischer Bemühungen“ gemacht (S. 42), was sich nun auch in der Kennzahl über den Inklusionsanteil niederschlägt. 


In der beruflichen Bildung passiert gar nichts

Leider findet ein solcher Reformprozess noch nicht im Bereich der beruflichen Bildung statt. Anscheinend endet der Willen zur Veränderung an dieser Stelle. Es gibt zwar verschiedene Projekte dazu, doch eine „gezielte, flächendeckende Umsetzung des Modellversuchs“ wird vielfach nicht weiter verfolgt (S. 44). Viele Länder haben verschiedene Projekte versucht und man tauschte sich darüber in Arbeitsgruppen aus. Was jedoch fehlt, ist der nächste Schritt, also die Herstellung einer Grundlage für alle anderen Beteiligten auf Landesebene. In vier Bundesländern sind „bislang noch keine Anstrengungen zur Stärkung der Inklusion in der beruflichen Bildung unternommen“ worden (S. 47) **).

Dies kann natürlich am Thema Finanzierung liegen. Inklusion wird bisher als eine teure, nichts einbringende Haushaltsgröße angesehen. Und wie man an dem langen Verlauf zur Entstehung eines Bundesteilhabegesetzes und seiner weiteren Umsetzung sehen kann, eine verwaltungstechnische Mammut-Aufgabe. Was bei solchen Behauptungen allerdings fehlt, ist die Einbeziehung der behinderten Menschen in die Gemeinschaft.

Bisher fand Ausgrenzung statt, nunmehr muss Barrierefreiheit geschaffen werden. Gerade die Landesbauordnungen enthalten verwaltungsrechtliche Pflichten, damit sich die baulichen Strukturen endlich den Menschen anpassen. Sollen Rollstuhlfahrer aufgrund einer Treppe an der Schule vom Schulbesuch abgehalten werden? – In Berlin waren noch im Jahr 2012 erst „58 Prozent der staatlichen Schulen rollstuhlgerecht ausgestattet“ (S. 49).

Und es geht auch um Personalplanung. Denn mit der Schließung der Förderschulen und dem Verteilen der sonderpädagogischen Fachkräfte auf die einzelnen Schulen, ist es noch lange nicht getan. Wünschenswert wäre eine Weiterbildung aller Fachlehrkräfte in diesem Feld, damit angemessen auf die Besonderheiten der Schüler mit Behinderungen reagiert werden kann. Noch besser wäre es aber, wenn alle Lehrkräfte hier eine Ausbildung machen können – und ebenfalls die Schulverwaltungen mit entsprechendem Know-How besetzt sind (vgl. auch Tabelle 2 zum Mehrbedarf an Vollzeitlehrereinheiten pro Bundesland, S. 56).

Von diesen strukturellen Voraussetzungen mal abgesehen, muss sich dazu etwas in der fachlichen Arbeit verändern. Inklusive Bildung ist nicht nur eine Sache von Landesbauordnungen und Personalplänen, es geht ganz besonders darum, dass sich der Unterricht auf das Leistungsvermögen der behinderten Schüler bezieht. Es scheint, dass z.B. zieldifferenter Unterricht ***) nur an den Grundschulen angeboten wird (S. 60).


Mein Fazit mit Kritikpunkt und Wunsch

Sehr lesenswert!

Nichtsdestotrotz gibt es einen Kritikpunkt wie auch einen Wunsch.

Was nun die Konzeptionen anbelangt, findet sich bezüglich des Bundeslandes Schleswig-Holstein leider keine Ursachenforschung (S. 37). Als zentrale Maßnahme wird zwar anerkannt, dass man ab dem Jahr 2015 an Grundschulen die sogenannten schulischen Assistenzstellen eingerichtet hatte. Dass diese aber Folge eines Streits zwischen den Kommunen und der Landesregierung selber waren, fehlt. Dieser Streit entstand aus der Weigerung einer Kommune, die Kosten für eine notwendige Schulbegleitung im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen. Das Landessozialgericht erkannte im Landesschulgesetz eine vorrangige Leistungspflicht beim Schulträger, aber nicht beim beklagten kommunalen Sozialhilfeträger. Dieser Sichtweise widersprach man dann zwei Jahre später, ja selbst das Bundessozialgericht betonte die Leistungspflicht der Eingliederungshilfe (Stichwort: Abgrenzung Kernbereich pädagogischer Arbeit). In dieser Zeit einigten sich aber Landesregierung und Kommunen – man kann auch von einem „sich freikaufen“ sprechen (vgl. meine Beiträge vom 25.11.2016 und 19.8.2017).

Was noch erarbeitet werden müsste, wäre eine Statistik über die erreichten Schulabschlüsse von den Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Vielleicht gelingt es gerade aufgrund des Besuches einer Regelschule eine verbesserte Lebensperspektive für diese Schüler herzustellen. Das Beispiel Schleswig-Holstein erscheint zuerst einmal sehr hart, weil der Anteil der Schulabgänger ohne mindestens einen Hauptschulabschluss bei 95,1 % liegt (Abb. 1). Jedoch muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass der Anteil der Schüler, die nun eine Förderschule besuchen, relativ gering ist mit 2,2 % (Abb. 3). Es stellt sich somit die Frage, wie hoch der Anteil der Abgänger ohne Abschluss bei diesen Schülern liegt, die eine Regelschule besuchen (dies wären dann die übrigen 4,1 %, vgl. auch Abb. 2).

Aber selbst wenn nicht: Die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ist entwürdigend und gehört nicht zu einer Gemeinschaft von Menschen, in der Gleichheit als ein selbstverständliches Recht verstanden und gelebt wird. Von daher ist es eigentlich völlig unerheblich, wie sich die Abschlussquote entwickelt. Mit der Formalie „Inklusive Bildung“ (mit Betonung auf Inklusiv) kann aber nicht Schluss sein. Was es noch braucht, ist eine wirkliche „Inklusive Bildung“ (mit Betonung auf Bildung) für Schüler mit Einschränkungen – es muss gefördert und nicht unterfordert werden trotz Behinderung, damit der allgemeine Arbeitsmarkt eine wirkliche Zukunftsperspektive wird.

CGS



*) =
Aus Gründen der Leserlichkeit wird auf einen „weiblichen“ Plural verzichtet. Die Pluralform eines Begriffs wird als geschlechtsneutral verstanden. Ein Segregieren ist damit nicht gemeint und gewollt.


**) =
Vermutlich endet hier der politische Wille, weil mit den BTHG-Änderungen zu den Teilhabeleistungen am Arbeitsleben ohne weiteres Zutun ein Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erreicht wurde (vgl. Kap. 10 SGB IX). Dies muss man als eine Missachtung der eigentlichen Zielsetzung der Bundesregierung sehen, da die Schaffung eines Inklusiven Arbeitsmarktes eine Handlungsempfehlung des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei den Vereinten Nationen war (Bericht vom 13.5.2015, siehe aber auch Begründung zum Gesetzentwurf BTHG vom 22.6.2016, Teil A).

***) =
Zieldifferenter Unterricht bedeutet, dass für Schüler mit Förderbedarfen vorrangig andere Ziele geschaffen werden. Ein umfangreicher Lernstoff wird verkleinert, damit in kleineren, aber erreichbaren Schritten gelernt werden kann. Da aber die Schulpflicht mit Erreichen der 9. Klasse erfüllt ist, gibt es häufig kein weiteres Lernen für diese Schüler. Für z.B. sehr verlangsamte Menschen, die erst in späteren Jahren aufgeholt haben, was in jungen Jahren nicht gelang, eine nicht erstrebenswerte Zukunftsperspektive.



Quellen:

Friedrich-Ebert-Stiftung
Projektinformationen zu: „Gute Gesellschaft - Soziale Demokratie 2017plus“

Valerie Lange
„Inklusive Bildung in Deutschland – Ländervergleich“

siehe dazu auch:

Inklusive Bildung im Ländervergleich (Länderhefte)

(alle Links: letzter Aufruf am 16.4.2018)





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