Mittwoch, 17. Juli 2019

BTHG und Jugendhilfe

Im Zusammenhang mit der Diskussion um ein Bundesteilhabegesetz Ende 2016 gab es ebenfalls Überlegungen, die Jugendhilfe (SGB VIII) zu reformieren. Damals erschien es noch so, dass die Leistungsträger wegkommen wollten von individualisierten Leistungen und hin zu einem standardisierten Regelangebot. Dann bräuchte es auch keine Fachlichkeit in der Leistungserbringung, so das Kalkül, und man könnte die Kosten in dem Sektor drücken – man erinnere nur die Auseinandersetzungen um Schulbegleitungen in den Jahren zuvor.

In der jetzigen Diskussion ist davon nichts mehr zu spüren. Es dreht sich nun um den „neuen“ Behinderungsbegriff der Eingliederungshilfe und die Neu-Strukturierung der Arbeit der Jugendämter.


Behinderung ist, wenn Körper- und Gesundheitszustand vom typischen Zustand abweichen

Es war mal im Gespräch, dass sich auch die Jugendhilfe (SGB VIII) reformieren müsste angesichts der Reform der Eingliederungshilfe. Doch es hat ziemlich lange gedauert, bis man die durch das BTHG entstandenen Abweichungen zur bisherigen Arbeit der Jugendhilfe verstanden hat.

Menschen mit einer Behinderung, oder die von einer Behinderung bedroht sind, haben einen Anspruch auf Hilfen zur Eingliederung in die Gesellschaft (Eingliederungshilfe). Sie brauchen diese Hilfen, weil unsere Verfassung den Schutz der menschlichen Würde garantiert. Und Sie haben einen Rechtsanspruch auf diese Hilfen, weil unsere Verfassung den Grundsatz der Gleichbehandlung herausstellt. Die Grundlage für den Anspruch auf solche Sozialleistungen fand sich bisher noch als Bestandteil der Sozialhilfe (6. Kapitel SGB XII). Durch das Bundesteilhabegesetz begann dann allerdings eine Herauslösung aus der Sozialhilfe, die ebenfalls den Fürsorge-Gedanken beendete. Die Eingliederungshilfe wurde nun zu einem neuen Teil des Rehabilitationsrechts (Teil II SGB IX).

Die Eingliederungshilfe umfasst alle Hilfen, die geeignet sind, einen Nachteilsausgleich zu verschaffen. Einen Nachteilsausgleich brauchen zudem Kinder und Jugendliche, die keine körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen aufzeigen. Bei dieser Gruppe von Leistungsberechtigten spricht man insofern von seelisch Behinderten, und meint damit Personen, bei denen eine „nicht messbare Dimension wie Fühlen, Handeln, Wahrnehmung oder Orientierung“ *) eingeschränkt ist.

Eine seelische Behinderung ist deswegen eine Beeinträchtigung, weil damit diesen jungen Menschen das Recht auf Förderung und Entwicklung hin zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit als Teil der Gemeinschaft verwehrt wäre. Bisher ergab sich die Anspruchsgrundlage auf Leistungen der Eingliederungshilfe (im 6. Kapitel SGB XII, bald Teil II SGB IX) aus dem eigenen Gesetz für Kinder- und Jugendhilfe (§ 35a SGB VIII). Mit dem Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe kann ihnen beispielsweise auch eine Schulbegleitung zugebilligt werden.

Im Zuge der Reform der Eingliederungshilfe wurde nun ein Vorrang gegenüber allen anderen Leistungsgesetzen formuliert in Bezug auf die Einleitung der Rehabilitation von Amts wegen (2. Kapitel SGB IX), Erkennung und Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs (3. Kapitel SGB IX) und die Koordinierung der Leistungen (4. Kapitel SGB IX). Die Begriffsbestimmung aus § 2 SGB IX ist von diesem Vorrang allerdings nicht berührt, aber sie stellt klar, wann von einer Beeinträchtigung auszugehen ist. Personen, die einen Anspruch auf Hilfen nach dem SGB IX geltend machen wollen, können dies nur, wenn der „Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand“ abweicht (§ 2 Abs. 1 S. 2 SGB IX).


Der Behinderungsbegriff passt nicht ganz auf die Belange der Kinder- und Jugendhilfe

Bei Kindern und Jugendlichen ist dies aber schwierig, da es eigentlich keinen „typischen“ Zustand gibt. Im Gegenteil, das sehr unterschiedliche und sprunghafte Verhalten würde, sollte es zu einer Norm gemacht werden, vielmehr ein Versagen auf jegliche Eingliederungshilfe mit sich bringen. Von daher müsste der Behinderungsbegriff aus § 35a SGB VIII an die Stelle von dem des § 2 SGB IX treten, wenn es um Kinder und Jugendliche geht, doch das ist so nicht vorgesehen.

In der Praxis wird es zu einer entsprechend nachteiligen Auslegung wahrscheinlich nicht kommen. Vielmehr wird zu klären sein, wer alles zu beteiligen ist (§ 20 SGB IX i.V.m. § 12 SGB X), wenn Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe an Bildung und der sozialen Teilhabe benötigt werden. Im Falle der Teilhabe an Bildung sollte sich die Zuständigkeit der Jugendämter nicht ändern, da sie die entsprechende Expertise aufbringen. Was dagegen die unterhaltssichernden und anderen ergänzenden Leistungen anbelangt, werden die Grundsicherungsämter bestimmen und auf Regelsätze verweisen.

Nach wie vor wird die Ermittlung des individuellen Bedarfs eine besondere Herausforderung darstellen. Vorab braucht es dazu einen Anlass, wie zum Beispiel die Beobachtung eines besonderen Verhaltens beim Kind oder die Rückmeldung einer pädagogischen Fachkraft, dass das Kind „bei allem nicht mitkommt“. Grundsätzlich müssen Leistungsträger, und dazu gehören auch Jugendämter, bei Bekanntwerden eines Bedarfs tätig werden (Untersuchungsgrundsatz, § 20 SGB X), aber im Falle von Kindern und Jugendlichen müssen die Eltern einbezogen werden. Und dies wiederum setzt eine gute Beratung voraus, die dann sogar zu einem Antrag führen kann (§§ 12 Abs. 1, 14, 15, 20 SGB IX).


Den Bedarf richtig und umfassend bemessen

Oberstes Ziel sollte es weiterhin sein, einer möglichen Chronifizierung von Erkrankung (d.h. dem Risiko einer sich ergebenden Behinderung) zu begegnen (§ 13, § 26 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 7 SGB IX; ebenso § 11 und § 36 GE Reha-Prozess, Screening-Bögen, https://www.bar-frankfurt.de/). Damit dies effizient passiert, braucht es sogenannte Bedarfsermittlungsinstrumente; im Bereich der Eingliederungshilfe für erwachsene geistig behinderte Menschen war es gelegentlich das Metzler-Verfahren. Im Bereich der Jugendhilfe wird man wohl diese Instrumente auf die „Lebensbereiche“ des SGB IX ausrichten müssen, damit auch wirklich alle Fragestellungen geprüft werden und somit eine umfassende Bedarfsermittlung stattfindet.

An dieser Stelle zeigt sich, dass die Jugendämter ebenso den Unterstützungsbedarf der Eltern hinsichtlich ihres Erziehungsauftrages untersuchen müssen. Von daher bezieht sich die Arbeit des Leistungsträgers nicht nur auf den behinderten Menschen alleine, sondern es wird ebenso die mögliche Überforderung der Eltern mit untersucht, um evtl. einen Bedarf an Hilfe zur Erziehung abzuklären. Man könnte somit sagen, dass der Behinderungsbegriff aus § 2 SGB IX einfach nicht umfassend genug ist, weil er sich nur auf eine Person bezieht. In der Kinder- und Jugendhilfe ist die Gestaltung des Leistungsfalls aber viel komplexer. Und dementsprechend darf die Arbeit der Jugendämter durch das BTHG nicht eingeschränkt werden; allenfalls kann es zu einer Neu-Strukturierung kommen, die aber dennoch innerhalb ganz bestimmter Fristen erbracht werden muss (z.B. die 2 Wochen nach § 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX).

Mit der Reform der Eingliederungshilfe wird es auch eine Reform in der Arbeit der Jugendhilfe geben, die sich dann wahrscheinlich wieder auf das SGB IX erstrecken wird. Im Ergebnis sollte es dabei aber keine Leistungsverschlechterung geben für die Menschen mit einem Leistungsbedarf, sondern eine qualitative Aufwertung. Man kann dennoch schon jetzt feststellen, dass das Befassen mit dem BTHG zu einer Verbesserung in der Arbeit führt, weil damit verbunden eine Wertschätzung eintritt. Und das, obwohl derzeit alle Stellen und personellen Ressourcen eingesetzt werden müssen. Mit Blick auf das Ziel einer Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft ist dies schon mal ein guter Schritt.

CGS



*) = dazu zählen u.a. Belastungs- und Anpassungsstörungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, Akzeptanz-Defizite, Schizophrenie (bis hin zu Wahnvorstellungen), Depressionen. (https://www.integrationsaemter.de/Fachlexikon/...)

  
Neben dem Bundesteilhabegesetz wird es auch eine SGB VIII-Reform geben, welche die Eingliederungshilfe ebenso betreffen wird




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