Samstag, 2. November 2019

Unterhaltsrückgriff und die 100 000 Euro-Frage (Teil 1)

Immer wieder wird nach den Einkommensgrenzen für Leistungen der Sozialhilfe gefragt. Es fragen aber nicht diejenigen, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen. Fast immer sind es Angehörige, die sich plötzlich mit der Frage beschäftigen, weil sie vielleicht unterhaltspflichtig sind.

Das Thema ist in der Tat sehr komplex. Weil es aber jeden von uns betreffen kann, lohnt sich schon einmal eine Auseinandersetzung damit. Dabei wird aber nicht nur viel Kleinkariertes zu sehen sein, sondern auch eine große gesellschaftliche Entwicklung, die schon seit langer Zeit stattfindet und unsere Gesellschaft weiter prägen wird. Man kann natürlich einwerfen, dass mal wieder zuviel Bürokratie aufgebracht wird. Wenn man es aber auf eine eher staatsphilosophische Art betrachten möchte, zeigen sich unsere Verfassung und der Respekt gegenüber Menschen in Notlagen.

Um das Thema zu bearbeiten, habe ich es in vier Teile gegliedert. Zuerst einmal wird es eine oberflächliche Beschreibung geben, die einige Thesen aufstellt. Im zweiten Teil geht es um die Abgrenzung zu anderen Sozialleistungen; ich will damit herausstellen, dass der Unterhaltsrückgriff aus dem 4. Kapitel SGB XII eine Besonderheit darstellt. Im dritten Teil kommen endlich die einzelnen  Fragen mit Begründungen, auch wie man sie in diversen BSG-Entscheidungen findet. Und im letzten Teil befasse ich mich mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz, was seit dem 23.9.2019 parlamentarisch bearbeitet wird.


Verwandte ersten Ranges sind gegenseitig unterhaltspflichtig

Mit dem Bundesteilhabegesetz ändern sich die Rahmenbedingungen. Die bisherige Komplexleistung in Form von Maßnahmen, Wohnen und Versorgung trennt sich auf in die einzelnen Leistungsbereiche der Eingliederungshilfe (als Fachleistung) und der Sozialhilfe (als existenzsichernde Leistung). Erklärtes Ziel im BTHG ist es, das „Sondersystem Lebensunterhalt in Einrichtungen“ zu beseitigen (vgl. S. 16 des Abschlussberichts Teil A der BTHG-Arbeitsgruppe). Statt das persönliche Einkommen auf den Sozialhilfeträger überzuleiten, wird es jetzt direkt an die leistungsberechtigten Menschen ausgezahlt. Reicht das Einkommen jedoch nicht aus, springt die Sozialhilfe ein – nach Antragsstellung und (!) anschließender Bedürftigkeitsprüfung.

Weil gemäß § 2 SGB XII die Sozialhilfe immer nachrangig ist (Nachrangprinzip), müssen zuerst die verfügbaren Mittel des Leistungsberechtigten geprüft werden. Zu diesen Mitteln gehören das Einkommen des Bedürftigen (z.B. die Erwerbsminderungsrente) und das angesparte Vermögen. Geprüft werden muss aber auch, ob es einen Rechtsanspruch gegen Dritten gibt, der eingefordert werden kann; das betrifft aber nicht nur andere Sozialleistungsträger, sondern – ganz wichtig – den Anspruch auf Unterhalt gegen Angehörige des ersten Ranges (Verwandtenrückgriff). Angehörige des ersten Ranges sind Kinder und ihre Eltern. Kraft bürgerlichen Gesetzes sind „Verwandte in gerader Linie“ verpflichtet, sich gegenseitig Unterhalt zu gewähren (§ 1601 BGB und § 94 SGB XII). 


Vier Besonderheiten bezüglich des Unterhaltsrückgriffs

Genau deswegen kann es passieren, dass der Sozialhilfeträger bei einem Antrag die Unterlagen über Einkommen und Vermögen der anderen vorgelegt haben möchte. Zwar wird zur Abwendung der bestehenden Notlage schnellstens etwas geleistet, doch das leistende Sozialamt wird versuchen, den Rechtsanspruch auf Unterhalt als eine Art der Entschädigung auf sich überzuleiten. Es gibt allerdings eine Besonderheit, wenn Leistungen der Grundsicherung (4. Kapitel SGB XII) benötigt werden – wobei es eigentlich sogar vier Besonderheiten sind, die sich im § 43 Abs. 5 SGB XII verbergen:

Besonderheit 1:
Mit dem Begriff „Gesamteinkommen“ ist nicht das gesamte, gemeinsame Einkommen von (möglicherweise zwei) unterhaltspflichtigen Eltern gemeint.

Besonderheit 2:
Die „100.000 Euro“ beziehen sich nicht auf ein „zu versteuerndes Jahreseinkommen“.

Besonderheit 3:
Vermögen spielt keine Rolle.

Besonderheit 4:
Der Sozialhilfeträger muss „vermuten“, dass die Unterhaltspflichtigen über ein entsprechend hohes Einkommen verfügen und kann erst dann im Wege der Mitwirkungspflicht entsprechende Nachweise verlangen.

Der Begriff des Einkommens ist zwar in § 82 SGB XII definiert, trifft aber nur dann zu, wenn es um das Einkommen der Person geht, die den Antrag stellt (vgl. § 43 Abs. 1 SGB XII mit Verweis auf §§ 82 bis 84 SGB XII; dazu auch die Verordnung zur Durchführung des § 82 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, BSHG§76DV). Bei den Unterhaltspflichtigen wird jedoch auf § 16 SGB IV verwiesen; und dort spricht man plötzlich von den Einkünften nach dem Steuerrecht (§ 2 Abs. 1 EStG):

„Gesamteinkommen ist die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts; es umfasst insbesondere das Arbeitsentgelt und das Arbeitseinkommen.“ (§ 16 SGB IV, Gesamteinkommen)


Einkunftsarten, Werbungskosten und Einkommen

Verwirrend wird das Ganze nun, weil es sieben Einkunftsarten gibt (§ 2 Abs. 1 EStG). Und jede dieser Einkunftsarten bringt besondere Berechnungsweisen mit sich, damit ein Gewinn oder ein Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten entsteht, der im weiteren Verlauf besteuert werden kann (Abs. 2). Steuerfreie oder privilegierte Einnahmen sind ebenfalls zu berücksichtigen, weil sie schließlich einen Geldzufluss bedeuten und von daher die Leistungsfähigkeit darstellen.

Und darum geht es auch: Es muss die Leistungsfähigkeit geprüft werden, was sich jedoch nicht auf ein „Bruttoeinkommen“ beschränkt; eine solche Aussage wäre somit verkehrt – und solche Fehler passieren selbst denjenigen, die es eigentlich besser wissen müssten (siehe dazu viel später ein Zitat des Bundesarbeitsministers). Interessanterweise findet sich (derzeit noch!) kein Bezug auf ein mögliches, vorhandenes Vermögen. Das wiederum könnte sich ändern mit der Einführung einer Vermögenssteuer. Und schließlich braucht es eine behördliche „Vermutung“, dass ein Angehöriger des ersten Ranges (nicht zwei Elternteile zusammen als Paar) als Unterhaltspflichtiger in Frage kommt.

… Teil 2





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