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Der Grund dafür wurde im hohen Risiko des sogenannten Verwandten- oder Unterhaltsrückgriffs gesehen. Die Älteren wollten ihren Kindern nicht im Umweg über die Sozialhilfe zur Last fallen. Damit den Menschen diese Angst genommen wurde, erfand man einen Leistungsbereich, der von diesem Rückgriff wesentlich ausgenommen wurde.
Das geschah vor 19
Jahren. Und – jetzt – demnächst wird mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz ein
weiterer Schritt unternommen in Richtung Sozialstaat. Das kann man sicherlich
kritisch sehen, weil es natürlich aus Steuermitteln finanziert werden muss. Man
kann aber auch anerkennen, dass den bedürftigen Menschen eine Stütze gegeben
wird, für ein Leben in Würde.
(Der Titel ist
nicht ganz korrekt, weil man diejenigen, die ein relativ hohes Einkommen
verdienen, nach wie vor zur Kostenerstattung bittet)
Verschämte Altersarmut
Im Jahr 2000 wurde mit dem Altersvermögensgesetz (AVmG) ein
sehr wichtiger Schritt getan hin zu einer Sozialhilfe ohne Rückgriff auf die
Angehörigen des ersten Ranges, also den Kinder oder Eltern von
leistungsberechtigten Personen. Nach dem Gesetzentwurf sollte mit dem Verzicht
auf den Unterhaltsrückgriff vor allem älteren Menschen die Furcht genommen
werden, beim Eintritt einer Notlage über die Sozialhilfe den Kindern „auf der
Tasche zu liegen“. Und umgekehrt sollte dies auch für volljährige,
erwerbsgeminderte Personen und ihren Eltern gelten. Über die Sozialhilfe sollte
für diesen Personenkreis ein eigenständiger Anspruch auf Hilfen zum
Lebensunterhalt hergestellt werden (Grundsicherungsleistungen, heute nach dem
4. Kapitel SGB XII).
Grundgedanke war bei behinderten Menschen, die in einer
vollstationären Einrichtung lebten, dass eine „Stärkung der Einheit der Familie
und des familiären Zusammenhalts“ geschieht, wenn auf den Unterhaltsrückgriff
verzichtet wird (S. 73). Nunmehr sollte der „ökonomische Anreiz“ zur
Unterbringung voll erwerbsgeminderter Kinder
in solchen Einrichtungen wegfallen. Vielmehr könnten diese jungen
Menschen „z.B. tagsüber teilstationär in einer Werkstatt für Behinderte
untergebracht sein, bleiben aber im Übrigen im Familienverbund zu Hause
integriert, ohne dass für die Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von
Einrichtungen, die ihnen für das Leben zu Hause gewährt wird, auf die Eltern
oder Kinder zurückgegriffen wird“.
Eine weitere wichtige Erkenntnis war zudem die, dass für die
über-65-jährigen Personen und die voll erwerbsgeminderten Menschen aus
„typisierten, objektiven Gründen eine Erwerbsaufnahme nicht mehr erwartet
werden“ kann. Von daher brauchten diese Nicht-Leistungsfähigen eine soziale
Hilfe, um einer dauerhaften Armut zu begegnen. Mit dem AVmG ging es jedoch
nicht darum, die Situation der damals Unterhaltspflichtigen zu verbessern; der
„Rückgriffsausschluss ist vielmehr ein Mittel, um die Situation der Hilfeempfänger
selbst zu verbessern, indem es diesen erleichtert wird, existenzsichernde
Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen“. Und es wurde darüber hinaus
betont, dass die Bekämpfung der verdeckten Armut „im öffentlichen Interesse“
liegen würde. In dem ein Leistungsanspruch für diesen Personenkreis generiert
wurde, sollten auch die Sozialhilfeträger beratend zur Seite stehen, um so für
eine Existenzsicherung zu sorgen.
Den
Unterhaltsrückgriff nicht gänzlich abschaffen
Nebenbei wollte man aber auch eine Regelung schaffen im
Falle der Herbeiführung einer (scheinbaren) Bedürftigkeit aufgrund einer
Schenkung mit Untergang des Herausgabeanspruchs. Diese Regelung sollte einen
Zeitraum von zehn Jahren umfassen (S. 30 zu § 91 Abs. 1a BSHG). Nach der damaligen
Rechtslage war die Herausgabe des Geschenkes durch den Beschenkten
ausgeschlossen, aber aufgrund des bestehenden Unterhaltsrückgriffs auf die
Eltern oder Kinder nicht von Belang (S. 73 f.). Und an anderer Stelle wurde
klargestellt, dass eine leistungsbeantragende Person die Verfügungsbefugnis
über ein zur Altersvorsorge angesammeltes Kapital mit staatlich geförderten
Beiträgen behalten dürfte. Würde aber dieses Kapital nicht mehr dem Zweck der
Altersvorsorge unterliegen, müssten erstens die steuerliche Förderung
zurückgewährt werden und zweitens dieses Kapital „vorrangig“ vor
Sozialhilfeleistungen eingesetzt werden (S. 74; und S. 30 mit Verweis auf die
Definition nach § 10a EStG).
Für Personen, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht
selbst bestreiten können, gibt es weiterhin die Hilfen zum Lebensunterhalt nach
dem 3. Kapitel SGB XII. Das Besondere hier ist allerdings, dass bei einer
Haushaltsgemeinschaft von bedürftigen Kindern und ihren Eltern (vorbehaltlich
von schwangeren Personen und solchen, die ein 6-jähriges Kind oder jünger
betreuen, § 39 S. 3 Nr. 1 SGB XII) auch das Einkommen und das Vermögen der
Eltern oder des Elternteils mitberücksichtigt werden soll. Mit anderen Worten:
Es findet hier ein Unterhaltsrückgriff auf die Eltern statt, was bei
Grundsicherungsleistungen im Wesentlichen nicht passiert.
Der Unterhaltsrückgriff ist aber nicht gänzlich
ausgeschlossen. Sofern die Vermutung entsteht, dass mögliche
Unterhaltspflichtige über ein Jahreseinkommen von über 100.000 Euro verfügen
(vgl. § 16 SGB IV), kann der Sozialhilfeträger nach § 94 SGB XII die
Heranziehung der Unterhaltspflichtigen prüfen (S. 93, BT-Drucksache 541/16).
100
000 Euro Jahreseinkommen als Obergrenze
Es ist „grundsätzlich zu vermuten, dass die
Unterhaltspflichtigen [Eltern oder Kinder der leistungsbeantragenden Person,
eig. Anm.] die Jahresarbeitseinkommensgrenze
nach Absatz 5 Satz 1 nicht überschreiten [dies sind die besagten 100.000 Euro,
eig. Anm. und Fettdruck von mir].“ Sobald die Vermutung über das Jahreseinkommen widerlegt ist, entfällt
die Leistungsberechtigung (§ 43 Abs. 5 S. 3 SGB XII).
Die 100.000 Euro sind als ein „Grenzbetrag“ zu verstehen
bzw. wurden in der Begründung des Gesetzentwurfs als eine
„Jahreseinkommensgrenze für jede einzelne unterhaltspflichtige Person“
beschrieben. Damit wird also nicht auf das Gesamteinkommen von zwei Eltern
abgestellt, sondern unabhängig von einem Zusammenleben oder Getrenntsein für
jeden einzelnen Elternteil die mögliche Unterhaltspflicht bestimmt. Auf diese
Weise wurde „die gängige Verwaltungspraxis gesetzlich festgeschrieben, die auf
dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. April 2013 (Az.: B 8 SO 21/11 R)
beruht“.
Bei den 100.000 Euro handelt es sich um die „Summe der
jährlichen Einkünfte im Sinne des Einkommenssteuerrechts“. Arbeitsentgelt und
Arbeitseinkommen werden zwar angeführt, doch die Liste der Einkünfte, die der
Einkommenssteuer unterliegen, ist länger (vgl. § 2 EStG). Damit nicht gemeint sind
ein Einkommen nach § 2 Abs. 4 EStG oder ein zu versteuerndes Einkommen nach § 2
Abs. 5 EStG. Vielmehr müssen bestimmte Anpassungen vorgenommen werden gem. § 2
Abs. 5a und 5b EStG.
CGS
Quellen:
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen
Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen
Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten
Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz – AVmG)
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen
sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
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Eine Sozialhilfe ohne Rückgriff auf die Angehörigen wird 19 Jahre alt