Die
Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte kürzlich einen Überblick zum Stand der
Inklusiven Bildung in Deutschland (Quellenangaben weiter unten). Entstanden ist
dieser Bericht aus mehreren Länderheften zur Inklusion an Schulen und in der
beruflichen Bildung im Rahmen eines Projekts „Gute Gesellschaft - Soziale
Demokratie 2017plus“. Man versucht „konkrete Ideen für die Politik zu entwickeln“,
so die Macher auf ihrer Webseite dazu.
Und damit die Debatte befördert wird, schafft
man mit dieser Sammlung an Erkenntnissen eine gute Fakten-Grundlage.
Sehr lesenswert.
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Die Sache mit der Inklusion gibt es schon seit sehr langer
Zeit. Im Jahr 2009 gab es hierzulande eine Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention,
doch in Fahrt geriet die Angelegenheit erst mit den Beratungen zu einem
Bundesteilhabegesetz (BTHG) ab 2014. Einen wesentlichen Baustein bildet dabei
das Recht behinderter Menschen auf Bildung (Art. 24 UN-BRK). Da Gleichberechtigung
hergestellt sein muss, ist auf allen Ebenen ein inklusives Bildungssystem mit
der Möglichkeit zum lebenslangen Lernen zu ermöglichen.
Das bedeutet dann auch, dass Menschen mit und ohne
Behinderungen gemeinsam z.B. eine Grundschule (Regelschule) besuchen können. Schüler
*) mit sonderpädagogischen Förderbedarf sollen nicht mehr ausgegrenzt werden,
sondern teilhaben (Stichwort: „inclusive
education“). Schüler ohne Einschränkungen können dann auch ein gutes
Verständnis vom Anderssein entwickeln (Merksatz: „Vielfalt statt Einfalt“). Doch damit Inklusion in der Bildung tatsächlich
geschieht, muss auf Länderebene viel passieren.
Mit Kennzahlen verschafft
man sich einen guten Überblick
Was sich auf Länderebene getan hat und in Kennzahlen
ausdrücken lässt, bietet dieser Überblick der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in vier
Abbildungen an: Abgänger von Förderschulen ohne mindestens einen
Hauptschulabschluss (Stand 2017), Förderquoten, Exklusionsquoten
und Inklusionsanteile (alle für die Jahrgänge 2008/2009, 2013/2014 und
2015/2016).
Deutschlandweit liegt z.B. der Durchschnitt der Abgänger
von Förderschulen „ohne mindestens einen Hauptschulabschluss“ bei 71,2 %. Die
Bandbreite umfasst dabei Werte von 56,6 % (Saarland) bis 95,1 % (Schleswig-Holstein).
Um aber diese Abweichungen besser zu verstehen, muss man auch die sogenannte
Exklusionsquote mitlesen.
Bei dieser Kennzahl handelt es sich um den Anteil aller
Schüler, die eine Förderschule besucht haben. Sie hat im bundesweiten
Durchschnitt über die Jahre leicht abgenommen und liegt für den Schuljahrgang
2015/2016 bei 4,4 %. Hier nun reicht die Bandbreite für diesen Jahrgang von 1,1
% (Bremen) bis hin zu 6,5 % (Mecklenburg-Vorpommern). Um, wie gesagt, die erste
Kennzahl zu den Abgängern ohne Abschluss besser zu verstehen, muss man diese
mit der Exklusionsquote in Beziehung setzen. Für das Bundesland
Schleswig-Holstein würde es bedeuten, dass von den 2,2 % Förderschulbesucher nur
4,9 % einen Abschluss erwerben konnten und 95,1 % dagegen nicht; also knapp 2,1
% aller Schüler. Die gleiche Rechnung für das Saarland mit einer
Exklusionsquote von 4,5 % würde dann 2,6 % ergeben. Bremen nimmt dagegen eine
herausgehobene Stellung ein, denn der Anteil der Abgänger liegt bei 67,8 %, und
in Bezug auf die vorgenannten 1,1 % würde dies unter 1 % Abgänger ohne
Abschluss erbringen.
Bei der Förderquote handelt es sich um den Anteil aller
Schüler, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen. Während der Bundesdurchschnitt
in den untersuchten drei Jahrgängen von 6,0 auf 7,1 % anstieg, zeigen sich
teils gravierend andere Entwicklungen in den Bundesländern. In Thüringen z.B.
sank die Förderquote von 9,0 auf 6,6 % (absolut minus 2,4 Prozentpunkte), im
Saarland stieg sie von 6,2 auf 8,7 % (absolut plus 2,5 Prozentpunkte). Doch bei
dieser Kennzahl muss man berücksichtigen, dass nicht alle Schüler eine
Förderschule besuchen (siehe vorherigen Absatz). Welcher Anteil von diesen
Schülern dann die Regelschule besuchte, wird mit der Kennzahl Inklusionsanteile
dargestellt.
Hier geht es nun konkret um das inklusive Bildungssystem,
an dem also behinderte und nicht behinderte Schulkinder zusammen lernen können.
In Deutschland entwickelte sich der Durchschnitt von niedrigen 18,4 % auf fast
das Doppelte mit 37,7 %. Einige Bundesländer, wie z.B. Hamburg und Bremen,
haben einen sehr großen Fortschritt vollbracht, bei vielen anderen liegt der
Anteil bei weit unter einem Drittel.
Neben dem Zahlenteil stellt man ebenfalls Strategien oder
Konzeptionen zur erfolgreichen Umsetzung vor. Was dazu nicht fehlen darf, ist
eine Beschreibung des aktuellen Stands der Ländergesetze, also inwieweit
Inklusion in der Bildung in den verschiedenen Bundesländern verfolgt wird. Es
wird dabei (eher stichwortartig) berichtet über den Entstehungsprozess einer
Inklusiven Bildung bzw. wie sich eine „Schulreform“ so vollzogen hatte (z.B.
Bremen, S. 40). Vermutlich muss man ab jetzt weiterlesen in den dazu passenden
Länderheften. Die Stadtstaaten Bremen und Hamburg sowie Schleswig-Holstein hatten
jedenfalls sehr früh ein inklusives Bildungssystem zu einem „Hauptanliegen
bildungspolitischer Bemühungen“ gemacht (S. 42), was sich nun auch in der
Kennzahl über den Inklusionsanteil niederschlägt.
In der
beruflichen Bildung passiert gar nichts
Leider findet ein solcher Reformprozess noch nicht im
Bereich der beruflichen Bildung statt. Anscheinend endet der Willen zur
Veränderung an dieser Stelle. Es gibt zwar verschiedene Projekte dazu, doch
eine „gezielte, flächendeckende Umsetzung des Modellversuchs“ wird vielfach nicht
weiter verfolgt (S. 44). Viele Länder haben verschiedene Projekte versucht und
man tauschte sich darüber in Arbeitsgruppen aus. Was jedoch fehlt, ist der
nächste Schritt, also die Herstellung einer Grundlage für alle anderen
Beteiligten auf Landesebene. In vier Bundesländern sind „bislang noch keine
Anstrengungen zur Stärkung der Inklusion in der beruflichen Bildung unternommen“
worden (S. 47) **).
Dies kann natürlich am Thema Finanzierung liegen.
Inklusion wird bisher als eine teure, nichts einbringende Haushaltsgröße
angesehen. Und wie man an dem langen Verlauf zur Entstehung eines
Bundesteilhabegesetzes und seiner weiteren Umsetzung sehen kann, eine verwaltungstechnische
Mammut-Aufgabe. Was bei solchen Behauptungen allerdings fehlt, ist die
Einbeziehung der behinderten Menschen in die Gemeinschaft.
Bisher fand Ausgrenzung statt, nunmehr muss
Barrierefreiheit geschaffen werden. Gerade die Landesbauordnungen enthalten
verwaltungsrechtliche Pflichten, damit sich die baulichen Strukturen endlich
den Menschen anpassen. Sollen Rollstuhlfahrer aufgrund einer Treppe an der
Schule vom Schulbesuch abgehalten werden? – In Berlin waren noch im Jahr 2012 erst
„58 Prozent der staatlichen Schulen rollstuhlgerecht ausgestattet“ (S. 49).
Und es geht auch um Personalplanung. Denn mit der
Schließung der Förderschulen und dem Verteilen der sonderpädagogischen
Fachkräfte auf die einzelnen Schulen, ist es noch lange nicht getan.
Wünschenswert wäre eine Weiterbildung aller Fachlehrkräfte in diesem Feld,
damit angemessen auf die Besonderheiten der Schüler mit Behinderungen reagiert
werden kann. Noch besser wäre es aber, wenn alle Lehrkräfte hier eine
Ausbildung machen können – und ebenfalls die Schulverwaltungen mit
entsprechendem Know-How besetzt sind (vgl. auch Tabelle 2 zum Mehrbedarf an
Vollzeitlehrereinheiten pro Bundesland, S. 56).
Von diesen strukturellen Voraussetzungen mal abgesehen,
muss sich dazu etwas in der fachlichen Arbeit verändern. Inklusive Bildung ist
nicht nur eine Sache von Landesbauordnungen und Personalplänen, es geht ganz
besonders darum, dass sich der Unterricht auf das Leistungsvermögen der
behinderten Schüler bezieht. Es scheint, dass z.B. zieldifferenter Unterricht
***) nur an den Grundschulen angeboten wird (S. 60).
Mein Fazit mit
Kritikpunkt und Wunsch
Sehr lesenswert!
Nichtsdestotrotz gibt es einen Kritikpunkt wie auch einen
Wunsch.
Was nun die Konzeptionen anbelangt, findet sich bezüglich
des Bundeslandes Schleswig-Holstein leider keine Ursachenforschung (S. 37). Als
zentrale Maßnahme wird zwar anerkannt, dass man ab dem Jahr 2015 an
Grundschulen die sogenannten schulischen Assistenzstellen eingerichtet hatte. Dass
diese aber Folge eines Streits zwischen den Kommunen und der Landesregierung
selber waren, fehlt. Dieser Streit entstand aus der Weigerung einer Kommune,
die Kosten für eine notwendige Schulbegleitung im Rahmen der
Eingliederungshilfe zu übernehmen. Das Landessozialgericht erkannte im
Landesschulgesetz eine vorrangige Leistungspflicht beim Schulträger, aber nicht
beim beklagten kommunalen Sozialhilfeträger. Dieser Sichtweise widersprach man
dann zwei Jahre später, ja selbst das Bundessozialgericht betonte die Leistungspflicht
der Eingliederungshilfe (Stichwort: Abgrenzung Kernbereich pädagogischer Arbeit).
In dieser Zeit einigten sich aber Landesregierung und Kommunen – man kann auch
von einem „sich freikaufen“ sprechen (vgl. meine Beiträge vom 25.11.2016 und
19.8.2017).
Was noch erarbeitet werden müsste, wäre eine Statistik
über die erreichten Schulabschlüsse von den Schülern mit sonderpädagogischem
Förderbedarf. Vielleicht gelingt es gerade aufgrund des Besuches einer
Regelschule eine verbesserte Lebensperspektive für diese Schüler herzustellen.
Das Beispiel Schleswig-Holstein erscheint zuerst einmal sehr hart, weil der
Anteil der Schulabgänger ohne mindestens einen Hauptschulabschluss bei 95,1 %
liegt (Abb. 1). Jedoch muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass der Anteil
der Schüler, die nun eine Förderschule besuchen, relativ gering ist mit 2,2 %
(Abb. 3). Es stellt sich somit die Frage, wie hoch der Anteil der Abgänger ohne
Abschluss bei diesen Schülern liegt, die eine Regelschule besuchen (dies wären
dann die übrigen 4,1 %, vgl. auch Abb. 2).
Aber selbst wenn nicht: Die Ausgrenzung von Menschen mit
Behinderung ist entwürdigend und gehört nicht zu einer Gemeinschaft von
Menschen, in der Gleichheit als ein selbstverständliches Recht verstanden und
gelebt wird. Von daher ist es eigentlich völlig unerheblich, wie sich die
Abschlussquote entwickelt. Mit der Formalie „Inklusive Bildung“ (mit Betonung
auf Inklusiv) kann aber nicht Schluss sein. Was es noch braucht, ist eine
wirkliche „Inklusive Bildung“ (mit Betonung auf Bildung) für Schüler mit
Einschränkungen – es muss gefördert und nicht unterfordert werden trotz
Behinderung, damit der allgemeine Arbeitsmarkt eine wirkliche
Zukunftsperspektive wird.
CGS
*) =
Aus Gründen der Leserlichkeit wird auf einen „weiblichen“
Plural verzichtet. Die Pluralform eines Begriffs wird als geschlechtsneutral
verstanden. Ein Segregieren ist damit nicht gemeint und gewollt.
**) =
Vermutlich endet hier der politische Wille, weil mit den
BTHG-Änderungen zu den Teilhabeleistungen am Arbeitsleben ohne weiteres Zutun
ein Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erreicht wurde (vgl. Kap. 10 SGB IX).
Dies muss man als eine Missachtung der eigentlichen Zielsetzung der
Bundesregierung sehen, da die Schaffung eines Inklusiven Arbeitsmarktes eine
Handlungsempfehlung des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen bei den Vereinten Nationen war (Bericht vom 13.5.2015, siehe aber
auch Begründung zum Gesetzentwurf BTHG vom 22.6.2016, Teil A).
***) =
Zieldifferenter Unterricht bedeutet, dass für Schüler mit
Förderbedarfen vorrangig andere Ziele geschaffen werden. Ein umfangreicher
Lernstoff wird verkleinert, damit in kleineren, aber erreichbaren Schritten
gelernt werden kann. Da aber die Schulpflicht mit Erreichen der 9. Klasse
erfüllt ist, gibt es häufig kein weiteres Lernen für diese Schüler. Für z.B.
sehr verlangsamte Menschen, die erst in späteren Jahren aufgeholt haben, was in
jungen Jahren nicht gelang, eine nicht erstrebenswerte Zukunftsperspektive.
Quellen:
Friedrich-Ebert-Stiftung
Projektinformationen zu: „Gute Gesellschaft - Soziale
Demokratie 2017plus“
Valerie Lange
„Inklusive Bildung in Deutschland – Ländervergleich“
siehe dazu auch:
Inklusive Bildung im Ländervergleich (Länderhefte)
(alle Links: letzter Aufruf am 16.4.2018)
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