Mittwoch, 27. November 2019

Eine Sozialhilfe ohne Rückgriff auf die Angehörigen wird 19 Jahre alt


Langlebiges Lesematerial
Das letzte Thema befasste sich mit dem Unterhaltsrückgriff. Was nebenbei für mich herauskam war, dass schon vor vielen Jahren ein großer Schritt in der Gesellschaft stattfand, soziale Hilfen frei von einem Rückgriff auf die Verwandten ersten Ranges zu gestalten. Man hatte gesehen, dass sehr viele ältere Menschen ohne auskömmliches Einkommen ständig in Armut lebten statt sich von der Sozialhilfe helfen zu lassen.

Der Grund dafür wurde im hohen Risiko des sogenannten Verwandten- oder Unterhaltsrückgriffs gesehen. Die Älteren wollten ihren Kindern nicht im Umweg über die Sozialhilfe zur Last fallen. Damit den Menschen diese Angst genommen wurde, erfand man einen Leistungsbereich, der von diesem Rückgriff wesentlich ausgenommen wurde.

Das geschah vor 19 Jahren. Und – jetzt – demnächst wird mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz ein weiterer Schritt unternommen in Richtung Sozialstaat. Das kann man sicherlich kritisch sehen, weil es natürlich aus Steuermitteln finanziert werden muss. Man kann aber auch anerkennen, dass den bedürftigen Menschen eine Stütze gegeben wird, für ein Leben in Würde.

(Der Titel ist nicht ganz korrekt, weil man diejenigen, die ein relativ hohes Einkommen verdienen, nach wie vor zur Kostenerstattung bittet)


Verschämte Altersarmut

Im Jahr 2000 wurde mit dem Altersvermögensgesetz (AVmG) ein sehr wichtiger Schritt getan hin zu einer Sozialhilfe ohne Rückgriff auf die Angehörigen des ersten Ranges, also den Kinder oder Eltern von leistungsberechtigten Personen. Nach dem Gesetzentwurf sollte mit dem Verzicht auf den Unterhaltsrückgriff vor allem älteren Menschen die Furcht genommen werden, beim Eintritt einer Notlage über die Sozialhilfe den Kindern „auf der Tasche zu liegen“. Und umgekehrt sollte dies auch für volljährige, erwerbsgeminderte Personen und ihren Eltern gelten. Über die Sozialhilfe sollte für diesen Personenkreis ein eigenständiger Anspruch auf Hilfen zum Lebensunterhalt hergestellt werden (Grundsicherungsleistungen, heute nach dem 4. Kapitel SGB XII).

Grundgedanke war bei behinderten Menschen, die in einer vollstationären Einrichtung lebten, dass eine „Stärkung der Einheit der Familie und des familiären Zusammenhalts“ geschieht, wenn auf den Unterhaltsrückgriff verzichtet wird (S. 73). Nunmehr sollte der „ökonomische Anreiz“ zur Unterbringung voll erwerbsgeminderter Kinder  in solchen Einrichtungen wegfallen. Vielmehr könnten diese jungen Menschen „z.B. tagsüber teilstationär in einer Werkstatt für Behinderte untergebracht sein, bleiben aber im Übrigen im Familienverbund zu Hause integriert, ohne dass für die Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen, die ihnen für das Leben zu Hause gewährt wird, auf die Eltern oder Kinder zurückgegriffen wird“.

Eine weitere wichtige Erkenntnis war zudem die, dass für die über-65-jährigen Personen und die voll erwerbsgeminderten Menschen aus „typisierten, objektiven Gründen eine Erwerbsaufnahme nicht mehr erwartet werden“ kann. Von daher brauchten diese Nicht-Leistungsfähigen eine soziale Hilfe, um einer dauerhaften Armut zu begegnen. Mit dem AVmG ging es jedoch nicht darum, die Situation der damals Unterhaltspflichtigen zu verbessern; der „Rückgriffsausschluss ist vielmehr ein Mittel, um die Situation der Hilfeempfänger selbst zu verbessern, indem es diesen erleichtert wird, existenzsichernde Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen“. Und es wurde darüber hinaus betont, dass die Bekämpfung der verdeckten Armut „im öffentlichen Interesse“ liegen würde. In dem ein Leistungsanspruch für diesen Personenkreis generiert wurde, sollten auch die Sozialhilfeträger beratend zur Seite stehen, um so für eine Existenzsicherung zu sorgen.


Den Unterhaltsrückgriff nicht gänzlich abschaffen

Nebenbei wollte man aber auch eine Regelung schaffen im Falle der Herbeiführung einer (scheinbaren) Bedürftigkeit aufgrund einer Schenkung mit Untergang des Herausgabeanspruchs. Diese Regelung sollte einen Zeitraum von zehn Jahren umfassen (S. 30 zu § 91 Abs. 1a BSHG). Nach der damaligen Rechtslage war die Herausgabe des Geschenkes durch den Beschenkten ausgeschlossen, aber aufgrund des bestehenden Unterhaltsrückgriffs auf die Eltern oder Kinder nicht von Belang (S. 73 f.). Und an anderer Stelle wurde klargestellt, dass eine leistungsbeantragende Person die Verfügungsbefugnis über ein zur Altersvorsorge angesammeltes Kapital mit staatlich geförderten Beiträgen behalten dürfte. Würde aber dieses Kapital nicht mehr dem Zweck der Altersvorsorge unterliegen, müssten erstens die steuerliche Förderung zurückgewährt werden und zweitens dieses Kapital „vorrangig“ vor Sozialhilfeleistungen eingesetzt werden (S. 74; und S. 30 mit Verweis auf die Definition nach § 10a EStG).

Für Personen, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, gibt es weiterhin die Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel SGB XII. Das Besondere hier ist allerdings, dass bei einer Haushaltsgemeinschaft von bedürftigen Kindern und ihren Eltern (vorbehaltlich von schwangeren Personen und solchen, die ein 6-jähriges Kind oder jünger betreuen, § 39 S. 3 Nr. 1 SGB XII) auch das Einkommen und das Vermögen der Eltern oder des Elternteils mitberücksichtigt werden soll. Mit anderen Worten: Es findet hier ein Unterhaltsrückgriff auf die Eltern statt, was bei Grundsicherungsleistungen im Wesentlichen nicht passiert.

Der Unterhaltsrückgriff ist aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Sofern die Vermutung entsteht, dass mögliche Unterhaltspflichtige über ein Jahreseinkommen von über 100.000 Euro verfügen (vgl. § 16 SGB IV), kann der Sozialhilfeträger nach § 94 SGB XII die Heranziehung der Unterhaltspflichtigen prüfen (S. 93, BT-Drucksache 541/16).


100 000 Euro Jahreseinkommen als Obergrenze

Es ist „grundsätzlich zu vermuten, dass die Unterhaltspflichtigen [Eltern oder Kinder der leistungsbeantragenden Person, eig. Anm.] die Jahresarbeitseinkommensgrenze nach Absatz 5 Satz 1 nicht überschreiten [dies sind die besagten 100.000 Euro, eig. Anm. und Fettdruck von mir].“ Sobald die Vermutung über das Jahreseinkommen widerlegt ist, entfällt die Leistungsberechtigung (§ 43 Abs. 5 S. 3 SGB XII).

Die 100.000 Euro sind als ein „Grenzbetrag“ zu verstehen bzw. wurden in der Begründung des Gesetzentwurfs als eine „Jahreseinkommensgrenze für jede einzelne unterhaltspflichtige Person“ beschrieben. Damit wird also nicht auf das Gesamteinkommen von zwei Eltern abgestellt, sondern unabhängig von einem Zusammenleben oder Getrenntsein für jeden einzelnen Elternteil die mögliche Unterhaltspflicht bestimmt. Auf diese Weise wurde „die gängige Verwaltungspraxis gesetzlich festgeschrieben, die auf dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. April 2013 (Az.: B 8 SO 21/11 R) beruht“.

Bei den 100.000 Euro handelt es sich um die „Summe der jährlichen Einkünfte im Sinne des Einkommenssteuerrechts“. Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen werden zwar angeführt, doch die Liste der Einkünfte, die der Einkommenssteuer unterliegen, ist länger (vgl. § 2 EStG). Damit nicht gemeint sind ein Einkommen nach § 2 Abs. 4 EStG oder ein zu versteuerndes Einkommen nach § 2 Abs. 5 EStG. Vielmehr müssen bestimmte Anpassungen vorgenommen werden gem. § 2 Abs. 5a und 5b EStG.

CGS



Quellen:

Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen
Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz – AVmG)

Gesetzentwurf der Bundesregierung
Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch





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