Sonntag, 28. Juli 2019

Was mich betroffen macht

NDR Fernsehen - Weltbilder - Zustände in einem Heim
In einem schon etwas länger zurückliegenden Fernsehbeitrag wurden sehr erschreckende Zustände in einem Heim für behinderte Menschen in Griechenland gezeigt. Hoffentlich war es nur ein Einzelfall. Wahrscheinlich ist dies aber die Regel – und nicht nur in diesem einen Land.

Kommt man ins Gespräch mit Angehörigen von Menschen mit Behinderung (ganz besonders mit den Eltern von Schulkindern), stößt man auf ein Denken, was einen ebenfalls betrifft – also mich zumindest.

Ich würde am liebsten gleich darauf verweisen, was durch so ein einschränkendes Denken an Behinderungen verursacht wird und was in letzter Konsequenz daraus passieren kann. Leider verstehen es diese Menschen kaum, weil sie mit anderen, profaneren (?) Dingen beschäftigt sind und das kritische Nachdenken verlernt haben. Aber es muss mal ausgesprochen bzw. mal „ausgeschrieben“ werden, damit es von anderen wenigstens zur Kenntnis genommen wird. 


Typisch?

Vor einiger Zeit gab es in einem Fernsehbeitrag einen Bericht über das Leben von schwerstmehrfach-behinderten Menschen in einem Heim in Griechenland. Die Journalisten hatten nun zum zweiten Mal dieses Heim besucht, um sich von den Verbesserungen, die man unternommen hatte, ein Bild zu machen. Es sollte einen beängstigen, dass es bei dem Gezeigten um „Verbesserungen“ handelt – wie schlimm war es vorher?

Es ist ja nur in Griechenland, kann man denken, und dabei die hiesigen Verhältnisse nicht zur Kenntnis nehmen. Einen Grund entspannt damit umzugehen, gibt es jedoch nicht. Ein paar Beispiele:

Ein Neuropädiater (Facharzt für Nervenkrankheiten bei Kindern) meinte, dass jegliche Therapie bei Kindern „sowieso nicht helfe, wenn das Gehirn nicht funktioniert“. Ein anderer Neuropädiater (und gleichzeitiger Chefarzt in einem Kinderzentrum) hob hervor, dass es sich bei einer geistigen Behinderung um eine „syndromale Grunderkrankung“ handele und demzufolge keine Maßnahme eine Verbesserung bringt.

Noch bis kurz vor Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes in 2016 wurden Vergütungen vereinbart, die sich am Vergleich mit anderen Anbietern in Bezug auf die (scheinbar) gleiche Leistung messen lassen mussten. Teuer werdendes Personal bzw. die alte Stammbelegschaft musste abgebaut werden, unbesetzte Stellen wurden „bewirtschaftet“. Dadurch entstanden vielfach Überforderungen, die zu einem Fehlverhalten der Mitarbeiter gegenüber den Bewohnern von Behindertenheimen führten (in dem Zusammenhang sei noch mal an die Recherchen des Teams Wallraff erinnert, siehe die Link-Angaben weiter unten).


Schulische Inklusion wird anders gesehen

In einer kürzlich erschienen Veröffentlichung der Ergebnisse eines Forschungsberichts zur Schulischen Inklusion (siehe unten) zeigte sich einerseits eine sehr positive Haltung der Gesamtbevölkerung zur Inklusion (Zustimmung lag bei 85 % bezogen auf alle Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, und bei 94 % in Bezug auf Kinder mit und ohne Beeinträchtigung bei Freizeitangeboten). Als man aber wissen wollte, ob eine gemeinsame Beschulung stattfinden sollte, ergaben sich ganz andere Werte (66 % insgesamt, 61 % bei Eltern ohne Inklusionserfahrung, 78 % bei Eltern mit Inklusionserfahrung). Noch gravierender war das Ergebnis zur Frage, ob ein inklusives Schulsystem „besonders leistungsstarke Kinder im fachlichen Lernen bremst“ (47 % der Eltern ohne Inklusionserfahrung und 55 % der Eltern mit Inklusionserfahrung bestätigten dies).

In einem persönlichen Gespräch wurde für den Besuch an der Förderschule das teils sehr verletzende Verhalten anderer Kinder, die Überforderung (und die mangelhaft zur Verfügung gestellten Mittel) der Lehrer und die „Aussichtslosigkeit“ angeführt. Und in einer Beratung hatte man den Eltern gesagt, „behinderte Kinder fühlen sich unter ihresgleichen viel besser“. In einem anderen Fall war die  Person in der Zuständigkeit eines Grundschulkoordinators bemüht darum, dass das Kind mit einer festgestellten milden geistigen Behinderung nicht die Regelschule besuchen wird (das war noch 2013).

Es sind zwar nur einige Beispiele, doch sie sollten uns nachdenklich machen, da der nächste Schritt bzw. die letzte Konsequenz einer solchen Überzeugung nichts mehr mit unserem Werteverständnis oder sogar unserer Verfassung zu tun hat.


Denken bestimmt unsere Sprache, Sprache manipuliert unser Denken

Vieles passiert unbewusst und ohne weiteres Nachdenken. Menschen mit geistiger Behinderung zählen zum Beispiel nicht zu den „Normalen“. Fragt man den, der das tut, was denn normal ist, weiß derjenige aber nichts zu antworten. Dieses Denken hat sich nun leider so sehr eingebürgert, dass es als ein Standard und ein Selbstverständnis gelebt wird. Ein solches Denken bestimmt unsere Sprache, und die wiederum bestimmt unser Handeln, so dass wir plötzlich nicht mehr in einer inklusiven Gesellschaft leben, sondern uns gegenseitig ausgrenzen.

Viele Gut-Menschen glauben, die „armen Behinderten“ müssen geschützt werden; müssen sie doch auch, denn sie sind in Wirklichkeit so wehr- und hilflos. Man fragt nicht mehr, was die Menschen mit Handicap wollen, weil sie ganz bestimmt nicht selber wissen. Man bestimmt für diese Menschen, dass sie in einer Anstalt leben sollen, am besten mit Gittern und Zäunen, damit sie besser geschützt sind vor dem harten, unerbittlichen Konkurrenzkampf in der Welt. Diejenigen, die so etwas propagieren, sehen sich als echte Fürsorgende. Und sie sind bereit, Steuermittel einzusetzen, um Förderzentren, Heime und Anstalten zu bauen für diese armen Behinderten.

Vielleicht ist es dann auch echte Fürsorge, wenn man den unheilbar kranken Behinderten das harte Leben erspart und ihnen Gnade gewährt? – Wohin das führt, sollte man kennen.

Das Beispiel aus Griechenland ist erschreckend. Der im Bericht gezeigte Heimleiter scheint verstanden zu haben, dass etwas passieren muss. Aber er scheint das Problem noch nicht zur Gänze durchdacht zu haben. Oder er ist zu sehr im Überlebenskampf der Einrichtung verstrickt. Viele Eltern von behinderten Kindern beschäftigen sich mit Fragen, die eigentlich keinen Mehrwert bringen, sondern als echte Zeitverschwendung betrachtet werden können. Dabei muss man sich keine großen Gedanken machen; es reicht aber, wenn man sich dem Beispiel aus der deutschen Geschichte einfach mal zuwendet. Was da nämlich als „Gnade“ und „menschlichem Ermessen“ erlassen wird, ist nichts anderes als bloße (sozialdarwinistische) Vernichtung.

Das macht mich betroffen.

CGS



Weitere Informationen:

NDR – Weltbilder
Beitrag „Griechenland: Heimbewohner in Käfigen“
Erstveröffentlichung: Dienstag, 07. Mai 2019, 23:30 bis 00:00 Uhr

Von außen ein typisches staatliches Heim für Menschen mit Behinderung - eines von ungefähr 70 in ganz Griechenland, in Lechena, einem kleinen Ort auf der Peleponnes. Yiorgos Nikolaidis ist Psychiater und kritisiert die Zustände in dem Heim seit Jahren: "Die Situation 2016 war schockierend. Es gab 51 Bewohner, 36 davon waren permanent mit Geräten oder medikamentös ruhiggestellt. Es gab Menschen, die seit 22 Jahren in Holz-Käfigen in der Größe von zwei mal zwei Metern gelebt haben und nicht mal für eine Sekunde rauskamen. Dort drin wurden sie gefüttert und dort hat man ihnen auch die Windeln gewechselt." Das Drama von Lechena, es sollte nach 30 Jahren endlich beendet werden. Aktivisten, NGOs, europäische Helfer - alle schlossen sich zusammen, um sich gemeinsam für einen menschenwürdigen Umgang mit den Heimbewohnern einzusetzen. Seit zehn Jahren berichten internationale Medien über diese Tragödie. Doch hat sich an den Zuständen im Heim wirklich etwas entscheidend verändert?

Autorin: Ellen Trapp


(letzter Aufruf am 30.6.2019)


Forschungsbericht
Schulische Inklusion
Infas Institut für angewandte Sozialwissenschaften GmbH
Friedrich-Wilhelm-Straße 18
53113 Bonn

Im Zusammenwirken mit Aktion Mensch und Die Zeit


Brigitte Zypries / SPD



(letzter Aufruf am 22.7.2019) 


Eigene Beiträge:

Das Team Wallraff recherchiert auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe



Notizen:

Am 1. September 1939 erteilte der Reichskanzler und Führer des Deutschlands zu dieser Zeit, dass „nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustands der Gnadentod gewährt werden kann“ (Hitlers Euthanasiebefehl "Gnadentoderlass"; https://www.ns-archiv.de/medizin/euthanasie/faksimile/).

Um das Volk zu schützen, müssen die Starken gestärkt werden von den Nicht-Starken – also den Schwächeren.

Nach der Theorie des Sozialdarwinismus findet eine Auslese statt, die sich in jedweder Hinsicht anwenden lässt (z.B. der Moral) und bestimmend ist für die menschliche Entwicklung. Von daher kann man von gutem und schlechtem Erbmaterial sprechen und dementsprechend alles daran setzen, das schlechte Erbmaterial auszulöschen (Kernaussagen nach Franz M. Wuketits, https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialdarwinismus)





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