Das
Bundessozialgericht hatte in mehreren Fällen entschieden, dass die Einhaltung
einer Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter immer als
wirtschaftlich angemessen zu werten ist (BSG-Urteil vom 29.1.2009). Damit wurde
geklärt, dass hohe Vergütungen selbst dann noch anzuerkennen sind und nicht als
„Wucher“ in Verhandlungen mit den Leistungsträgern abgetan werden können, wenn
sie weit über dem ortsüblichen Durchschnitt liegen.
Der Gesetzgeber
brauchte aber noch einige Zeit, bis er diesen Grundsatz in die jeweiligen
Normen für Pflegeversicherung, Sozialhilfe und die Eingliederungshilfe
übernahm. Man kann sagen, dass es „endlich gesetzlich“ wurde, damit für die
Leistungserbringer ein leistungsgerechtes Arbeiten möglich wurde.
Doch die
entsprechende Anwendung führt nun zu einigen Absurditäten, die ganz und gar
nicht gewollt sein können. Die Betroffenen sind aber keine öffentlichen
Stellen, sondern Heimbewohner!
Ein Problem, über
das sogar das Fernsehen berichtet
In einem Beitrag des MDR-FAKT-Magazins vom 23.1.2018 wurde
berichtet, wie einem Bewohner eines Pflegeheims jetzt der Auszug droht, weil
das Heim eine Anhebung des Eigenanteils verlangte:
„In einem
Pflegeheim sollen die Kosten für die Bewohner um 550 Euro steigen – pro Monat.
Hintergrund ist ein Teil der Pflegereform, der vor allem die Situation der
Pflegekräfte verbessern sollte. Nun kommen aber die Pflegebedürftigen an ihre
finanziellen Grenzen.“
(Quellenangabe weiter unten).
Eigentliches Ziel mit der Reform war es, die Pflegebedürftigen
und deren Angehörige „zu entlasten und besser zu versorgen“, so der Beitrag. Stattdessen
scheint diese Reform genau das Gegenteil zu bewirken, indem es die Menschen
belastet und aus Heimen (sozusagen) „entsorgt“.
Dazu muss man aber wissen, dass die in der Vergangenheit
geführten Pflegesatzverhandlungen immer sehr aufwändig und ziemlich unbeweglich
verliefen. Den Leistungserbringern gelang es nicht wirklich, eine
Refinanzierung von Personalkosten zu vereinbaren. Da Einzelverhandlungen
oftmals nur mit anwaltlicher Hilfe geführt werden konnten, akzeptierte man
Pauschale Fortschreibungen, bei denen für mehrere, unterschiedlichste
Leistungserbringer (mit unterschiedlichen Tarifbindungen) eine einheitliche
Steigerung vereinbart wurde. Bei einem solchen Verfahren orientierte man sich
nach einer linearen Tariferhöhung, aber tarifliche Einmalzahlungen,
Sockelbeträge oder sogar Stufenentwicklungen blieben unberücksichtigt. Damit
wurden die Leistungserbringer gezwungen, Stellen zu bewirtschaften – oder mit
anderen Worten:
·
Keine Mehrfachdienstbesetzungen, sondern
vermehrt Einzeldienste;
·
Wiederholungs-Befristungen statt unbefristeter
Arbeitsverhältnisse;
·
Mehr zu betreuende Klienten pro Mitarbeiter.
Die Reform geht
„nach hinten“ los
Dass man mit solchen Maßnahmen den Pflegeberuf
diskreditierte und jetzt einen Personalmangel vor sich hat, sollte niemanden
verwundern. Und ganz ehrlich: Die BSG-Urteile gibt es schon seit 2009!
Die Politik erkannte den Handlungsbedarf und gestattete
mit einer neuen Regelung z.B. in § 84 SGB XI die Refinanzierungsmöglichkeit
selbst für „teure“ Tarifanwender. Man entfernte faktisch die Deckelung bzw.
Wirtschaftlichkeits-Orientierung anhand ortsüblicher Marktpreise (auch als
Wettbewerbsgedanke berüchtigt), um einer möglichen Flucht aus Tarifverträgen
und Nachwuchs-Sorgen mit Fachkräfte-Mangel und -Notstand effektiv zu begegnen. Zwar
gibt es indirekt noch immer eine Orientierung nach Marktpreisen, jetzt ist es die
Nicht-Zugehörigkeit zu einem „unteren Drittel“, aber Tarifbindungen sind zu
beachten und zu würdigen (siehe insbesondere das Vertragsrecht der Behinderten-
/ Eingliederungshilfe § 124 Abs. 1 SGB IX n.F.).
Man wusste zwar, dass mit den neuen Regelungen die
Pflegesätze auskömmlicher wurden; man verstand also, dass sich höhere
Pflegesätze ergeben würden, die dann in Form von attraktiven, tariflichen
Gehältern an die Pflegekräfte zu zahlen wären; aber keiner schien zu bedenken,
dass diese Pflegesätze letztendlich von jemanden bezahlt werden müssen. Ein mit
der Sache vertrauter Bundestagsabgeordneter wurde vom FAKT-Magazin interviewt,
und er gab zu, dass man „in diesem Umfang nicht mit den Konsequenzen gerechnet
hat“ und „vielleicht nicht bis zum Ende alles durchdacht“ hatte.
Die gesetzlichen
Grundlagen
Nicht nur in der Pflege findet man diesen neuen gesetzlich
verankerten Grundsatz der Tarifbindungs-Angemessenheit. Auch in der Sozialhilfe
(speziell jetzt der Eingliederungshilfe, die ebenfalls reformiert wird; noch im 6.
Kapitel SGB XII) hat man dieses Prinzip eingearbeitet. Hier ein Vergleich:
SGB XI – Pflegeversicherung
§ 84 Bemessungsgrundsätze
|
SGB XII – Sozialhilfe
§ 139 Übergangsregelung zur Erbringung von Leistungen nach dem Sechsten
Kapitel für die Zeit vom 1. Januar 2018 bis zum 31. Dezember 2019
|
Abs. 2 S. 5 und 6:
…
Die Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich vereinbarter
Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen
Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt
werden.
Für eine darüber hinausgehende Bezahlung bedarf es eines sachlichen
Grundes.
…
|
Abs. 1 S. 3:
…
Tariflich vereinbarte Vergütungen sowie entsprechende Vergütungen nach
kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen sind grundsätzlich als wirtschaftlich
anzusehen.
…
|
Abs. 6 S. 1:
Der Träger der Einrichtung ist verpflichtet, mit der
vereinbarten personellen Ausstattung die Versorgung der Pflegebedürftigen
jederzeit sicherzustellen.
…
|
(müsste
Bestandteil eines
Landesrahmenvertrags
werden)
|
Abs. 7 S. 1 bis
S. 3:
Der Träger der Einrichtung ist verpflichtet, im Falle einer Vereinbarung der Pflegesätze auf
Grundlage der Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich
vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen
Arbeitsrechtsregelungen, die
entsprechende Bezahlung der Beschäftigten jederzeit einzuhalten.
Auf Verlangen
einer Vertragspartei hat der Träger der Einrichtung dieses nachzuweisen.
Personenbezogene
Daten sind zu anonymisieren.
…
|
(müsste
Bestandteil eines
Landesrahmenvertrags
werden)
|
Im SGB XI (Pflege) finden sich somit drei Vorgaben, die klarstellen, welche Berechnung zugrunde zu legen
ist.
·
Die Zahlung der Gehälter richtet sich nach einem
Tarifvertrag bzw. ist sachlich begründet (Abs. 2);
·
Die Zahlung der Gehälter entsprechend dem
Tarifvertrag findet statt und kann belegt werden (Abs. 7);
·
Alle vereinbarten (nicht zwingend die
erforderlichen!) Stellen sind besetzt worden (Abs. 6).
Der letzte Punkt kann so verstanden werden, dass trotz
zeitweiser Unterbelegung oder bei einer Minderauslastung die vereinbarten
Stellen im Hinblick auf die Pflegetätigkeit besetzt sein müssen. Dies würde
dann aber im Widerspruch stehen zu der im Absatz 2 erwähnten wirtschaftlichen
Betriebsführung. Von daher kann man annehmen, dass eine zeitweise
Stellenminderbesetzung nur bei freien Plätzen akzeptabel wäre, wobei dennoch
die Versorgung der übrigen Pflegebedürftigen sichergestellt sein muss.
Im Prinzip gilt dies ebenfalls für die Leistungserbringer im
Bereich des SGB XII und SGB IX. Weil die Wirtschaftlichkeit bei Tarifbindung
gegeben ist, können die Entgelte der Leistungserbringer nur „ex Personalkosten“
verglichen werden. Was aber den Stelleneinsatz anbelangt, kommt es dagegen sehr
darauf an, wie es in den jeweiligen Landesrahmenverträgen im Sinne des § 79 SGB
XII a.F. formuliert ist (vgl. § 139 Abs. 3 SGB XII n.F., aber auch § 124 SGB IX
n.F.).
Wer das Risiko
für Entgelterhöhungen trägt
Da bisher die Pflege- oder Vergütungssätze immer nur nach
einem ortsüblichen Durchschnitt vereinbart wurden, konnten vielfach die
vereinbarten Stellen nicht dauerhaft besetzt werden. Doch nun wird eine Art
„Garantie“ ausgesprochen, weil man zwar einerseits im Bereich der Pflege dem
Leistungserbringer sozusagen die Pflicht auferlegen will, alle vereinbarten
Stellen zu besetzen (§ 84 Abs. 6 SGB XI), andererseits zusichert, dass auch
hohe Personalkosten übernommen werden können (Abs. 2). Hierzu bedarf es
lediglich einer „sachlichen“ Begründung, wie z.B. die Anwendung eines
Tarifvertrags.
Damit ergibt sich die Notwendigkeit für den
Leistungserbringer, eine Neukalkulation seiner Pflegesätze vorzunehmen, um
endlich leistungsfähig im Sinne des Gesetzes zu werden. Und daraus folgt, dass
es durchaus zu enormen Preissteigerungen kommen kann, denen aber keine erhöhten
Beiträge der Pflegeversicherung gegenüberstehen (Pflege-Sachleistungen). Zwar
spricht man in den Verhandlungen zur „Großen Koalition“, dass man „8.000 neue
Stellen“ schaffen will, doch das wird die Situation eher verschärfen. Und
überhaupt irritiert diese Aussage, sie ist nicht nachvollziehbar: Die
gesetzlichen Grundlagen sind ja bereits geschaffen – da muss sich nichts mehr
ändern.
Der Bewohner aus dem Beitrag des FAKT-Magazins muss
ausziehen oder sich an die Sozialhilfe wenden. Die würde dann das Einkommen und
die Vermögensverhältnisse des Menschen prüfen, vielleicht auch noch die Familie
zu einer finanziellen Unterstützung auffordern, da ansonsten keine wirkliche
Notlage vorliegt. Für eine Menschen, der sein ganzes Leben lang für sich selbst
sorgen konnte, der etwas für sich oder die Kinder angespart hatte, muss sich
nun an seinem „Lebensabend“ offenbaren und den Behörden ausliefern („die Hosen
runterlassen“).
Statt Selbstbestimmung, Fremdbestimmung.
Könnte das dann auch
im Bereich der Eingliederungshilfe geschehen?
Weil der Rahmen im Grunde nach der Gleiche ist, ist im Bereich der Eingliederungshilfe gleichfalls eine solche Entwicklung anzutreffen. Allerdings
trifft es hier in Wirklichkeit nur die Träger der Sozial- und
Eingliederungshilfe, weil es sehr wahrscheinlich nur sehr wenige selbstzahlende
Menschen in Wohnheimen gibt. Menschen mit geistiger Behinderung sollen zwar im ersten
Arbeitsmarkt beschäftigt werden, doch wenn das nicht gelingt, bleibt nur noch
die Beschäftigung in Werkstätten (WfMmB) oder Tagesförderstätten (vgl. auch §§
49 SGB IX, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben). Entsprechend ist kein
„normales“ Einkommen zu erwarten – oder mit anderen Worten: Die öffentliche
Hand muss unterstützen.
Mit dem BTHG hat man also endlich für die
Eingliederungshilfe etwas eingeführt, was schon längst durch das
Bundessozialgericht in verschiedenen Urteilen (siehe meinen Beitrag vom
19.1.2018) vorgegeben war: Selbst „hohe“ Personalkosten müssen dann noch als
wirtschaftlich angesehen werden, wenn sie tarifvertraglich entstanden sind.
Wenn Leistungserbringer noch im letzten Jahr zu
Vergütungsverhandlungen aufgefordert hatten, kann man eigentlich sicher sein,
dass die Vergütungssätze diese neuen Personalkosten berücksichtigen. In Hamburg
zumindest wurde mit dem neuen Kalkulationsverfahren diesem geänderten
Rechtsverständnis schon vor einigen Jahren effektiv begegnet. Was dabei aber
sehr bemerkenswert ist, den Hamburgern gelang es, ein Kalkulationsverfahren zu
entwickeln, dass sich (relativ) „budgetneutral“ verhielt.
Damit das Fazit:
Die neuen Regelungen bedeuten für alle Selbstzahler in
Pflege-Einrichtungen oder sogar in solchen der Eingliederungshilfe die Gefahr
eines deutlichen Kostenanstiegs. Je höher der Pflege- oder Hilfebedarf ist,
umso höher wirken sich die Auswirkungen aus den jeweiligen, zugehörigen
Tarifverhandlungen aus.
CGS
P.S.:
An dieser Stelle ein anderer und (besser fundierter) Beitrag zu diesem Thema:
https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/...
Quellen:
Beitrag des MDR-FAKT-Magazins vom 23.1.2018 in der ARD
„Pflegebedürftige: Kosten für Heimplätze steigen“
(letzter Aufruf am 4.2.2018)
+++ Nachtrag vom 22.2.2018 +++
Und noch ein erwähnenswerter Blog-Beitrag zu der Problematik mit den Eigenanteilen, welche die Bewohner von Pflegeheimen zu tragen haben.
https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/02/pflegeheime-und-die-investitionskosten.html
(Autor: Prof. Dr. Stefan Sell, 18.2.2018)
(letzter Aufruf am 22.2.2018)
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