Das Thema ist in
der Tat sehr komplex. Weil es aber jeden von uns betreffen kann, lohnt sich
schon einmal eine Auseinandersetzung damit. Dabei wird aber nicht nur viel
Kleinkariertes zu sehen sein, sondern auch eine große gesellschaftliche
Entwicklung, die schon seit langer Zeit stattfindet und unsere Gesellschaft
weiter prägen wird. Man kann natürlich einwerfen, dass mal wieder zuviel
Bürokratie aufgebracht wird. Wenn man es aber auf eine eher staatsphilosophische
Art betrachten möchte, zeigen sich unsere Verfassung und der Respekt gegenüber
Menschen in Notlagen.
Um das Thema zu
bearbeiten, habe ich es in vier Teile gegliedert. Zuerst einmal wird es eine
oberflächliche Beschreibung geben, die einige Thesen aufstellt. Im zweiten Teil
geht es um die Abgrenzung zu anderen Sozialleistungen; ich will damit
herausstellen, dass der Unterhaltsrückgriff aus dem 4. Kapitel SGB XII eine Besonderheit
darstellt. Im dritten Teil kommen endlich die einzelnen Fragen mit Begründungen, auch wie man sie in
diversen BSG-Entscheidungen findet. Und im letzten Teil befasse
ich mich mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz, was seit dem 23.9.2019
parlamentarisch bearbeitet wird.
Verwandte ersten Ranges sind gegenseitig
unterhaltspflichtig
Mit dem Bundesteilhabegesetz ändern sich die
Rahmenbedingungen. Die bisherige Komplexleistung in Form von Maßnahmen, Wohnen
und Versorgung trennt sich auf in die einzelnen Leistungsbereiche der
Eingliederungshilfe (als Fachleistung) und der Sozialhilfe (als
existenzsichernde Leistung). Erklärtes Ziel im BTHG ist es, das „Sondersystem
Lebensunterhalt in Einrichtungen“ zu beseitigen (vgl. S. 16 des
Abschlussberichts Teil A der BTHG-Arbeitsgruppe). Statt das persönliche
Einkommen auf den Sozialhilfeträger überzuleiten, wird es jetzt direkt an die
leistungsberechtigten Menschen ausgezahlt. Reicht das Einkommen jedoch nicht
aus, springt die Sozialhilfe ein – nach Antragsstellung und (!) anschließender
Bedürftigkeitsprüfung.
Weil gemäß § 2 SGB XII die Sozialhilfe immer nachrangig
ist (Nachrangprinzip), müssen zuerst die verfügbaren Mittel des
Leistungsberechtigten geprüft werden. Zu diesen Mitteln gehören das Einkommen
des Bedürftigen (z.B. die Erwerbsminderungsrente) und das angesparte Vermögen.
Geprüft werden muss aber auch, ob es einen Rechtsanspruch gegen Dritten gibt,
der eingefordert werden kann; das betrifft aber nicht nur andere
Sozialleistungsträger, sondern – ganz wichtig – den Anspruch auf Unterhalt
gegen Angehörige des ersten Ranges (Verwandtenrückgriff). Angehörige des ersten
Ranges sind Kinder und ihre Eltern. Kraft bürgerlichen Gesetzes sind „Verwandte
in gerader Linie“ verpflichtet, sich gegenseitig Unterhalt zu gewähren (§ 1601
BGB und § 94 SGB XII).
Vier Besonderheiten bezüglich des Unterhaltsrückgriffs
Genau deswegen kann es passieren, dass der
Sozialhilfeträger bei einem Antrag die Unterlagen über Einkommen und Vermögen
der anderen vorgelegt haben möchte. Zwar wird zur Abwendung der bestehenden
Notlage schnellstens etwas geleistet, doch das leistende Sozialamt wird versuchen,
den Rechtsanspruch auf Unterhalt als eine Art der Entschädigung auf sich
überzuleiten. Es gibt allerdings eine Besonderheit, wenn Leistungen der
Grundsicherung (4. Kapitel SGB XII) benötigt werden – wobei es eigentlich sogar
vier Besonderheiten sind, die sich im § 43 Abs. 5 SGB XII verbergen:
Besonderheit 1:
Mit dem Begriff „Gesamteinkommen“ ist nicht das gesamte,
gemeinsame Einkommen von (möglicherweise zwei) unterhaltspflichtigen Eltern
gemeint.
Besonderheit 2:
Die „100.000 Euro“ beziehen sich nicht auf ein „zu
versteuerndes Jahreseinkommen“.
Besonderheit 3:
Vermögen spielt keine Rolle.
Besonderheit 4:
Der Sozialhilfeträger muss „vermuten“, dass die
Unterhaltspflichtigen über ein entsprechend hohes Einkommen verfügen und kann
erst dann im Wege der Mitwirkungspflicht entsprechende Nachweise verlangen.
Der Begriff des Einkommens ist zwar in § 82 SGB XII
definiert, trifft aber nur dann zu, wenn es um das Einkommen der Person geht,
die den Antrag stellt (vgl. § 43 Abs. 1 SGB XII mit Verweis auf §§ 82 bis 84
SGB XII; dazu auch die Verordnung zur Durchführung des § 82 des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch, BSHG§76DV). Bei den Unterhaltspflichtigen wird jedoch auf §
16 SGB IV verwiesen; und dort spricht man plötzlich von den Einkünften nach dem
Steuerrecht (§ 2 Abs. 1 EStG):
„Gesamteinkommen
ist die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts; es umfasst
insbesondere das Arbeitsentgelt und das Arbeitseinkommen.“ (§ 16 SGB IV,
Gesamteinkommen)
Einkunftsarten, Werbungskosten und Einkommen
Verwirrend wird das Ganze nun, weil es sieben
Einkunftsarten gibt (§ 2 Abs. 1 EStG). Und jede dieser Einkunftsarten bringt
besondere Berechnungsweisen mit sich, damit ein Gewinn oder ein Überschuss der
Einnahmen über die Werbungskosten entsteht, der im weiteren Verlauf besteuert
werden kann (Abs. 2). Steuerfreie oder privilegierte Einnahmen sind ebenfalls
zu berücksichtigen, weil sie schließlich einen Geldzufluss bedeuten und von
daher die Leistungsfähigkeit darstellen.
Und darum geht es auch: Es muss die Leistungsfähigkeit
geprüft werden, was sich jedoch nicht auf ein „Bruttoeinkommen“ beschränkt;
eine solche Aussage wäre somit verkehrt – und solche Fehler passieren selbst
denjenigen, die es eigentlich besser wissen müssten (siehe dazu viel später ein
Zitat des Bundesarbeitsministers). Interessanterweise findet sich (derzeit
noch!) kein Bezug auf ein mögliches, vorhandenes Vermögen. Das wiederum könnte
sich ändern mit der Einführung einer Vermögenssteuer. Und schließlich braucht
es eine behördliche „Vermutung“, dass ein Angehöriger des ersten Ranges (nicht
zwei Elternteile zusammen als Paar) als Unterhaltspflichtiger in Frage kommt.
… Teil 2
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Unterhaltsrückgriff und die 100 000 Euro-Frage