Donnerstag, 8. Februar 2018

Tarifbindung ist endlich gesetzlich wirtschaftlich angemessen

Das Bundessozialgericht hatte in mehreren Fällen entschieden, dass die Einhaltung einer Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter immer als wirtschaftlich angemessen zu werten ist (BSG-Urteil vom 29.1.2009). Damit wurde geklärt, dass hohe Vergütungen selbst dann noch anzuerkennen sind und nicht als „Wucher“ in Verhandlungen mit den Leistungsträgern abgetan werden können, wenn sie weit über dem ortsüblichen Durchschnitt liegen.

Der Gesetzgeber brauchte aber noch einige Zeit, bis er diesen Grundsatz in die jeweiligen Normen für Pflegeversicherung, Sozialhilfe und die Eingliederungshilfe übernahm. Man kann sagen, dass es „endlich gesetzlich“ wurde, damit für die Leistungserbringer ein leistungsgerechtes Arbeiten möglich wurde.

Doch die entsprechende Anwendung führt nun zu einigen Absurditäten, die ganz und gar nicht gewollt sein können. Die Betroffenen sind aber keine öffentlichen Stellen, sondern Heimbewohner!


Ein Problem, über das sogar das Fernsehen berichtet

In einem Beitrag des MDR-FAKT-Magazins vom 23.1.2018 wurde berichtet, wie einem Bewohner eines Pflegeheims jetzt der Auszug droht, weil das Heim eine Anhebung des Eigenanteils verlangte:

„In einem Pflegeheim sollen die Kosten für die Bewohner um 550 Euro steigen – pro Monat. Hintergrund ist ein Teil der Pflegereform, der vor allem die Situation der Pflegekräfte verbessern sollte. Nun kommen aber die Pflegebedürftigen an ihre finanziellen Grenzen.“

(Quellenangabe weiter unten).

Eigentliches Ziel mit der Reform war es, die Pflegebedürftigen und deren Angehörige „zu entlasten und besser zu versorgen“, so der Beitrag. Stattdessen scheint diese Reform genau das Gegenteil zu bewirken, indem es die Menschen belastet und aus Heimen (sozusagen) „entsorgt“.

Dazu muss man aber wissen, dass die in der Vergangenheit geführten Pflegesatzverhandlungen immer sehr aufwändig und ziemlich unbeweglich verliefen. Den Leistungserbringern gelang es nicht wirklich, eine Refinanzierung von Personalkosten zu vereinbaren. Da Einzelverhandlungen oftmals nur mit anwaltlicher Hilfe geführt werden konnten, akzeptierte man Pauschale Fortschreibungen, bei denen für mehrere, unterschiedlichste Leistungserbringer (mit unterschiedlichen Tarifbindungen) eine einheitliche Steigerung vereinbart wurde. Bei einem solchen Verfahren orientierte man sich nach einer linearen Tariferhöhung, aber tarifliche Einmalzahlungen, Sockelbeträge oder sogar Stufenentwicklungen blieben unberücksichtigt. Damit wurden die Leistungserbringer gezwungen, Stellen zu bewirtschaften – oder mit anderen Worten:

·         Keine Mehrfachdienstbesetzungen, sondern vermehrt Einzeldienste;
·         Wiederholungs-Befristungen statt unbefristeter Arbeitsverhältnisse;
·         Mehr zu betreuende Klienten pro Mitarbeiter.


Die Reform geht „nach hinten“ los

Dass man mit solchen Maßnahmen den Pflegeberuf diskreditierte und jetzt einen Personalmangel vor sich hat, sollte niemanden verwundern. Und ganz ehrlich: Die BSG-Urteile gibt es schon seit 2009!

Die Politik erkannte den Handlungsbedarf und gestattete mit einer neuen Regelung z.B. in § 84 SGB XI die Refinanzierungsmöglichkeit selbst für „teure“ Tarifanwender. Man entfernte faktisch die Deckelung bzw. Wirtschaftlichkeits-Orientierung anhand ortsüblicher Marktpreise (auch als Wettbewerbsgedanke berüchtigt), um einer möglichen Flucht aus Tarifverträgen und Nachwuchs-Sorgen mit Fachkräfte-Mangel und -Notstand effektiv zu begegnen. Zwar gibt es indirekt noch immer eine Orientierung nach Marktpreisen, jetzt ist es die Nicht-Zugehörigkeit zu einem „unteren Drittel“, aber Tarifbindungen sind zu beachten und zu würdigen (siehe insbesondere das Vertragsrecht der Behinderten- / Eingliederungshilfe § 124 Abs. 1 SGB IX n.F.).

Man wusste zwar, dass mit den neuen Regelungen die Pflegesätze auskömmlicher wurden; man verstand also, dass sich höhere Pflegesätze ergeben würden, die dann in Form von attraktiven, tariflichen Gehältern an die Pflegekräfte zu zahlen wären; aber keiner schien zu bedenken, dass diese Pflegesätze letztendlich von jemanden bezahlt werden müssen. Ein mit der Sache vertrauter Bundestagsabgeordneter wurde vom FAKT-Magazin interviewt, und er gab zu, dass man „in diesem Umfang nicht mit den Konsequenzen gerechnet hat“ und „vielleicht nicht bis zum Ende alles durchdacht“ hatte.


Die gesetzlichen Grundlagen

Nicht nur in der Pflege findet man diesen neuen gesetzlich verankerten Grundsatz der Tarifbindungs-Angemessenheit. Auch in der Sozialhilfe (speziell jetzt der Eingliederungshilfe, die ebenfalls reformiert wird; noch im 6. Kapitel SGB XII) hat man dieses Prinzip eingearbeitet. Hier ein Vergleich:

SGB XI – Pflegeversicherung

§ 84 Bemessungsgrundsätze
SGB XII – Sozialhilfe

§ 139 Übergangsregelung zur Erbringung von Leistungen nach dem Sechsten Kapitel für die Zeit vom 1. Januar 2018 bis zum 31. Dezember 2019
Abs. 2 S. 5 und 6:


Die Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden.

Für eine darüber hinausgehende Bezahlung bedarf es eines sachlichen Grundes.

Abs. 1 S. 3:


Tariflich vereinbarte Vergütungen sowie entsprechende Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen sind grundsätzlich als wirtschaftlich anzusehen.

Abs. 6 S. 1:

Der Träger der Einrichtung ist verpflichtet, mit der vereinbarten personellen Ausstattung die Versorgung der Pflegebedürftigen jederzeit sicherzustellen.



(müsste Bestandteil eines
Landesrahmenvertrags werden)
Abs. 7 S. 1 bis S. 3:

Der Träger der Einrichtung ist verpflichtet, im Falle einer Vereinbarung der Pflegesätze auf Grundlage der Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, die entsprechende Bezahlung der Beschäftigten jederzeit einzuhalten.

Auf Verlangen einer Vertragspartei hat der Träger der Einrichtung dieses nachzuweisen.

Personenbezogene Daten sind zu anonymisieren.



(müsste Bestandteil eines
Landesrahmenvertrags werden)

Im SGB XI (Pflege) finden sich somit drei Vorgaben, die klarstellen, welche Berechnung zugrunde zu legen ist.

·         Die Zahlung der Gehälter richtet sich nach einem Tarifvertrag bzw. ist sachlich begründet (Abs. 2);

·         Die Zahlung der Gehälter entsprechend dem Tarifvertrag findet statt und kann belegt werden (Abs. 7);

·         Alle vereinbarten (nicht zwingend die erforderlichen!) Stellen sind besetzt worden (Abs. 6).

Der letzte Punkt kann so verstanden werden, dass trotz zeitweiser Unterbelegung oder bei einer Minderauslastung die vereinbarten Stellen im Hinblick auf die Pflegetätigkeit besetzt sein müssen. Dies würde dann aber im Widerspruch stehen zu der im Absatz 2 erwähnten wirtschaftlichen Betriebsführung. Von daher kann man annehmen, dass eine zeitweise Stellenminderbesetzung nur bei freien Plätzen akzeptabel wäre, wobei dennoch die Versorgung der übrigen Pflegebedürftigen sichergestellt sein muss.

Im Prinzip gilt dies ebenfalls für die Leistungserbringer im Bereich des SGB XII und SGB IX. Weil die Wirtschaftlichkeit bei Tarifbindung gegeben ist, können die Entgelte der Leistungserbringer nur „ex Personalkosten“ verglichen werden. Was aber den Stelleneinsatz anbelangt, kommt es dagegen sehr darauf an, wie es in den jeweiligen Landesrahmenverträgen im Sinne des § 79 SGB XII a.F. formuliert ist (vgl. § 139 Abs. 3 SGB XII n.F., aber auch § 124 SGB IX n.F.).


Wer das Risiko für Entgelterhöhungen trägt

Da bisher die Pflege- oder Vergütungssätze immer nur nach einem ortsüblichen Durchschnitt vereinbart wurden, konnten vielfach die vereinbarten Stellen nicht dauerhaft besetzt werden. Doch nun wird eine Art „Garantie“ ausgesprochen, weil man zwar einerseits im Bereich der Pflege dem Leistungserbringer sozusagen die Pflicht auferlegen will, alle vereinbarten Stellen zu besetzen (§ 84 Abs. 6 SGB XI), andererseits zusichert, dass auch hohe Personalkosten übernommen werden können (Abs. 2). Hierzu bedarf es lediglich einer „sachlichen“ Begründung, wie z.B. die Anwendung eines Tarifvertrags.

Damit ergibt sich die Notwendigkeit für den Leistungserbringer, eine Neukalkulation seiner Pflegesätze vorzunehmen, um endlich leistungsfähig im Sinne des Gesetzes zu werden. Und daraus folgt, dass es durchaus zu enormen Preissteigerungen kommen kann, denen aber keine erhöhten Beiträge der Pflegeversicherung gegenüberstehen (Pflege-Sachleistungen). Zwar spricht man in den Verhandlungen zur „Großen Koalition“, dass man „8.000 neue Stellen“ schaffen will, doch das wird die Situation eher verschärfen. Und überhaupt irritiert diese Aussage, sie ist nicht nachvollziehbar: Die gesetzlichen Grundlagen sind ja bereits geschaffen – da muss sich nichts mehr ändern.

Der Bewohner aus dem Beitrag des FAKT-Magazins muss ausziehen oder sich an die Sozialhilfe wenden. Die würde dann das Einkommen und die Vermögensverhältnisse des Menschen prüfen, vielleicht auch noch die Familie zu einer finanziellen Unterstützung auffordern, da ansonsten keine wirkliche Notlage vorliegt. Für eine Menschen, der sein ganzes Leben lang für sich selbst sorgen konnte, der etwas für sich oder die Kinder angespart hatte, muss sich nun an seinem „Lebensabend“ offenbaren und den Behörden ausliefern („die Hosen runterlassen“). 

Statt Selbstbestimmung, Fremdbestimmung.


Könnte das dann auch im Bereich der Eingliederungshilfe geschehen?

Weil der Rahmen im Grunde nach der Gleiche ist, ist im Bereich der Eingliederungshilfe gleichfalls eine solche Entwicklung anzutreffen. Allerdings trifft es hier in Wirklichkeit nur die Träger der Sozial- und Eingliederungshilfe, weil es sehr wahrscheinlich nur sehr wenige selbstzahlende Menschen in Wohnheimen gibt. Menschen mit geistiger Behinderung sollen zwar im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt werden, doch wenn das nicht gelingt, bleibt nur noch die Beschäftigung in Werkstätten (WfMmB) oder Tagesförderstätten (vgl. auch §§ 49 SGB IX, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben). Entsprechend ist kein „normales“ Einkommen zu erwarten – oder mit anderen Worten: Die öffentliche Hand muss unterstützen.

Mit dem BTHG hat man also endlich für die Eingliederungshilfe etwas eingeführt, was schon längst durch das Bundessozialgericht in verschiedenen Urteilen (siehe meinen Beitrag vom 19.1.2018) vorgegeben war: Selbst „hohe“ Personalkosten müssen dann noch als wirtschaftlich angesehen werden, wenn sie tarifvertraglich entstanden sind.

Wenn Leistungserbringer noch im letzten Jahr zu Vergütungsverhandlungen aufgefordert hatten, kann man eigentlich sicher sein, dass die Vergütungssätze diese neuen Personalkosten berücksichtigen. In Hamburg zumindest wurde mit dem neuen Kalkulationsverfahren diesem geänderten Rechtsverständnis schon vor einigen Jahren effektiv begegnet. Was dabei aber sehr bemerkenswert ist, den Hamburgern gelang es, ein Kalkulationsverfahren zu entwickeln, dass sich (relativ) „budgetneutral“ verhielt.

Damit das Fazit:

Die neuen Regelungen bedeuten für alle Selbstzahler in Pflege-Einrichtungen oder sogar in solchen der Eingliederungshilfe die Gefahr eines deutlichen Kostenanstiegs. Je höher der Pflege- oder Hilfebedarf ist, umso höher wirken sich die Auswirkungen aus den jeweiligen, zugehörigen Tarifverhandlungen aus.

CGS


P.S.:

An dieser Stelle ein anderer und (besser fundierter) Beitrag zu diesem Thema:
https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/...



Quellen:

Beitrag des MDR-FAKT-Magazins vom 23.1.2018 in der ARD
„Pflegebedürftige: Kosten für Heimplätze steigen“

(letzter Aufruf am 4.2.2018)



+++ Nachtrag vom 22.2.2018 +++

Und noch ein erwähnenswerter Blog-Beitrag zu der Problematik mit den Eigenanteilen, welche die Bewohner von Pflegeheimen zu tragen haben.

https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/02/pflegeheime-und-die-investitionskosten.html
(Autor: Prof. Dr. Stefan Sell, 18.2.2018)

(letzter Aufruf am 22.2.2018)




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